Der Büchereulen-Adventskalender 2016

  • 1. Dezember 2016 von Voltaire



    Das vierte Gedeck


    Diese Frage beschäftigt mich schon seit längerer Zeit: Gibt es Engel?


    Es war ein Heiligabend, vor vielen Jahren. Unsere neunjährige Tochter Ki. wollte am Mittag nur schnell noch eine Freundin besuchen, um ihr ein Geschenk vorbeizubringen.
    Mit der Ermahnung, sie solle bitte nicht allzu spät wieder nach Hause kommen, ging sie, natürlich die Augen bezüglich der elterlichen Ermahnung verdrehend.


    Wir sollten sie lebend nicht mehr wiedersehen.


    Erst am späten Abend hatten wir die Gewissheit, dass unsere Welt zerstört war, dass das was uns am Wichtigsten war, was eigentlich unser Leben war, nun nicht mehr sein würde – dass das Lächeln unserer Tochter für immer erloschen war. Über das was passiert war, kann ich nicht reden, nicht schreiben – kann es aber auch nicht aus meinen täglichen Gedanken verbannen.
    Ki. ist immer da – in meinen Gedanken.
    Ein Kind zu verlieren war eine Erfahrung, die ich nie machen wollte und ich habe gelernt, dass es Wunden gibt, die nie vernarben, geschweige denn heilen. Wunden, die allenfalls mit einer sehr dünnen Haut überzogen werden. Einer Haut, die nichts abhält und immer wieder aufreißt.


    Würde es uns möglich sein weiterzuleben? Kaum. Wir vegetierten, auch wenn die Automatismen griffen, leben geht anders. Alles war in einen grauen Gedankennebel getaucht, und nirgendwo fand sich auch nur die Andeutung irgendeiner freundlichen und tröstenden Helligkeit.


    Es vergingen einige Jahre als wir uns entschlossen, wieder eine Familie zu werden.
    Wir bekamen einen Sohn, der mittlerweile nun auch schon 24 Jahre alt ist und der von uns nie als „Ersatzkind“ angesehen wurde; Ka. ist das Wichtigste in unserem Leben geworden.


    Er war 12 Jahre alt, als wir ihm von seiner Schwester erzählten.
    Einige Minuten war er ganz still und sehr nachdenklich.


    „Und ihr seid sicher, dass sie nicht mehr zurückkommt?“
    „So wie es aussieht, wohl nicht.“
    „Und wenn sie aber doch zurückkommt? Wenn es vielleicht doch möglich ist?“
    „Von da wo sie ist, gibt es keine Rückkehr.“
    „Okay. Trotzdem. Wir sind eine Familie – Mama, Papa, ich und Ki. Ki. ist zwar nicht hier, aber doch irgendwie bei uns. Können wir nicht immer für sie mitdecken? An ihrem Geburtstag, an den Feiertagen, jedes Mal wenn wir hier an diesem Tisch sitzen? Ich will, dass sie immer bei uns ist und wenn sie uns vielleicht zuschaut, dass sie weiß, das hier ihr Platz ist. Hier bei uns.“
    Wir überlegten nur kurz – stimmten dann aber zu.


    Und seitdem wurde immer in viertes Gedeck aufgelegt,. Wortlos. Gesprochen haben wir – soweit ich mich erinnern kann – nicht mehr darüber. Der leere Platz am Tisch war für uns nicht mehr leer.


    Zwölf Jahre später.
    Wieder ist es Heiligabend. Ich habe den Tannenbaum geschmückt, den Tisch gedeckt – und natürlich auch das vierte Gedeck nicht vergessen.
    Wie könnte ich auch.


    Und ich merke nun meine Lebensjahre. Vieles strengt mich an, der Körper will oftmals anders als ich es will – und ohne meine Ruhepausen geht es einfach nicht. Ich bin schnell erschöpft, die Jahre haben ihre Spuren bei Herz und Lunge hinterlassen.
    Es war also mal wieder Zeit für eine kleine Ruhepause – in meinem Lesesessel.


    Was dann kam, beschäftigt mich seitdem pausenlos. Ich habe noch mit niemand darüber geredet.


