1. Dezember 2016 von Voltaire
Das vierte Gedeck
Diese Frage beschäftigt mich schon seit längerer Zeit: Gibt es Engel?
Es war ein Heiligabend, vor vielen Jahren. Unsere neunjährige Tochter Ki. wollte am Mittag nur schnell noch eine Freundin besuchen, um ihr ein Geschenk vorbeizubringen.
Mit der Ermahnung, sie solle bitte nicht allzu spät wieder nach Hause kommen, ging sie, natürlich die Augen bezüglich der elterlichen Ermahnung verdrehend.
Wir sollten sie lebend nicht mehr wiedersehen.
Erst am späten Abend hatten wir die Gewissheit, dass unsere Welt zerstört war, dass das was uns am Wichtigsten war, was eigentlich unser Leben war, nun nicht mehr sein würde – dass das Lächeln unserer Tochter für immer erloschen war. Über das was passiert war, kann ich nicht reden, nicht schreiben – kann es aber auch nicht aus meinen täglichen Gedanken verbannen.
Ki. ist immer da – in meinen Gedanken.
Ein Kind zu verlieren war eine Erfahrung, die ich nie machen wollte und ich habe gelernt, dass es Wunden gibt, die nie vernarben, geschweige denn heilen. Wunden, die allenfalls mit einer sehr dünnen Haut überzogen werden. Einer Haut, die nichts abhält und immer wieder aufreißt.
Würde es uns möglich sein weiterzuleben? Kaum. Wir vegetierten, auch wenn die Automatismen griffen, leben geht anders. Alles war in einen grauen Gedankennebel getaucht, und nirgendwo fand sich auch nur die Andeutung irgendeiner freundlichen und tröstenden Helligkeit.
Es vergingen einige Jahre als wir uns entschlossen, wieder eine Familie zu werden.
Wir bekamen einen Sohn, der mittlerweile nun auch schon 24 Jahre alt ist und der von uns nie als „Ersatzkind“ angesehen wurde; Ka. ist das Wichtigste in unserem Leben geworden.
Er war 12 Jahre alt, als wir ihm von seiner Schwester erzählten.
Einige Minuten war er ganz still und sehr nachdenklich.
„Und ihr seid sicher, dass sie nicht mehr zurückkommt?“
„So wie es aussieht, wohl nicht.“
„Und wenn sie aber doch zurückkommt? Wenn es vielleicht doch möglich ist?“
„Von da wo sie ist, gibt es keine Rückkehr.“
„Okay. Trotzdem. Wir sind eine Familie – Mama, Papa, ich und Ki. Ki. ist zwar nicht hier, aber doch irgendwie bei uns. Können wir nicht immer für sie mitdecken? An ihrem Geburtstag, an den Feiertagen, jedes Mal wenn wir hier an diesem Tisch sitzen? Ich will, dass sie immer bei uns ist und wenn sie uns vielleicht zuschaut, dass sie weiß, das hier ihr Platz ist. Hier bei uns.“
Wir überlegten nur kurz – stimmten dann aber zu.
Und seitdem wurde immer in viertes Gedeck aufgelegt,. Wortlos. Gesprochen haben wir – soweit ich mich erinnern kann – nicht mehr darüber. Der leere Platz am Tisch war für uns nicht mehr leer.
Zwölf Jahre später.
Wieder ist es Heiligabend. Ich habe den Tannenbaum geschmückt, den Tisch gedeckt – und natürlich auch das vierte Gedeck nicht vergessen.
Wie könnte ich auch.
Und ich merke nun meine Lebensjahre. Vieles strengt mich an, der Körper will oftmals anders als ich es will – und ohne meine Ruhepausen geht es einfach nicht. Ich bin schnell erschöpft, die Jahre haben ihre Spuren bei Herz und Lunge hinterlassen.
Es war also mal wieder Zeit für eine kleine Ruhepause – in meinem Lesesessel.
Was dann kam, beschäftigt mich seitdem pausenlos. Ich habe noch mit niemand darüber geredet.
Ich weiß auch auch nicht, ob ich eingeschlafen bin, alles nur geträumt habe – oder ob es Realität war. Mein Verstand sagte klar NEIN. Es konnte nur ein Traum gewesen sein.
Plötzlich und ohne Vorwarnung stand Ki. im Zimmer und schaute mich an, der ich meinte zu schlafen und zu träumen, sie strahlte ihr unvergleichbares Lächeln – von dem ich gedacht hatte, ich würde es nie mehr sehen.
Ich weiß, es ist lächerlich so etwas zu sagen, aber dieses Lächeln war irgendwie nicht von dieser Welt.
„Mein lieber Papa. Ich kann nur ganz kurz bleiben. Ich weiß, dass du sicher sehr viele Fragen hast, die ich dir aber leider nicht beantworten kann. Nur so viel: Die Antworten auf all deine Fragen sind so einfach und liegen direkt vor dir, du musst nur genau hinschauen.
Ich bin immer bei euch und es war für mich ein unglaubliches Gefühl, dass ihr einen Platz für mich an eurem Tisch freigehalten habt. Ihr könnt nicht ermessen, was das für mich bedeutet. Meine Liebe zu euch und auch zu meinem Bruder wächst täglich und ist so phantastisch schön.Man kann es wirklich nicht beschreiben.
Ich bin immer bei euch, dichter als ihr es ermessen könnt. Und ich werde immer bei euch sein – und auch wenn ihr mich nicht sehen könnt, es gibt eine Nähe, die größer und wahrhaftiger ist als jedes Sehen, Hören oder Schmecken.“
Ich schreckte auf.
Ki. war verschwunden. Welch ein Traum. Oder war es gar kein Traum? Unsinn. Natürlich war es ein Traum. Von der Totenreise gibt es kein Zurück. Für nichts und niemand. Wie gut nur, dass ich mich wenigstens auf meinen Verstand noch verlassen konnte.
Es war wenige Tage später, so in der Mitte des Januars. Mein Sohn grinste mich schon den ganzen Tag so merkwürdig an.
Und dann sagte er plötzlich:
„Ki. war auch bei dir? Stimmt's? Bei Mama und mir war sie auch.“
Gibt es Engel? Ich für mich habe meine Antwort darauf gefunden und kann nun loslassen und mich auch auf den Weg machen, denn es ist Zeit für mich.