'Es war einmal Aleppo' - Seiten 204 - 304

  • Die kuscheligen Ereignisse mit Zwillingsmäuschen und dem Zeichnen von Kätzchen sind nun vorbei. Die Details der Flucht mit den länderspezifischen Problemen waren sehr interessant und es war sehr ergreifend, dass dieser alle Shirvan zugeordnet waren. Und um Flüchtlingsheime dürfte man gerne Bannmeilen und Schutzzonen ziehen.


    Mulle : Hattest Du so intensive persönliche Beziehungen zu den Menschen auch aufnehmen können? Ich vermute mal, dass die ganzen kleinen Details eher mehreren Menschen passiert sind, oder?

  • xexos, was genau meinst du mit intensiven, persönlichen Beziehungen?
    Eine Liebesbeziehung? Bestimmt :-) aber ich bin verheiratet ... und der eine, der mich interessiert *hätte*, ist es auch :engel
    Ansonsten bin ich einige intensivere Beziehungen eingegangen, ja. Ich werde von einer Handvoll jungen Menschen zwischen 16 und 20 Mam genannt und von einem jungen Mann "Schwester", weil wir eine sehr innige Freundschaft haben. Die Familie wächst schnell, wenn man sich mit Arabern und Kurden umgibt :grin und das ist nie nur so dahingesagt!
    Außerdem bin ich Patentante (und damit Namensgeberin) von zwei Babys.


    Was die Geschehnisse betrifft: Örtlich und zeitlich habe ich einiges ein wenig zusammengezogen.
    Bei Shirvan ist es aber eher so, dass er für kurdische Verhältnisse einen recht "durchschnittlichen Flüchtling" darstellt, der tatsächlich viel erlebt hat, aber - vergleichsweise! - nichts all zu schlimmes. (Das Buch ist ab 12.) Das ist schwer zu erklären, denn die Menschen haben unterschiedliches erlebt und erzählen auch mir längst nicht alles, bzw. erst nach längerer Zeit. Einige hatten auch viel Glück.


    Einiges habe ich ungewollt durch Arztberichte erfahren - als Flüchtling hast du keinerlei Privatspähre, das war schon wirklich krass schockierend. Ich setze es mal als Spoiler, weil es vielleicht nicht jeder lesen möchte. Vorsicht, kann triggern:


    Wirklich mitgenommen war ich nur ein einziges Mal. Da erzählte mir eine Familie, mit denen ich sehr schnell eng befreundet war, dass sie ihren jüngsten Sohn, der so alt ist wie meiner, vor der Überfahrt bewusst dehydriert haben, damit er keinesfalls schreit. Sie hatten gehört, dass es Leute gibt, die schreiende Babys über Board werfen, um von der türkischen Küstenwache nicht erwischt zu werden. (Die schießen, heißt es.)
    Im ganzen Ort waren Beruhigungsmittel für Kinder vollkommen ausverkauft ... nur die Hebammen dort gaben noch "Tipps".
    Während die Eltern mit das "beichteten" spielten die Kinder zusammen ... das war schon sehr, sehr krass.


    Und nein - keine Bannmeilen! Im Gegenteil!
    Nah ran an die Leute!
    Unsere NUK war die Turnhalle einer Grundschule und die zweite NUK der Stadt war Turnhalle in einem Gymansium. Das war vom Standort perfekt und lief wirklich für die Verhältnisse sehr gut. Über die große NUK am Gymnasium gab es mal einen Beitrag auf KiKa, ich schau mal, ob ich ihn finde.

  • Ich weiß, dass Du verheiratet bist und ganz viele Kinderchen hast. Nein, eine Liebesbeziehung war natürlich nicht gemeint. Ansonsten hast Du meine Frage mit Deiner Antwort schon getroffen.



    Eine Bannmeile will ich nur bei diesen widerlichen, als Demo getarnten, Krawallaufmärschen.

  • Ich bin jetzt gerade entsetzt, über den Zustand von Shirvan. Ich bin in dem Kapitel gerade mitten drin und kenne Shirvans vollständige Erklärung noch nicht.


    Aber 1. Wenn er sich abends vor der Musikbox geprügelt hat und derart geblutet hat, wäre er doch bis nach dem Frühstück verblutet.
    2. Die Mädels waren doch drin, haben sie nichts mitbekommen, von einer Schlägerei mit Polizeieinssatz?
    3. Wie konnten die "besorgten" Eltern und Bruder wegfahren, wenn gegenüber vom Haus ein großer Polizeieinsatz war? Sie müssen doch die Polizeiautos gesehen haben.

    Don't live down to expectations. Go out there and do something remarkable.
    Wendy Wasserstein

  • Ich habe das mit Shirvans Verletzungen so verstanden, dass er, als er zu Toni kam, völlig verdreckt war, eingetrocknetes Bölut und so und die Wunde dann beim Säubern wieder aufgebrochen ist.


    Und dass die Eltern trotz Polizeieinsatz auf den Geburtstag gefahren sind, wundert mich auch nicht, immerhin gehen sie ja davon aus, dass toni den rest des Tages in Sichtweite des Badezimmers verbringt.