    Ich weiß auch auch nicht, ob ich eingeschlafen bin, alles nur geträumt habe – oder ob es Realität war. Mein Verstand sagte klar NEIN. Es konnte nur ein Traum gewesen sein.


    Plötzlich und ohne Vorwarnung stand Ki. im Zimmer und schaute mich an, der ich meinte zu schlafen und zu träumen, sie strahlte ihr unvergleichbares Lächeln – von dem ich gedacht hatte, ich würde es nie mehr sehen.
    Ich weiß, es ist lächerlich so etwas zu sagen, aber dieses Lächeln war irgendwie nicht von dieser Welt.


    „Mein lieber Papa. Ich kann nur ganz kurz bleiben. Ich weiß, dass du sicher sehr viele Fragen hast, die ich dir aber leider nicht beantworten kann. Nur so viel: Die Antworten auf all deine Fragen sind so einfach und liegen direkt vor dir, du musst nur genau hinschauen.
    Ich bin immer bei euch und es war für mich ein unglaubliches Gefühl, dass ihr einen Platz für mich an eurem Tisch freigehalten habt. Ihr könnt nicht ermessen, was das für mich bedeutet. Meine Liebe zu euch und auch zu meinem Bruder wächst täglich und ist so phantastisch schön.Man kann es wirklich nicht beschreiben.
    Ich bin immer bei euch, dichter als ihr es ermessen könnt. Und ich werde immer bei euch sein – und auch wenn ihr mich nicht sehen könnt, es gibt eine Nähe, die größer und wahrhaftiger ist als jedes Sehen, Hören oder Schmecken.“


    Ich schreckte auf.
    Ki. war verschwunden. Welch ein Traum. Oder war es gar kein Traum? Unsinn. Natürlich war es ein Traum. Von der Totenreise gibt es kein Zurück. Für nichts und niemand. Wie gut nur, dass ich mich wenigstens auf meinen Verstand noch verlassen konnte.


    Es war wenige Tage später, so in der Mitte des Januars. Mein Sohn grinste mich schon den ganzen Tag so merkwürdig an.
    Und dann sagte er plötzlich:
    „Ki. war auch bei dir? Stimmt's? Bei Mama und mir war sie auch.“


    Gibt es Engel? Ich für mich habe meine Antwort darauf gefunden und kann nun loslassen und mich auch auf den Weg machen, denn es ist Zeit für mich.

  • 2. Dezember 2016 von Jeanette



    Verirrte Seele


    Er hatte das Gefühl zu schweben. Ganz leicht war ihm zu Mute und sein Körper schien irgendwie in seine Bestandteile zerlegt zu sein. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch so plötzlich wie dieser Zustand begonnen hatte, als Amir den Zünder ausgelöst hatte, endete er.


    Amir hatte wieder Boden unter den Füßen. Sein Körper fühlte sich normal an, wie er zu seinem Erstaunen feststellte. Er öffnete die Augen und weitete sie sogleich überrascht. „Allah“, hauchte der junge Mann und sank auf die Knie.
    „Mein Junge“, antwortete die vor ihm stehende Gestalt sanft. „Du musst nicht vor mir niederknien.“
    Amir betrachtete Allah voller Ehrfurcht. „Du siehst genauso aus wie in meinen Träumen!“
    Die Gestalt lächelte. „Ich sehe für jeden so aus, wie er es sich vorstellt. Du nennst mich Allah, für die Christen bin ich Gott und in anderen Religionen habe ich mehrere Körper.“
    Amir starrte die Gestalt an. „Was redest du da von den Ungläubigen?“
    „Ach, du verirrte Seele. Es gibt keine Ungläubigen. In Liebe, Freundschaft, Güte und Gemeinschaft bin ich zu Hause. Du hast diese Werte leider schon vor Jahren vergessen. Ein Selbstmordanschlag auf dem Weihnachtsmarkt.“ Die Gestalt schüttelte den Kopf.
    In Amirs Augen schimmerten Tränen. „Ich wollte zu dir, ins Paradies. Sag mir: Bin ich endlich am Ziel meiner Träume?“
    Da lächelte die Gestalt. „Ja, das bist du. Hier ist der Ort, an dem alle Verstorbenen glücklich werden. Und wieder auf den richtigen Weg gebracht werden, wenn sie sich in ihrem Leben verirrt haben. Schau, Amir.“ Die Gestalt trat zur Seite.


