21. Dezember 2016 von sinela
Weihnachten im Regenbogenland
Herr Gerlach stand mit seiner Frau im Wohnzimmer und betrachtete den geschmückten Weihnachtsbaum. Rote und goldene Kugeln hingen an den Zweigen, Girlanden aus künstlichen Sternen schlängelten sich um den Baum herum. LED-Kerzen waren an den Ästen befestigt und auf der Spitze der Tanne befand sich ein großer Stern. Am Fuß des Weihnachtsbaumes lagen etliche Geschenke, große und kleine.
„Diesmal hast du wirklich einen schönen Baum gekauft. Kein so kümmerliches Exemplar wie im letzten Jahr.“
Herr Gerlach schaute seine Frau missmutig an.
„Was konnte ich dafür, dass ich erst am 23. zum Händler gehen konnte? Ich habe es mir nicht ausgesucht, dass ich zwei Wochen mit einer Grippe im Bett gelegen habe.“
„Schon gut, wir wollen uns nicht streiten. Sollen wir die Kinder rufen?“
„Ja, mach das doch bitte. Ich bin schon gespannt was sie zu ihren Geschenken sagen werden. Hoffentlich haben wir dieses Jahr die richtige Wahl getroffen, nicht dass es wie vor einem Jahr lange Gesichter beim auspacken gibt.“
Frau Gerlach warf einen Blick zu den mit Weihnachtspapier eingepackten Geschenken.
„Das hoffe ich auch.“
Sie ging zur Türe, die auf den Flur führte, und rief „Benny! Uschi! Ihr könnt jetzt kommen!“
Und schon hörte sie wie oben zwei Türen aufgerissen wurden und eilige Schritte die Treppen herunterkamen. Sie trat zur Seite und schon rannten die Kinder in das Wohnzimmer.
„He, immer mal langsam mit den jungen Pferden. Die Geschenke laufen euch nicht weg, also benehmt euch bitte gesittet und geht langsam.“
Während sich Uschi die Worte zu Herzen nahm, rannte Benny weiter zum Weihnachtsbaum und begann die Geschenke eines nach dem anderen in die Hand zu nehmen und zu schauen auf welchen sein Name stand. Endlich hatte er ein größeres Exemplar gefunden, auf dem sein Name stand, setzte sich hin und fing an das Papier abzureißen. Herr und Frau Gerlach schauten sich an – ihr 11 Jahre alter Sohn würde sich wohl nicht mehr ändern. Ihre 7jährige Tochter war da ganz anders, ruhig und besonnen ging sie jetzt zu Benny, setzte sich neben ihn und nahm ein Geschenk in die Hand. Aber sie packte es nicht aus, sondern legte es neben sich und schaute mit einem verlorenen Blick in Richtung Fenster. Frau Gerlach ging zu ihrer Tochter.
„Was ist denn los mein Schatz? Möchtest du deine Geschenke nicht auspacken?“ Uschi schaute ihre Mutter traurig an.
„Ach Mama, mir fehlt Pablo so sehr. Letztes Jahr an Weihnachten ...“
„Stell dich doch nicht so an“, unterbrach sie ihr Bruder“, „Pablo war doch bloß ein Meerschweinchen.“
Uschi brach in Tränen aus.
„Benny, also wirklich“, tadelte Frau Gerlach ihren Sohn. „Das musste doch jetzt wirklich nicht sein, oder?“
„Was kann ich dafür dass meine Schwester so eine Heulsuse ist?“
„Sie hat Pablo geliebt und es tut ihr weh, dass er nicht mehr da ist. Ein bisschen mehr Mitgefühl von deiner Seite aus wäre wirklich wünschenswert.“
Frau Gerlach nahm ihre Tochter in den Arm und wiegte sie sanft bis die Tränen versiegten. Mit verquollenen Augen saß Uschi ihre Mutter an.
„Was mein kleiner Italiener wohl gerade macht?“
„Pablo ist nicht italienisch, das ist spanisch. Und was soll er schon machen – er ist tot!“
„Es reicht jetzt Benny! Noch ein Wort und du gehst auf dein Zimmer – und zwar ohne Geschenke!“
Herr Gerlach warf seinem Sohn einen strafenden Blick zu und ging dann zur Wohnzimmercouch, wo er sich hinsetzte.
„Uschi, komm mal her zu mir.“
Das junge Mädchen stand auf und ging zusammen mit ihrer Mutter hinüber zu ihrem Vater und wollte sich neben ihn setzen, doch dieser nahm sie auf den Schoß, während die Mutter sich ihnen gegenüber in einen Sessel setzte.
