Liebe Eulen,
die Geschichte, die heute, am 23. Dezember 2016, im Büchereulen-Adventskalender zu lesen ist, habe ich gestern geschrieben. Eigentlich hatte ich einen anderen Text für den Kalender geplant, den ich auch am Montag bereits abgeschickt hatte. Weil nicht nur ich diesen Text eigentlich ganz in Ordnung und angebracht (und nicht nur dumm und selbstgerecht) finde, habe ich beschlossen, ihn sozusagen außer Konkurrenz zur Kenntnis zu geben. Es ist keine Geschichte.
Here we go.
Das Fest der Liebe
Oder
Warum es in diesem Jahr keine Eulen-Adventskalender-Weihnachtsgeschichte von mir gibt
Seit über 13 Jahren bin ich bei den Büchereulen, und ich glaube, es gab keinen Büchereulen-Adventskalender, in dem sich keine Geschichte von mir befand. Jedes Jahr freute ich mich auf Churchills Aufruf schon lange vorher. Ich habe diese Geschichten immer ungeheuer gerne geschrieben, manchmal sogar gleich mehrere am Stück, weil ich für die Büchereulen etwas ganz Besonders abliefern wollte - und mir zuweilen erst die dritte Idee gut genug für Euch vorkam. Einige dieser Storys halte ich für meine besten überhaupt. Die Geschichte vom vorigen oder vorvorigen Jahr - die mit der Brustamputation - wird übrigens im kommenden Jahr in einem Band mit Weihnachtsgeschichten erscheinen.
Ich bin nicht religiös und erst recht kein Christ. Ich glaube nicht, dass vor 2016 Jahren ein - sogar: der - Messias geboren wurde oder gar, dass der Mann, von dem das behauptet wurde, der Sohn irgendeines allmächtigen Gottes war. Es gibt auch kaum einen Anlass, diese Geschichte zu glauben, denn wenn sie wahr wäre, hätten Messias nebst Vatergott unterm Strich ganz schön krassen Murks gebaut. Gut, Weihnachten hat mit dieser Geschichte sowieso nur wenig zu tun. Die christlichen Kirchen haben dieses Fest, bei dem ursprünglich die Wintersonnenwende gefeiert wurde und das überwiegend aus lauter unchristlichen Ritualen besteht (vom Baum bis zum Weihnachtsmann - alles heidnischer bzw. kommerzieller Unfug), irgendwann für sich okkupiert, und das erfolgreich. Man hat den Zeugungstag Jesu einfach hochgerechnet, denn den kannte man vermeintlich, seinen Geburtstag aber nicht.
Egal.
Denn Weihnachten ist so oder so ein schönes Fest, auch ohne diese Messiassache. Und, ehrlich und unter uns - wer von Euch, der sich als Christ bezeichnen würde, glaubt denn wirklich, dass damals eine Jungfrau vom Heiligen Geist penetriert wurde und exakt neun Monate später eine Lichtgestalt zur Welt brachte? (Das ist eine rhetorische Frage, bitte nicht antworten.)
Geschenkt. Ich mag Weihnachten, weil die Zeit zwischen Mitte und Ende Dezember dadurch zu einer besonderen Zeit wird. Das Jahr verlangsamt sich, wir ertränken einander im Kitsch, hören seltsame Musik, trinken seltsame Getränke, backen Kekse und schlurfen über Märkte, auf denen überwiegend Krempel verkauft wird, der in Ländern hergestellt wurde, in denen Weihnachten nicht die geringste Rolle spielt. Wir widmen der Familie viel Zeit, treffen Freunde, denken uns Überraschungen aus, hauchen den Atem in die kalte Dezemberluft und hoffen insgeheim darauf, dass es spätestens am 24. schneit, obwohl das in unseren Breiten die Ausnahme wäre. Wir rennen uns die Hacken ab, um Geschenke zu kaufen, und klicken uns die Finger bei Online-Bestellungen wund. Wir tun das mit kindlicher Freude, die noch größer wird, wenn tatsächlich Kinder involviert sind: Dann werden wir melancholisch, erinnern uns an den Zauber von damals, obwohl wir schon mit fünf oder sechs geahnt haben, dass Papi oder Onkel Hubert der Weihnachtsmann sind und diese Nummer mit dem Schlitten auf dem Dach eigentlich nicht funktionieren kann. Wir haben uns damals schon der Illusion gefügt, weil es eine nette Illusion ist, weil das, was die Menschen aus diesem Fest gemacht haben, überwiegend eine schöne Sache ist: Am Ende des Jahres legen wir all den Stress ab, vergessen den Streit und den ganzen Hustle, sind friedlich miteinander und feiern es (nach einigem Vorbereitungsgenerve) endlich, das Fest der Liebe. Sogar gestandene Atheisten wie ich tun das, schreiben mitunter pathetische, ergreifende Geschichten, in denen hartgesottene, rationale Hunde vor dem Geist der Weihnacht in die Knie gehen.