    Das Gelände hinter dem Schleier war so weitläufig, dass Amir nicht sehen konnte, wo es endete. Blumen blühten in voller Pracht, Obstbäume bogen sich unter dem Gewicht ihrer Früchte, Vögel zwitscherten. Zwei Frauen spielten mit einer Katze, ein Mann biss in eine Mango. Einige badeten in einem See. Amir sah glückliche Menschen jeden Alters und jeder Hautfarbe. Ein Schimmer umgab sie alle, als würden sie von innen heraus leuchten.
    „Und, was sagst du?“, fragte die Gestalt.
    Amir wollte erwidern, es sähe wunderschön aus, doch ihm blieben die Worte im Hals stecken. Sein Blick verfinsterte sich. Er hatte den Tannenbaum gesehen, den einigeMenschen gerade mit Weihnachtsschmuck behängten. „Die Ungläubigen! Was soll das? Das kann nicht das Paradies sein!“, schrie er.
    „Oh doch, Amir“, antwortete die Gestalt gelassen. „Hier darf jeder feiern, was er möchte. Du weißt doch: Liebe, Freundschaft, Güte und Gemeinschaft.“


    Bevor Amir reagieren konnte, hatte die Gestalt ihn schon an die Hand genommen. Er stolperte hinter ihr her durch den Schleier. Sogleich fühlte er sich befreit und beschwingt. Was hatte er gerade sagen wollen?
    „Ab jetzt wirst du nie wieder einen bösen Gedanken haben können.“ Die Gestalt ließ seine Hand los. „Jetzt lauf und genieße dein Leben im Paradies, du verirrte Seele.“
    Amir freute sich über den faszinierenden Schimmer, der seinen Körper umgab.

  • 3. Dezember 2016 von beisswenger



    Vor Weihnachten ist auch im Himmel die Hölle los


    Im Himmelszelt thront Gott. Vor ihm hockt Gabriel und putzt sein Gefieder.


    „Wieso ist der Weihnachtsmann immer noch hier, Gabby?“


    „Vater, wir haben ein Problem!“


    „Wie, wo, was? Wird der Weihnachtsmann entführt? Invasion von der Hölle? Ist es schon wieder so weit …?“


    „Vater …“


    „… verstärkt die Himmelspforten mit jeweils einer Kompanie Dämonenjäger …“


    „Vater …“


    „… was ist? Abmarsch, zack, zack!“


    „Vater, diesmal ist alles anders. Der Weihnachtsmann streikt!“


    „Wie bitte? Im Himmel wird nicht gestreikt! Bring ihn her!“


    „So schaut doch, Vater: Er hat mir ein Büschel ausgerissen! Ich lass mir von dem doch nicht das Federkleid versauen!“


    „Zum Teufel, was soll das? Bist du mein Bote oder was? Hier kann doch nicht jeder machen, was er will!“


    Gabriel zuckt mit den Schultern.


    „Komm schon, Drachentöter, sag was! Du bist doch mein Lieblingsengel!“


    Gabriel schweigt.


    „Herrschaftszeiten, Gabby, ich red mit dir!“


    „Euer Höchstwohlselbstgeboren, schickt doch den Mucki oder den Raffi, ich bin mit meinem Latein am Ende!“, druckst Gabriel.


    Gott linst auf sein Allwissenheits-Tablet.


    „Raffi ist im Labor. Der steckt im Flow. Weißt schon, alchimistische Experimente, den kann ich jetzt nicht stören. Mucki ist der Richtige!“


    Gabriel verdreht die Augen.


    „Mucki, komm mal zum Papa auf’s Schößchen!“, schmettert Gott und wird dabei von Blitz und Donner begleitet.