„Weißt du noch was ich dir gesagt habe, wohin Pablo jetzt geht als er gestorben ist?“
Uschi nickte mit dem Kopf.
„Ja, zur Regenbogenbrücke.“
„Genau. Dort gehen alle Tiere, die sterben hin und warten auf ihre menschlichen Weggefährten. Es geht ihnen gut dort, die Wiesen und Bäume sind immer grün, es ist angenehm warm, die Sonne scheint den ganzen Tag. Alle Lebewesen an der Regenbogenbrücke sind gesund, egal wie krank und elend sie hier auf der Erde waren, sie genießen das Leben dort in vollen Zügen. Und auch sie feiern Weihnachten.“
Uschi hob ihren Kopf und schaute ihren Vater an.
„Ist das wirklich wahr?“
„Ja, Liebes, das ist wirklich wahr. Schließe deine Augen und hör zu.“
Pablo öffnete die Augen, reckte und streckte sich und fing an sich ausgiebig zu putzen. Nachdem er seine Körperpflege beendet hatte stand er auf, öffnete die Tür und schaute hinaus. Er hielt den Atem an – es hatte geschneit! Alles war weiß, selbst auf dem Regenbogen lag eine weiße Schicht.
„Speedy! Komm her! Das glaubst du mir nicht, wenn ich es dir erzähle, das musst du mit eigenen Augen gesehen haben!“
Mit müden Schritten kam eine weiße Ratte herangeschlurft.
„Warum schreist du denn so? Ich habe … heiliges Kanonenrohr, was ist das denn?“
„Ach das, das ist jedes Jahr an Weihnachten so“, ertönte hinter den beiden eine Stimme.
„Aber wie ist das möglich? Es ist warm wie an einem schönen Tag im Mai und trotzdem bleibt der Schnee liegen.“
Der Hamster, der mit ihnen und noch drei anderen Kleintieren im gleichen Haus lebte, gähnte zuerst herzhaft bevor er antwortete.
„Hier im Regenbogenland ist alles möglich, habt ihr das vergessen?“
„Und hast du vergessen dass das unser erstes Weihnachtsfest hier ist?“ fragte Pablo mit leicht giftiger Stimme.
„Oh weh, ich habe tatsächlich nicht mehr dran gedacht, tut mir leid. Ich habe einfach das Gefühl als würden wir uns schon ewig kennen. Aber los kommt, wir wollen schauen dass wir zum Regenbogen-Tempel kommen, da findet die Weihnachtsfeier statt – und wir bekommen unsere Geschenke.“
„Wir bekommen Geschenke?“ staunte Speedy.
„Ja, jedes Tier hier an der Regenbogenbrücke bekommt ein Geschenk, etwas ganz besonderes, ihr werdet schon sehen.“
„So meine lieben Regenbogenbrückenbewohner, es ist mal wieder soweit. Wie jedes Jahr an Weihnachten dürfen diejenigen unter euch, die den Wunsch haben ihre ehemaligen Besitzer wieder zu sehen, diese heute besuchen.“
Pablo erstarrte, sollte das wirklich wahr sein? Er würde Uschi besuchen dürfen? Aber wie sollte das gehen?
„Ruhe! Ich bitte um Ruhe! Ich weiß, dass ihr aufgeregt seid, aber bitte beruhigt euch ein wenig, dann erkläre ich für diejenigen, die ihr erstes Weihnachtsfest hier feiern, wie das alles abläuft. Hört gut zu: Grundsätzlich gehen Tiere, die schon länger hier sind, mit den Neuzugängen von diesem Jahr für den Fall dass diese nicht mehr alleine zurückfinden. Ihr habt maximal 2 Stunden Zeit um auf der Erde zu bleiben, dann müsst ihr wieder hier sein und es findet die Bescherung statt. Noch Fragen? Nein? Also dann – viel Spaß!“
Pablo grinste Speedy an.
„Das war lustig, oder? Wenn ich gewusst hätte, dass das so einfach geht, wäre ich schon viel früher wieder hier runter gekommen.“
„Wenn ich das richtig verstanden habe, geht das nur an Weihnachten.“
„Schade. Ich hätte Uschi gerne öfter besucht. Weißt du, sie war total traurig als ich gestorben bin.“
Speedy blickte zu Boden. Als er aufschaute hatte er Tränen in den Augen.
