Die Welt im Rücken - Thomas Melle

  • Titel: Die Welt im Rücken
    Autor: Thomas Melle
    erschienen: August 2016
    Seiten: 348 Seiten
    Verlag: Rowohlt
    Sprache: Deutsch


    Kurzbeschreibung:
    „Wenn Sie bipolar sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft. Mit jeder manischen Episode wird Ihr Leben, wie Sie es kannten, weiter verunmöglicht. Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Und Sie wissen nicht mehr, wer Sie waren. Was sonst vielleicht als Gedanke kurz aufleuchtet, um sofort verworfen zu werden, wird im manischen Kurzschluss zur Tat. Jeder Mensch birgt wohl einen Abgrund in sich, in welchen er bisweilen einen Blick gewährt; eine Manie aber ist eine ganze Tour durch diesen Abgrund, und was Sie jahrelang von sich wussten, wird innerhalb kürzester Zeit ungültig. Sie fangen nicht bei null an, nein, Sie rutschen ins Minus, und nichts mehr ist mit Ihnen auf verlässliche Weise verbunden.“
    Thomas Melle leidet seit vielen Jahren an der manisch-depressiven Erkrankung, auch bipolare Störung genannt. Nun erzählt er davon, erzählt von persönlichen Dramen und langsamer Besserung – und gibt einen außergewöhnlichen Einblick in das, was in einem Erkrankten so vorgeht. Die fesselnde Chronik eines zerrissenen Lebens, ein autobiografisch radikales Werk von höchster literarischer Kraft.


    Über den Autor:
    Thomas Melle, 1975 geboren, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Er ist Autor vielgespielter Theaterstücke und übersetzte u. a. William T. Vollmanns Roman „Huren für Gloria“. Sein Debütroman „Sickster“ (2011) war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2014 folgte der Roman „3000 Euro“, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand. 2015 erhielt Thomas Melle, der in Berlin lebt, den Kunstpreis Berlin.
    Auch „Die Welt im Rücken“ schaffte es 2016 ebenfalls auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis.


    Meine Meinung:
    Als ich in dem Büchlein, das Leseproben der nominierten Bücher zum Deutschen Buchpreis enthält, die ersten Seiten dieses Buches gelesen hatte, war mir klar, dass ich dieses Buch lesen muss. Zunächst packte mich die Sprache, dann der Inhalt.
    Schonungslos und offen beschreibt Thomas Melle sein Leben mit der bipolaren Störung.
    Mich hat ganz besonders bewegt, wie erbarmungslos diese chronische Krankheit einen intelligenten und kämpferischen Menschen aus der Gesellschaft hinaus katapultieren kann. Melle erzählt seine ganz subjektive Lebensgeschichte, die unabänderlich ist. Die manisch-depressive Erkrankung verlangt dem Umfeld eines Erkrankten alles an Toleranz und Verständnis ab, was nur geht – oder eben auch nicht mehr geht. Bei der Lektüre habe ich mich mehrfach gefragt, wie Melle sein Leben nur aushalten kann. Zugleich habe ich großen Respekt empfunden, dass er versucht, sich mit diesem Buch zurück ins Leben, zurück in die Gesellschaft zu schreiben. Und die Erkrankung auch für sich zu fassen zu kriegen.
    Thomas Melle schreibt in keiner Zeile weinerlich oder um Mitleid heischend. Sehr wohl beschreibt er die Traurigkeit und die Einsamkeit , die die ständigen Begleiter seiner Krankheit sind, die Angst vor einem neuen Schub.
    Das Buch ist durchzogen mit den Schilderungen absurder Situationen, die Melle mit feinfühligem Humor beschreibt. Trotz aller Tragik habe ich beim Lesen oft geschmunzelt.
    Das Buch hat mich gefesselt und zermürbt zugleich. Stellenweise konnte ich es kaum ertragen, fühlte mich als Voyeur, als Adressat gar nicht gemeint, dann wieder als Zuhörer angesprochen von jemandem, der sich seine Geschichte von der Seele reden will.


    Melle hat dieses autobiografische Buch geschrieben, um sich seine zukünftigen Bücher von der manisch-depressiven Erkrankung zu befreien. Und hat dabei sicherlich auch sich selbst gemeint.
    Es gibt keinen Ausweg aus dieser Krankheit, aber es gibt Wege, damit umzugehen, Medikamente, die die Krankheit eindämmen.
    "Die Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist die Krankheit meine Heimat." (S.342)
    Ich wünsche Autor von Herzen, dass er sich in dieser Heimat ein lebenswertes Zuhause findet.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Wie geht es dir?