    Gabriel hält sich die Ohren zu, runzelt die Stirn und flüstert:


    „Vater, ein bisschen mehr Respekt vor den Erzengeln, was sollen die armen Seelen denken?“


    „Wer hat hier Stress, die Engel, die Seelchen oder ich? Wenn die Erdlinge ihre Geschenke nicht kriegen, machen sie Dummheiten und unten ist die Hölle los …“


    „Vater …“


    „Lass mich ausreden, Gabby. Du weißt doch, wie die Menschen sind. Sie sündigen und wie aus dem nichts schnappt der Teufel ihre Seelen und quartiert sie nebenan ein.“


    „Das weiß ich doch, Vater!“


    „Nix weißt du! Die Hölle platzt schon jetzt aus allen Nähten. Luzifer wartet doch nur darauf, die Sünderseelen vor unserer Pforte abzuladen. Da spiel ich nicht mit, kapiert?“


    „Ja, Vater!“


    Inzwischen ist Michael angekommen. Gott spricht:


    „Mucki, kannst du dem Weihnachtsmann mal in den Hintern treten, am besten so fest, dass er augenblicklich den Abflug nach unten antritt oder am besten gleich unten ankommt?“


    „Wieso, ist er noch hier?“


    Gabriel verdreht die Augen. Michael schaut ihn fragend an. Gott donnert:


    „Du gehst sofort zum Weihnachtsmann und machst, was ich dir gesagt habe!“


    Michael verzieht sich. Gabriel zappelt mit seinem Gefieder.


    „Was hast du denn, Gabby?“


    „Ich hab noch mal über Eure grenzenlose Weisheit nachgedacht, Vater, ganz besonders über ‚aus den Nähten platzen‘ und so. Das Problem mit dem Platzmangel fängt ja nicht im Himmel an, sondern schon auf der Erde. In ein paar Jahren ist sie total überbevölkert!“


    „Darüber hab ich mir auch schon Gedanken gemacht. Den Kretins sollte nach 2000 Jahren auch mal was Neues einfallen. Ich muss mal ein ernstes Wort mit dem Franzi reden. Der braucht mal eine ordentliche Erleuchtung, damit ihm ein Licht aufgeht. Die größte Leuchte ist er noch nicht.“


    Gabriel schüttelt den Kopf.


    Gott zürnt: „Was ist? Die sollen da unten endlich die Geburtenkontrolle absegnen, verdammt noch mal!“


    Der Erzengel nickt. Zwei weitere Engel sind von der lautstarken göttlichen Rede angelockt worden, unter ihnen Uriel. Zu ihnen gesellt sich Michael, der von seiner Mission zurückgekehrt ist. Er schnippt mit den Fingern. Der Namenlose hebt die Hand, worauf Michael erstarrt, und dann wendet ER sich wieder Gabriel zu:


    „Gut, die Sache mit der Überbevölkerung klären wir später. Jetzt geht es wohl um den Weihnachtsmann …“, besinnt ER sich und blickt Michael an, der noch außer Atem ist und mit dem Kopf schüttelt:


    „Nichts zu machen. Er hat sich in seiner Kammer eingeschlossen und gesagt, er werde nicht abreisen!“


    Gott blickt ihn durchdringend an und fragt: „Warum will er nicht?“


    „Er sagt, der Klimawandel sorge dafür, dass er nur noch in Alaska mit dem Schlitten rumkutschieren könne. Auf halbe Sachen habe er keinen Bock!“


    „Verstehe, sollen wir Weihnachten streichen und später einen anderen runterschicken?“


    ER wirft einen Blick auf sein Tablet und fährt fort: „… im nächsten Jahr wird der Juli der heißeste Monat auf der Erde. Also schicken wir ein Christkind im Juli runter. Das kann dann in der Badehose Geschenke verteilen. Deal?“


    Gestöhne und Kopfschütteln, keiner sagt was.