    Ansonsten weiß ich gar nicht, was ich zu diesem Abschnitt schreiben soll, vor allem Shirvans Erlebnisse in Ungarn haben mich einfach nur schockiert.

  • Ich will nun nicht zu viel verraten, nur soviel: Kopfwunden bluten tatsächlich stark (und sehen dadurch gefählich aus), aber um zu verbluten müsste man dann doch deutlich mehr Blut verlieren.


    Polizei vor Flüchtlingsunterkünften ist kein ungewöhnlicher Anblick.
    Dazu eine Erfahrung von mir: In unserer NUK war die Polizei jeden Tag. Sie kamen, tranken Kaffee, redeten mit den Betreibern, spielten mit den Kindern und fuhren wieder. Das gehörte zum täglichen Ritual am Morgen und am Abend. Zweck war es natürlich, Präzenz zu zeigen - auch im Sinne möglicher Anschläge - aber auch, damit die Geflüchteten sich an den Anblick der Uniformen gewöhnten und Vertrauen entwickelten. Viele hatten erstmal Angst vor Uniformen aller Art.
    Womit wir nicht rechneten: Draußen im Ort gingen Gerüchte um, in unserer NUK wäre aufgrund von Problemen jeden Tag ein Polizeieinsatz nötig ...

  • Shirvan kam mit tropfendem Blut ins Haus, Zwergin. Etienne und Fee haben den Teppich doch gereinigt..
    Und warum haben Toni und Fee nichts mitbekommen in der Musicbox? In einer Disco gehen Leute immer rein und raus.

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    Wendy Wasserstein

  • Zitat

    Original von Lesebiene
    Shirvan kam mit tropfendem Blut ins Haus, Zwergin. Etienne und Fee haben den Teppich doch gereinigt..
    Und warum haben Toni und Fee nichts mitbekommen in der Musicbox? In einer Disco gehen Leute immer rein und raus.


    Ich setze es mal in die Spoilerversion, weil es im weiteren Abschnitt erklärt wird:



    jusch, ich weiß, welches Video du meinst. Und das war noch sehr harmlos. Was die Leute teilweise für Beweisaufnahmen auf ihren Handys hatten, war wirklich unglaublich. Massenzellen ohne Toiletten, einen Sixpack Wasser für eine 20-Personen-Gruppe ...
    Die wenigsten haben diese Aufnahmen jemandem gezeigt - aber sie brauchen sie dringend, falls sie wegen der Dublin-Verordnung dorthin zurückgeschickt werden. Dann hilft einem nur noch ein Beweis, dass einem dort menschenunwürdige Behandlung droht.

  • Auch in Kapitel 24 steckt ein grosser Widerspruch. Unterwegs wurde ihnen alles Bargeld aus den Taschen geklaut, womöglich als Bezahlung für die Scheune. In Budapest hatten sie plötzlich wieder 240 Euro für Zugkarten? Hatten sie Kreditkarten dabei? Oder wer hatte die Zugkarten bezahlt?

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    Wendy Wasserstein

  • Lesebiene, ich verstehe AUCH einen Widerspruch nicht.
    Ich habe dir die Punkte, die du umstimmig fandest, doch noch mal erklärt. :gruebel



    Die Flüchtlinge wickeln ihre Finanzen alle über Western Union ab, das steht auch in diesem Kapitel. Am Bahnhof der Hauptstadt haben sie da Zugang zu, mitten in der "Pampa" natürlich nicht.
    Falls jemand Western Union nicht kennt: Das funktioniert weltweit so, dass man Bargeld an einem Schalter einzahlt und dann an einem anderen Schalter entgegennehmen kann.
    Man kann also quasi 100$ in bar in Australien einzahlen, verschicken und wenige Sekunden später in Deutschland ebenfalls bar ausgezahlt bekommen. (Kostet halt ziemlich viele Gebühren - ist für Syrer aber daher gut, weil die Banken in Staatshänden sind und man die Menschen anhand von Konteneinträgen "verfolgen" kann. Western Union ist ein amerikanisches Unternehmen und damit sicherer.)

  • Zitat

    Original von Mulle


    Womit wir nicht rechneten: Draußen im Ort gingen Gerüchte um, in unserer NUK wäre aufgrund von Problemen jeden Tag ein Polizeieinsatz nötig ...