    Vorweg, weil ich's unbedingt loswerden muss: Thomas Melles Prosa ist wie eine Haut um das Erzählte, eine perfekte Hülle, die jedoch nichts verbirgt, ganz im Gegenteil - das geschriebene Wort schärft die Konturen des beschriebenen Gegenstands. Melle schreibt meisterlich, nahezu perfekt, und er verbindet beste Erzähltraditionen mit moderner Syntax und Komposition, ohne sich anzubiedern oder unterzuordnen. Es ist ein absolute Tragödie, dass "Die Welt im Rücken" bei der Vergabe des Deutschen Buchpreises 2016 dem Vernehmen nach auf Platz zwei landete, weil die Juroren auf Nummer Sicher gehen wollten und etwas kürten, das man getrost der Ururomi schenken kann, ohne sie zu schockieren - während Melles Buch zeigt, dass sich die Welt während der letzten Jahrzehnte weitergedreht hat.


    "Die Welt im Rücken" ist kein Roman, keine Novelle, sondern ein im Wortsinn streng autobiografischer Text, zerteilt in drei Abschnitte, die von den Jahren berichten, während derer es intensive Krankheitsschübe gab. Denn der Autor, der zugleich Hauptfigur und Gegenstand der Erzählung ist, leidet unter der manisch-depressiven Erkrankung, die man derzeit "bipolare affektive Störung" (BAS) nennt, einer vermutlich chronischen und absolut sicher sehr schweren psychischen Beeinträchtigung, die die Betroffenen in manisch-euphorisch-psychotische Zustände versetzt - oder sie, zumeist direkt anschließend, in tiefste Depression, Verzweiflung, Angst und Lethargie stürzt. Melle hat, wie er das selbst nennt, die "Jahreskarte" gezogen, durchlebt also beide Phasen jeweils für viele Monate, bis die Krankheit wieder abklingt und sich etwas einstellt, das man mit viel Toleranz und einer Prise Herzlosigkeit als normales Leben bezeichnen könnte.


    Während der Schübe richtet der Betroffene Schäden an, hauptsächlich an sich selbst. Das Buch ist deshalb nicht "nur" literarische Aufarbeitung, Erklärung und Gebrauchsanleitung, sondern auch eine Art von Entschuldigung, wobei mir dieser Begriff unpassend vorkommt, ohne dass mir ein geeigneterer einfiele, denn der Kranke trägt natürlich keine Schuld. Vor allem in den manischen Phasen, die in Melles Fall mit intensiver Paranoia einhergehen, treibt der Bipolare, euphemistisch ausgedrückt, allerlei Unsinn, und nicht wenige Erkrankte verlieren dabei Haus, Hof, Familie und Freunde. Nicht anders Thomas Melle, der irgendwann in der Notunterkunft landet, seinen Freundeskreis bis zur Schmerzhaftigkeit belastet hat, zugleich das gesamte Weltgeschehen auf sich bezieht. Während der anschließenden Depressionen fehlt ihm die Kraft, um Schadensbegrenzungen zu betreiben. Und irgendwo zwischen all dem steckt der Mensch Melle, zu dem die Krankheit gehört, den sie jedoch zerfrisst, nervt, herausfordert, inspiriert, zu einer wechselhaften Persönlichkeit macht, und zu einem, der jedes Mal, wenn er die Phrase "Wie geht es dir?" hört, auf ganz andere Weise über die Antwort nachdenken muss als unsereins, die das Glück haben, nicht bipolar zu sein. Was zu den geringeren Problemen gehört, mit denen jemand kämpfen muss, der unter diesem Schicksal leidet.


    Dieses Buch ist schmerzhaft, hinreißend, anstrengend, liebenswürdig, einzigartig, spannend, tragisch, lakonisch, klug, deprimierend, erhellend, authentisch (Entschuldigung), abstoßend, lustig und meistens verblüffend kraftvoll. Es ist literarisch ein Genuss, aus persönlicher Sicht ein Befreiungsschlag, eine Schlacht gegen die literarischen Wiedergänger, wie Melle seine vorherigen Romanfiguren nennt, es ist eine Singularität, weil es noch niemandem gelungen ist, genau das auf genau diese Weise zu beschreiben.
    Es ist einfach, bitte um Verzeihung, irre gut.