    “Uri, mein Götterfunke, du guckst so skeptisch. Passt dir wieder was nicht?“


    „Bei allem Respekt, Vater, den Menschen kann man ja viel erzählen, aber so doof sind sie nicht.“


    „Tatsächlich, Schlaufeder, was könnten wir also tun, um den Weihnachtsmann umzustimmen?“


    „Mit Verlaub Vater, wenn Ihr mich fragt …“, mischt sich Gabriel ein. Gott hebt die Hand und knurrt:


    „Dich fragt keiner, Gabby. Was meinst du, Mucki?“


    „Also, ich kann nachvollziehen, dass der Weihnachtsmann streikt. Guckt Euch doch mal das Elend auf Erden an. Erdogan, Kim, Duterte, Putin … und jetzt Trump. Größere Raubritter als politische Führer gab’s nur im Mittelalter …“


    Der Namenlose unterbricht ihn barsch:


    „Fängst du jetzt auch an mit der Politiker-Schelte? Sollen wir denen da unten vorschreiben, wie sie sich zu organisieren haben?“


    Die Erzengel schütteln die Köpfe und ER poltert weiter:


    „… ein bisschen Mitdenken sollen die schon selbst. Außerdem kriegt jedes Land die Regierung, die es verdient. Sollen sie sich doch an meine Regeln halten, verdammt noch mal. Uri, was meinst du?“


    „Ihr müsst eingreifen, Vater. Ansonsten versemmeln die da unten alles. Schickt Gabby mit dem Schwert runter. Der soll unten mal richtig aufräumen.“


    Gabriel schüttelt den Kopf und sagt stockend:


    „Ne, wir sollten uns da raushalten. Besser, wir erhöhen die Anzahl der Geschenke!“


    Michael mischt sich ein: „Ne, haben wir alles schon versucht. Der reinste Materialismus ist unten ausgebrochen. Die, die was kriegen, haben eh schon zu viel und viele Arme kriegen nix, weil sie nicht an uns glauben.“


    Der Namenlose lässt seinen Blick durch die Runde schweifen und poltert:


    „Zur Hölle mit der Erde!“


    Die Engel zucken zusammen.


    „Echt jetzt, die Erdlinge gehen mir auf den Sack und der Weihnachtsmann erst recht. Trommelt ein paar Engel zusammen, stürmt seine Bude und holt ihn da raus. Setzt ihn unter Drogen und schickt ihn runter. Inzwischen lassen wir uns für nächstes Jahr was Besseres einfallen, kapiert?“


    „Ja, Vater!“ sagen die Erzengel dreistimmig.

  • 4. Dezember 2016 von Batcat



    Das etwas andere Weihnachten...


    Alex, Sven und Tommy wohnten zusammen. Sie verstanden sich zwar ganz gut, verbrachten aber so gut wie nie Zeit miteinander. Eigentlich sahen sie sich auch kaum: Alex arbeitete schon, während Sven noch studierte und abends in einer Kneipe jobbte. Tommy hatte eine Freundin und übernachtete oft bei ihr. Sie führten eine Zweck-WG, Putzfrau inklusive. Damit war schon mal DER Hauptstreitpunkt aller WGs weg. Dieses Jahr wollten sie alle drei Weihnachten wie üblich wieder zuhause mit ihren Familien verbringen.


    Doch am 23.12. fühlte Alex sich morgens gar nicht gut. Ein fieses Grummeln rumorte in seinem Inneren. Na, das konnte er aber gar nicht gebrauchen: das Auto war schon gepackt und er wollte direkt nach der Arbeit die 400 km nach Hause zu seinen Eltern fahren. Er ignorierte das diffuse Unwohlsein und fuhr ins Büro. Nach dem ersten Kaffee ging es ihm auch schon besser... zumindest solange, bis der Kaffee ihm noch einmal Guten Morgen sagen wollte. Dies war nur der Beginn eines höllischen Arbeitstages. Es verging kaum eine halbe Stunde, in der Alex sich nicht mindestens einmal übergeben oder das Örtchen aufsuchen mußte. Einmal spuckte er sogar in den Mülleimer und einmal in die Zimmerpflanze, weil der Brechreiz so plötzlich kam. Nie war ihm etwas so peinlich gewesen. Eines war klar: so kam er nicht zu seinen Eltern. Mit Glück kam er vielleicht noch nach Hause, aber das war es auch schon. Bedauernd sagte er seinen Eltern ab. Mit sorgfältigem Timing - und einem klitzekleinen Zwischenstopp an der Tanke - gelang es ihm, auf dem Heimweg noch Kamillentee, Zwieback und diverse Medikamente sowie eine Familienpackung Toilettenpapier zu erstehen.