„Als ich gestorben bin, war niemand traurig. Ich wurde misshandelt und weggeworfen. Einfach so. Ich war halt nur eine von vielen Ratten in dem Versuchslabor.“
„Warum bist du dann heute mitgekommen?“
Die kleine weiße Ratte bekam rote Ohren und räusperte sich:
„Ich wollte dich nicht alleine lassen, bist doch mein bester Kumpel.“
„Das ist wirklich lieb von dir. - Oh schau mal, wir sind am Haus angekommen in dem die Familie von Charly wohnt. Aber warum weint er jetzt denn?“
Der Mischlingshund hatte ihn gehört und antwortete ihm während er weiter in das Fenster hineinsah.
„Sie haben sich einen neuen Hund geholt und mich bestimmt schon vergessen. Schau doch mal wie glücklich sie sind.“
Gebannt verfolgten die Tiere das Geschehen in dem Zimmer. Während im Radio Weihnachtslieder liefen, spielte Herr Sautter mit dem Welpen bis dieser müde wurde, sich in sein Körbchen legte und dort einschlief. Der nicht mehr ganz so junge Mann setzte sich auf einen Stuhl und seufzte.
„Ach Lene, der Kleine ist ja echt süß, aber mir fehlt Charly. Ob es ihm wohl gut geht?“
„Ja, ja, ja, mir geht es gut, ich bin hier!“
„Er kann dich nicht hören Charly.“
Der Mischlingshund richtete sich auf.
„Nein, das kann er nicht, aber passt mal auf.“
Charly konzentrierte sich auf das Radio und die Weihnachtsmusik hörte auf. Dafür erklangen die ersten Töne von „Thunder“, einem Lied von AC/DC. Herr Sautter richtete sich auf.
„Das gibt es doch nicht, das war das erste Lied, das im Radio kam als ich Charly aus dem Tierheim geholt habe. Von da an war das unser Lied! Charly ist hier, oh mein Gott, er ist hier!“
Mit Tränen in den Augen stand Herr Sautter auf, ging ans Fenster und sah hinaus. Was für ein schönes Weihnachtsgeschenk!
Knapp 2 Stunden später. Die Tiere hatten alle ihre früheren Besitzer wieder gesehen, nur ein Besuch stand noch aus. Sie waren vor einem Haus in einer kleinen Siedlung angekommen, das liebevoll mit Lichterketten geschmückt worden war. Im Garten stand ein kleiner beleuchteter Nikolaus. Eiszapfen hingen von der Dachrinne herab, es war sehr kalt geworden, aber das spürte Pablo nicht. Er sah in das Wohnzimmer hinein, sah seine Familie, seine Uschi dort sitzen. Er fühlte die Liebe, die in diesem Ort zuhause war
„Komm, es ist an der Zeit zu gehen.“
Pablo war noch einen letzten traurigen Blick zurück durch das Fenster. Wie gerne würde er hier bleiben, aber er wusste es war nicht möglich. Und schon eine Sekunde später war er wieder im Regenbogen-Tempel. Lautes Stimmengewirr empfing ihn und die anderen. Sie waren die letzten gewesen und nachdem sie nun auch wieder an der Regenbogenbrücke angekommen waren wurden die Geschenke verteilt. Erfurchtsvoll, aber auch voller Vorfreude nahm Pablo den schön verpackten Karton entgegen. Was da wohl drin war?
„Und jetzt meine lieben Freunde dürft ihr eure Geschenke öffnen.“
Das ließ sich Pablo nicht zweimal sagen. Er zerfetzte das Geschenkpapier, öffnete den Deckel – und war eingehüllt in eine Woge aus der bedingungslosen Liebe, welche jedem der geöffneten Pakete entströmte. Sie verteilte sich und erfüllte letztendlich jeden Winkel des Regenbogenlandes.
„Ist das wirklich wahr? Kommt Pablo mich an Weihnachten besuchen?“
„Ja, jedes Jahr kommt er her und schaut wie es dir geht. Wenn er dann sieht, dass du weinst, dann wird er ganz traurig, dann kann in seinem Herzen auch keine Freude mehr sein. Wenn er aber merkt, dass es dir gut geht, dann ist er glücklich.“
„Dann will ich versuchen nicht mehr zu weinen, denn ich will ja dass Pablo glücklich ist.“
Uschi rutschte vom Schoss ihres Vaters, ging zum Fenster und schaute hinaus.
„Ich habe dich ganz toll lieb Pablo!“