Tana French: Gefrorener Schrei

  • Tana French: Gefrorener Schrei
    FISCHER Scherz 2016. 656 Seiten
    ISBN-13: 978-3651024472. 16,99€
    Originaltitel: The Trespasser
    Übersetzer: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann


    Verlagstext
    Sie wollten einen richtig interessanten Fall – aber kein Spiel, das niemand kontrollieren kann. Der nervenaufreibende, abgründige neue Roman der renommierten Nr.1-Spiegel-Bestseller-Autorin Tana French.
    »Messerscharf, fesselnd, sprachlich außergewöhnlich und atmosphärisch eindringlich.« Harlan Coben


    Die Autorin
    Tana French ist die erfolgreichste junge Krimi-Autorin Irlands. Sie wurde in den USA geboren, wuchs in Irland, Italien und Malawi auf und lebt seit 1990 in Dublin. Nach einer Schauspielausbildung am Trinity College arbeitete sie für Theater, Film und Fernsehen. Ihr erstes Buch „Grabesgrün“ wurde mit dem Edgar Allan Poe Award für das beste Debüt ausgezeichnet, auch die folgenden Kriminalromane wurden sofort zu großen internationalen Erfolgen.


    Die Serie
    Goodreads.com zählt "Gefrorener Schrei" als Band 6 der Reihe Dublin Murder Squad. Die letzten drei Bände sind in besonderer Weise miteinander verflochten, Stephen Moran ist eine Nebenfigur aus Sterbenskalt (2010) und Antoinette Conway tauchte bereits in Geheimer Ort (2014) auf.


    Inhalt
    Der Mord an Aislinn Murray geschieht in Stoneybatter, einem ehemaligen Arbeiterviertel im Norden Dublins, in dem auch die Ermittlerin Antoinette Conway lebt. Das Opfer wird mitten in den Vorbereitungen zu einem festlichen Dinner für zwei ermordet. Der Haushalt der jungen Frau wirkt wie frisch aus dem Möbelkatalog; alles ist eine Spur zu neu, zu gewollt und zu sauber. Callgirls oder Agenten könnten ähnlich inszeniert leben wie Aislinn. Der Täter hat durch sein planvolles Handeln sehr viel über sich preisgegeben, doch Conway und Moran wollen weder an eine „einfache“ Beziehungstat glauben, noch an einen perfekten Mord. Von Aislinn entsteht bald das Bild einer Person mit wenigen Kontakten und wenig Menschenkenntnis. Jede Zeugen-Aussage aus ihrem Bekanntenkreis wirft die Frage auf, welches Bild der jeweilige Zeuge inszenieren will und was wirklich dahintersteckt.


    Das Arbeitsklima innerhalb der Mordkommission war schon vor der aktuellen Tat angespannt. Erfolgserlebnisse sind selten; die Ermittler sind frustriert darüber, dass die Polizei offenbar nur zum Stopfen von Löchern eingesetzt wird, während sich gleich daneben neue soziale Probleme auftun. Teamarbeit scheint ein Fremdwort zu sein, so dass Conway stets vom schlimmstmöglichen Desaster ausgeht. Sie erwartet, dass Informationen nicht an sie weitergegeben werden und sie sich um jedes Detail selbst kümmern muss. Antoinette Conway hat sich als einzige Frau in der Mordkommission noch nicht durchbeißen können. Mit Steve Moran arbeitet sie zwar gern zusammen, fürchtet jedoch, dass sie bei der Polizei auf der Abschussliste steht. Antoinette sieht sich einem Kampf an allen Fronten gegenüber, sie muss Ergebnisse liefern, sich gegen missgünstige Kollegen zur Wehr setzen – und das berühmte Leck in der Dienststelle stopfen, durch das Informationen nach außen gelangen.