Wie ich selbst eigentlich jedes Jahr.
Nur in diesem nicht.
Ich hatte eine Geschichte begonnen, sie ist zu etwa zwei Dritteln fertig, die Story von einem Jungen aus Zentralafrika, der miterleben muss, wie seine Familie und fast alle aus seinem Dorf von "Rebellen" niedergemetzelt werden, und der zu uns kommt, nach langer, tragischer Flucht, wo er genau in der Weihnachtszeit auf Menschen trifft, die ihm helfen, das unfassbare Schicksal ein kleines bisschen besser zu ertragen. Ich war gerade dabei, diesen Twist vorzubereiten, diese Drehung ins Gute, Hoffnungsvolle, wenigstens ins Etwasbessere, und es wäre mir wahrscheinlich sogar gelungen, das innerhalb dieser Geschichte halbwegs glaubhaft zu gestalten, obwohl fast niemand von uns dieses Leid begreifen oder nachvollziehen kann.
Aber ich konnte das nicht schreiben. Ich konnte keine Geschichte erzählen, die unser derzeitiges Miteinander in gutem Licht erscheinen lässt. Ein Miteinander, in dem Leute Dinge sagen wie: "Wenn sich die Frauen so aufreizend anziehen, sollten sie sich nicht wundern, wenn sie vergewaltigt werden", und zwar öffentlich, in Foren oder bei Facebook. Oder "Die meisten Neger, die herkommen, werden dann sowieso Drogendealer." Ein Miteinander, das ignoriert, dass es mehrfach, fast ständig Anschläge und Attacken und Anfeindungen gegen Asylsuchende gibt, während man sich stundenlang und ohne Rücksicht auf moralische Grenzen die Mäuler zerfetzt, wenn es den Verdacht gibt, dass ein Flüchtling von mehreren hunderttausend eine Gewalttat begangen hat. Ein Miteinander, das online um die hasstriefendsten, bösartigsten, diskreditierendsten Kommentare wetteifert, das Todesstrafen und Lynchjustiz und öffentliche Ächtungen einfordert, wobei dann die Likes, die solche Forderungen einheimsen, als Bestätigung für die Berechtigung der Forderungen gewertet werden. Ein Miteinander, das die Unschuldsvermutung vergessen hat und auf Märchen, Mythen und Gerüchte mindestens brutale Shitstorms folgen lässt. Eines, das sich in der Diskussion wieder auf Vereinfachungen und Feindbilder zurückzieht, das zu differenzieren völlig aufgibt, das Nazis in die Landtage wählt, bei Populistenaufmärschen mitwatschelt und die Propaganda der tumben Egoisten bereitwillig wiederholt, weil es salonfähig geworden ist, seinen mitmenschenverachtenden Egoismus offen auszuleben. Wir sind in großer Gefahr, nicht nur politisch. Wer verlernen gerade, die Arschlöcher in uns allen in Schach zu halten. Ganz im Gegenteil: Wir gefallen uns dabei, ihnen beim öffentlichen Marodieren zuzuschauen, genießen den Wettbewerb der marodierenden Arschlöcher. Wir fühlen uns mächtig und gerecht und sogar ein klein wenig elitär dabei. Wir glauben uns selbst, wenn wir "Das wird man doch wohl mal sagen dürfen" behaupten, und fühlen uns bestätigt, weil jemand, der ausschließlich nach dieser Maxime agiert, gerade Präsident der U.S. of A. werden durfte. Wir denken, es wäre an der Zeit, ordentlich aufzuräumen, es "denen da oben", die sowieso nur für viel Geld ihre fetten Gesäße plattsitzen, kräftig zu zeigen, ihnen Denkzettel zu verpassen, bei denen wir ignorieren, dass wir sie letztlich selbst abbekommen.
Und all das ohne jede Not.
Okay, solche Bewegungen und Strömungen hat es schon häufiger gegeben, das stimmt. Aber in diesem Jahr hat es eine besondere Qualität angenommen. Die Schleusen sind geöffnet, keiner nimmt mehr ein Blatt vor den Mund, und der Hass und die Ignoranz erreichen auch die letzte Ecke. Einige Tentakel dieses Monsters greifen sogar nach dem kuscheligen Eulenforum.
Deshalb kann ich in diesem Jahr keine Weihnachtsgeschichte schreiben. Mir ist einfach nicht weihnachtlich genug zumute. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich hilflos, bin etwas traurig, enttäuscht und sehr, sehr beunruhigt. Ich feiere das Fest der Liebe in diesem Dezember deshalb nicht, aber ich versuche wenigstens auf den letzten Metern, noch ein Fest der Hoffnung daraus zu machen, doch nicht der Hoffnung auf einen Messias, sondern der Hoffnung auf die Vernunft und Mitmenschlichkeit.
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten, liebe Eulen. Ich wünsche mir sehr, dass ich in einem Jahr über diese Sorgen lächeln und wieder eine coole und zugleich besinnliche Weihnachtsgeschichte abliefern kann.