    :rolleyes Damit war dann im Nachhinein doch zu rechnen, oder? Die Leute saugen sich immer Dinge aus den Fingern ohne mal was nachzufragen. Ich versuche mich immer überall an der Quelle zu informieren und nicht über Dritte, Vierte etc.
    Genauso versuche ich mich nicht von Gerüchten über Leute verleiten zu lassen, ein Vorurteil zu haben. Das ist teilweise z. B. auf der Arbeit sehr sehr schwer. Da werden Leute aufgrund ihres Postens in der Firma verurteilt, ohne dass je mit denen gesprochen wurde. Anders ist es bei den Flüchtlingen ja auch nicht. Ich finde es aber ehrlich gesagt manchmal schwierig, weil man doch irgendwo so nen Gedanken gepflanzt bekommt und in manchen Situationen genau dieser Gedanke kommt, ob man möchte oder nicht. Ich glaube, Menschen sind einfach so... :-(

  • Ja, das ist irgendwie auch menschlich ... und bleibt ja auch nicht aus. Solange man sich der Gefahren bewusst ist, reflektiert und nachhakt, woher diese Gefühle kommen, hat man dennoch beste Möglichkeiten, nicht in die Falle "Vorurteile" zu geraten.


    Frei kann sich niemand davon machen.
    Ich habe mich z.B. mal gefragt, warum es so oft "südländische/ arabische/ nordafrikanische Typen" sind, die in den sozialen Medien wegen Verbrechen gesucht werden. Dann habe ich mir die Fahndungsbriefe mal auf den Polizeiseiten angesehen. Siehe da - da waren auch viele blonde "nordische Typen". Sah man sich nun mal die Zahlen an, wie oft die Beiträge geteilt wurden, bekam man ganz schnell die Erklärung, warum es offenbar "immer dunkle Typen sind".
    Die Menschen reagieren da einfach stärker drauf - teilen es eher, sodass man diese Beiträge häufiger sieht.


    Als ich vor Jahren für "Mit Rosen bedacht" recherchiert habe, bin ich da auch auf eine ganz spannende Studie gestoßen: Die ergab, dass Menschen, eine Gruppe von 5 Personen sehr oft pauschal als "Gruppe von Ausländern" bezeichnen, sobald nur zwei Personen dieser Gruppe dunkelhäutig oder schwarz sind.
    Das fand ich auch sehr interessant, um mal Wahrnehmungen zu hinterfragen. Ich kann mal schauen, ob ich mir den Link gespeichert habe.

  • Ich glaube, da spielt ganz oft auch Angst mit. Ich kenne Leute, die wieder zurück in Menschenansammlungen laufen, wenn die dunkelhaarige Menschen sehen, die einfach nur da rum laufen.


    Letztens hab ich was ganz niedliches erlebt. Ich gehe immer auf dem Weg vom Büro zum Parkplatz durch einen Biergarten. Da saßen (der Laden war zu) zwei Männer mit Essen an den Tischen. Ich muss wohl etwas blöd geguckt haben, denn einer der beiden grinste mich breit an und meinte in gebrochenem Deutsch "Wir bigniggen!" :lache
    Ich fand das einfach so toll. Kein typisch Deutscher würde sich einfach zum Essen in einen geschlossenen Biergarten setzen. Der ist übrigens frei zugänglich. ;-)

  • Zitat

    Original von Booklooker
    Letztens hab ich was ganz niedliches erlebt. Ich gehe immer auf dem Weg vom Büro zum Parkplatz durch einen Biergarten. Da saßen (der Laden war zu) zwei Männer mit Essen an den Tischen. Ich muss wohl etwas blöd geguckt haben, denn einer der beiden grinste mich breit an und meinte in gebrochenem Deutsch "Wir bigniggen!" :lache
    Ich fand das einfach so toll. Kein typisch Deutscher würde sich einfach zum Essen in einen geschlossenen Biergarten setzen. Der ist übrigens frei zugänglich. ;-)


    In Bayern schon :lache vielleicht aber nicht unbedingt bei den jetzigen Temperaturen.....

  • Zitat

    Original von Zwergin


    Ansonsten weiß ich gar nicht, was ich zu diesem Abschnitt schreiben soll, vor allem Shirvans Erlebnisse in Ungarn haben mich einfach nur schockiert.


    Das fand ich auch ganz furchtbar. Ich verstehe da die Organisationen nicht, die da eingreifen könnten. Oder muss man Ungarn aus irgendeinem Grund schonen und sein Gebaren tolerieren?

  • Zitat

    Original von Findus


    Das fand ich auch ganz furchtbar. Ich verstehe da die Organisationen nicht, die da eingreifen könnten. Oder muss man Ungarn aus irgendeinem Grund schonen und sein Gebaren tolerieren?


    Kollektives Weggucken.
    Und es ist nicht besser geworden.
    Wenn ihr wissen wollt, wie es gestern in einem griechischem Flüchtlingslager der UNHCR (also einer großen Hilfsorganisation!) aussieht, schaut mal auf die FB-Seite von Geo Messmer:
    https://www.facebook.com/DaGeo?fref=ts
    Geo ist in Griechenland als Helfer sehr aktiv und hat mit seinem Shelter-Projekt eine Möglichkeit geschaffen, Familien mit Kindern oder alleinreisende Frauen aus den schlimmsten Lagern rauszuholen, wo sie feststecken, weil die Grenzen dicht sind.


    Die Situation in Ungarn und Serbien ist noch schlimmer, aber ich folge den Freiwilligen dort nicht mehr. Zu frustriernd, zumal ich die Sprache ja nicht verstehe.