    Erzählt wird der komplexe Fall aus der Ichperspektive der leitenden Ermittlerin Antoinette Conway. Die Neueinsteigerin, die sich in ihrer Dienststelle als einzige Frau gegen bestens vernetzte erfahrene Kollegen durchsetzen muss, scheint eine beliebte Figur im Kriminalroman zu sein. Die gewählte Erzählperspektive zwingt die Leser in die Sichtweise einer Person mit all ihren Irrtümern und Umwegen bis zur Klärung eines Kriminalfalls. Antoinette selbst zweifelt ihr erstes Lösungsmodell an als zu glatt, zu perfekt. Auch ich habe mich gefragt, wo der Haken verborgen ist und ob sie sich nicht unter Druck zu einem Schnellschuss drängen ließ. Tana French sät systematisch Zweifel an ihrer Heldin. Der Prolog hatte schon zu Anfang die Frage aufgeworfen, aus welchen Motiven Antoinette Polizistin wurde und warum sie sich ständig unter Rechtfertigungszwang sieht. Als Leser kann man sich dabei beobachten, wie man sich von dieser Ermittlerin mit Ecken und Kanten förmlich einwickeln lässt. Eine Reihe moralischer Fragen wirft Tana French auf. Wie weit verbiegt sich jemand, um Karriere zu machen? Wie weit gehen zutiefst verletzte Kinder, die von ihrem Vater im Stich gelassen wurden? Wie kann eine nicht perfekt ins Bild passende Aufsteigerin ein gut geöltes Old-Boys-Network aus dem Takt bringen? Dass die Ermittlerin wie auf dem Präsentierteller im selben Viertel lebt wie das Mordopfer, hat mir eine zusätzliche Schicht Gänsehaut beschert. Die unangepasste Ermittlerin und Dublin als Biotop, in dem jeder jeden kennt und nichts lange zu verheimlichen ist, haben mich hier direkt angesprochen.


    Fazit
    Auch wenn die Vorgängerbände noch nicht alle bekannt sind, lohnen sich Tana Frenchs Krimis unbedingt zu lesen. Den Geldbeutel freut der Einstieg in eine erfolgreiche laufende Serie weniger.


    9 von 10 Punkten

  • Ich bin mitten in "Gefrorener Schrei" und - ohne zu wissen, wie es ausgehen wird - schon wieder ein wenig angenervt von einem Thema, das bei Tana French nach meinem Empfinden unverhältnismäßig viel Raum einnimmt. Es geht um die Nickligkeiten und Zickigkeiten der Ermittler untereinander.


    Schon bei "Geheimer Ort" habe ich mich gefragt, ob das eigentlich normal ist. Es kommt vielleicht (leider) vor, dass ein Haufen männlicher "Kollegen" die einzige weibliche Mitarbeiterin nach Kräften mit Männer-"witzen" triezen, wo sie nur können. Aber es geht ja nicht nur um das alte Thema eine Frau gegen lauter Männer. Es ist bei Tana French einfach regelmäßig so, dass ein großer Teil der verfügbaren menschlichen Energie, die in die Arbeit einfließen sollte, dafür draufgeht, vor den Kollegen das Gesicht zu wahren, sich keine Blöße zu geben und sich Karrierevorteile zu sichern, wo immer es geht ... es wird getrickst und gelogen, was das Zeug hält, und die Ermittlung tritt dabei auf der Stelle. Ich will kein Urteil über ein Buch abgeben, das ich gerade mal zur Hälfte gelesen habe, aber zur Zeit verliert Tana French bei mir Punkte.


    Grüße von Zefira


    ps. Ich sehe gerade, dass ich diesen Punkt auch schon im Faden zu Geheimer Ort erwähnt habe.

  • Zitat

    Original von Zefira
    Ich bin mitten in "Gefrorener Schrei" und - ohne zu wissen, wie es ausgehen wird - schon wieder ein wenig angenervt von einem Thema, das bei Tana French nach meinem Empfinden unverhältnismäßig viel Raum einnimmt. Es geht um die Nickligkeiten und Zickigkeiten der Ermittler untereinander. ...


    Mir ging es so ähnlich. Das Kollegin-in-der-Minderheit- und Mobbing-bei-der-Kripo-Thema sind für kommende Krimis bei mir verbrannt. Kurz zuvor hatte ich ausgerechnet exakt dieses Setting in Reiko Himekawa gelesen. Weniger Hakeleien in der Abteilung und ein 100 Seiten schlankeres Buch würden Frenchs Figuren nicht schaden.

  • Ich habe eine interessante Feststellung gemacht.
    Sicherheitshalber spoilere ich das Folgende, obwohl ich meine, dass es mit dem Verlauf der Ermittlung nichts zu tun hat:



    An diesem Punkt habe ich mich entschieden, dass die Erzählerin mir unsympathisch ist. Das ist immer eine schwierige Entscheidung; ich möchte Erzähler und Erzählerinnen viel lieber mögen und verbiege mich manchmal geradezu selbst, weil es das Lesen erleichtert und verschönert, wenn man die Hauptperson mag (jedenfalls dann, wenn diese der Erzähler/die Erzählerin ist). Aber in diesem Fall habe ich mich so entschieden und jetzt fällt es mir leichter, das Buch zu beenden.


    Bin beinahe fertig.


    Grüße von Zefira

  • Ich weiß allerdings nicht ob man unterscheiden muss. Ist das MobbIng entscheidend für die Handlung? Ich bin in der Mitte und bin mir nicht sicher. Oder dient es als Showeffekt, um die Handlung breiter zu latschen?


    Ich denke man kann zwischen der Hauptfigur und dem Opfer gewisse Parallelen ziehen. Conway selbst meint, ihr Kindheitstrauma besser gelöst zu haben als Aisleen. Sie hat mit Sicherheit mehr Ellenbogen. Ich weiß nicht ob es sie unsympathisch macht, dass sie

  • Für mich war das dominierende Stichwort Inszenierung. Aislinn inszeniert ein Bild von sich, die Zeugen tun das auch. Antoinette als Icherzählerin inszeniert von sich ein Bild, das ich glauben soll. Wenn sie sich irren sollte, muss ich als Leser dem Irrtum gemeinsam mit ihr zunächst auf den Leim gehen. Als Polizistin sollte sie Inszenierungen durchschauen können, sie erfüllt meine Erwartungen erst einmal nicht. Das Bild der Beziehung zu Steve gerät ins Rutschen - wo steht er eigentlich auf diesem Schachbrett? Antoinette kämpft praktisch an allen Fronten. Da Antoinette nicht unbedingt eine zuverlässige Berichterstatterin sein muss, könnte man am Grad des Mobbings durchaus zweifeln. Ist es, wie sie erzählt oder will sie es nur so sehen?

  • Ja, das ist die Preisfrage: Was wird in diesem Buch eigentlich erzählt? Das, was Antoinette spontan denkt - die Erzählform Präsens weist immerhin in diese Richtung - oder das, was sie uns, den Lesern, gegenüber zu denken behauptet?


    Man kann darüber natürlich trefflich grübeln und diskutieren - aber dann müsste die Erzählerin mir als Leserin das Gefühl geben, solchen Nachdenkens wert zu sein. Mir sind einfach zu viele flotte Urteile in Antoinettes Erzählung, zu viel "dies und jenes kotzt mich an", als dass ich groß Lust hätte, darüber nachzudenken, ob sie wirklich so drauf ist oder das nur vorgibt.


    Mir ist während Rorys zweiter Vernehmung, die ausführlich geschildert wird, jedenfalls Rory sympathischer gewesen als Antoinette, obwohl (oder gerade weil) sie ihr Bestes getan hat, so zu erzählen, dass er möglichst doof dasteht. Es ist Antoinette selbst, die mich in diese Haltung manövriert. Wenn mir jemand beweisen kann, dass das Absicht von Tana French ist, dann ziehe ich in der Tat meinen Hut.

  • "Gefrorener Schrei" ist ein typischer Tana French Krimi. Er konzentriert sich auf die Ermittler. Ihre Motivationen, ihre Gefühle stehen im Mittelpunkt. Hier ist Antoinette Conway die Ermittlerin. Sie lernten wir schon kurz in vorangegangen Buch "Geheimer Ort" kennen.


    Antoinette ist eine sehr eigenwillige Figur. Meistens ist sie schlecht gelaunt und sieht alles negativ. Sie hat es schwer im Morddezernat. Ihr werden üble Streiche gespielt, die schon deutlich an Mobbing grenzen. Deswegen wittert sie auch überall eine Verschwörung gegen sich. Sie hinterfragt im laufe des Buches jede Person in ihrem Umfeld und dichtet ihnen üble Absichten an. Überhaupt ist Antoinette in meinen Augen etwas paranoid und sehr selbstbezogen. Das macht sie zu keiner einfachen Figur.


    Die Handlung ist im Grunde nicht sehr verwickelt. Eigentlich passiert auch nicht viel. Antoinette und ihr Partner Steve versuchen, den Mord an der jungen Aislinn Murray aufzuklären. Es sieht zu Anfang aus wie ein einfacher aus dem Ruder gelaufener Beziehungsstreit. Aber die beiden verrennen sich schon bald in ausufernde Theorien, wie es auch gewesen sein könnte. Sie entwickeln Szenarien, kauen die gemeinsam durch und verwerfen sie wieder. Dadurch wird irgendwie die ganze Zeit geredet in diesem Buch. Ich weiss nicht, ob ich schon mal ein derart dialoglastiges Buch gelesen habe. Das ist jetzt kein Kritikpunkt. Denn die Dialoge sind wirklich gut geschrieben. Aber dadurch passiert auch nicht viel. Es spielt sich viel in den Köpfen der Figuren ab. Wobei wir ja nur bei Antoinette sind und ihre Gedanken lesen. Aber genau darum geht es. Die Vorstellungskraft der Figuren, wie sie Geschehnisse wahrnehmen und einordnen für sich sind ein zentraler Punkt in dieser Geschichte.


    "Zahllose Leute gehen vorbei, es nimmt kein Ende, und jeder Einzelne von ihnen hat den Kopf voller Geschichten, die er glaubt, und Geschichten, die er glauben möchte, und Geschichten, die ihm jemand anders eingeimpft hat, und jede Geschichte hämmert ihm gegen die dünnen Schädelwände, bohrt und nagt, um endlich herauszukommen und jemand anderszu attakieren, sich in ihn hineinzugraben und von dessen Verstand Besitz zu ergreifen." (S. 540)


    Antoinette hat zuerst wenig Mitgefühl für das Mordopfer. Auch der vermeintliche Täter ist in ihren Augen ein Schwächling. Sie dreht sich mehr und mehr im Kreis und merkt nicht, das sie Dinge, die genau vor ihrer Nase sind, selber nicht sehen will. Auch sie lebt in ihrer eigenen, subjektiv wahrgenommenen Welt.


    Nachdem ich "Geheimer Ort" nicht ganz so gut fand ob der abgedrehten Story und Frenchs etwas selbstverliebtem ausufernden Schreibstils, bin ich froh, das sie hier wieder zu alter Form zurückgefunden hat. Die erste Hälfte des Buches habe ich locker weggelesen , über Antoinettes ruppige Art geschmunzelt und mich an Frenchs Schreibstil erfreut. In der Mitte hängt das Buch etwas durch. Das Buch ist gewohnt umfangreich, aber hier es ist einen tick zu lang. In der Mitte wurde es mir dann doch etwas zu viel mit dem vielen im Kreis ermitteln, gegen Wände laufen und dummen Ideen nachjagen. Antoinette kommt an einem Punkt, an dem sie wirklich jede Person hinterfragt und immer einen zweite Interpretation ihres Eindrucks durchgeht. Das grenzt schon sehr an Paranoia und machte sie in meinen Augen auch etwas betriebsblind.


    Die Story ist düster und über weite Teile auch spannend. Es gibt viel Polizeiarbeit. Tana French ist eine Meisterin der Dialoge. Das zeigt sich vor allem in den Vernehmungsszenen. Diese Stellen sind faszinierend und extrem gut geschrieben. Das Buch ist, ebenso typisch für French, eher langsam und auch etwas ausufernd und defitiv kein Pageturner. Aber auf jeden Fall lohnenswert, trotz der Überlänge.

  • In ihrem zweiten gemeinsamen Fall ermitteln die Dubliner Detectives Antoinette Conway und Stephen Moran in der Ermordung der hübschen Aislinn Murray. Es dauerte nicht lang, dann haben sie in Aislinns Lover Rory einen ersten Verdächtigen gefunden. Was vielleicht genau das Problem ist. „Gefrorener Schrei“ ist nämlich kein klassischer Whodunnit-Krimi. Die meiste Zeit dreht sich die Geschichte bloß um den Hauptverdächtigen und wie man ihm die Tat nachweisen könnte. Hinzu kommt viel Polizei-Interna, die stellenweise zu ausführlich ausfällt. Ein weiterer Minuspunkt sind die Verhöre, die in der Literatur nicht sooo ellenlang ausfallen müssen, wie es hier manchmal der Fall ist. So ist es alles in allem zwar eine tiefschürfende, starke Ermittlung, die aber auch ihre Schwächen aufweist.

  • "Grabesgrün" fand ich besser als "Geheimer Ort" - aber ich mag den Stil von Tana French sehr (gerade auch das sich-kappeln der Ermittler :-) "Gefrorener Schrei" steht noch auf meiner Leseliste! Interessante Rezis hier dazu, vielen Dank! :wave