    Als er zuhause den Schlüssel in der Türe herumdrehte wunderte er sich noch, daß nicht abgeschlossen war. Denn eigentlich wollten Sven und Tommy auch schon längst bei ihren Familien sein. Doch bereits im Gang hörte er eindeutige Geräusche aus dem Bad. Noch während er überlegte, wer sich hier gerade die Seele aus dem Leib kotzte, drehte sich der Schlüssel wieder im Schloß. Tommy stürmte an ihm vorbei, stoppte kurz am Bad, erkannte die Situation und rannte weiter zum Gäste WC am Ende des Ganges. Auch von dort waren bald eindeutige Geräusche zu hören. Angesichts dessen spürte auch Alex schon wieder, wie saure Galle seine Speiseröhre emporklomm... mehr war nicht mehr in seinem Magen vorhanden. Alex trommelte an die Badezimmertüre "Laß mich rein, es ist ein Notfall!" Doch die Türe war gar nicht abgeschlossen und Alex schaffte es gerade noch bis zur Badewanne... Aus dem Augenwinkel sah er Sven in ähnlicher Haltung über der Toilettenschüssel hängen. Mein Gott - und er hatte gedacht, der Tag könne nicht noch schlimmer werden.


    Am nächsten Morgen, nach einer unsäglichen und schlaflosen Nacht, saßen die Drei käsebleich und völlig abgeschlagen auf der Couch. Der Norovirus, der in der Stadt grassierte hatte auch sie erwischt. Toll. Damit konnten sie sich Weihnachten definitiv ans Bein schmieren. Sie fühlten sich so elend wie nie. So ein Scheiß. Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber es nützte ja nix - sie mußten einfach das Beste aus der Situation machen. Also schlich Alex sich kurz in den Garten ihres Vermieters und säbelte ein paar Tannenzweige ab. Damit und mit dem restlichen Obst dekorierte er den Couchtisch, damit es wenigstens ein bißchen nach Weihnachten aussah. Ums Essen brauchten sie sich keine Gedanken zu machen: alles was sie zu sich nahmen, kam ziemlich schnell auf die eine oder andere Art und Weise wieder zum Vorschein, selbst der Kamillentee.


    Wehmütig skypten sie mit ihren Familien, doch was sie dort sahen, war auch nicht sehr erbaulich: Bei Alex herrschte dicke Luft, weil Onkel Klaus bereits beim Mittagessen schon wieder blau war. Svens Schwester hatte den Eltern ausgerechnet am Weihnachtstag eröffnet, daß sie sich von ihrem Mann getrennt hatte und Tommys Eltern fetzten sich noch immer, weil Tommys Vater mit Lippenstift am Hemdkragen vom Weihnachtsessen zurückgekehrt war.


    Da hatten sie es in ihrer Quarantänestation doch um einiges gemütlicher und vor allem friedlicher, wenn man mal von ihren körperlichen Malaisen absah, die sie immer noch rund um die Uhr in Bewegung hielten.


    Wenigstens hatten sie trotz ihrer beschissenen Lage den Humor nicht verloren und rissen so ziemlich jeden blöden Witz, der ihnen zu ihrer Situation einfiel. Außerdem verhunzten sie jedes ihnen nur bekannte Weihnachtslied und sangen sich gegenseitig Songs wie "Schneeflöckchen, Kotzbröckchen..." vor. Trotz der widrigen Umstände hatten sie richtig Spaß miteinander. Ansonsten hatten sie es sich gemütlich gemacht: Sie hatten sich ein Deckenlager auf der Couch eingerichtet und sahen sich jeden noch so kitschigen Weihnachtsfilm an, der ihnen in der Glotze dargeboten wurde. Außerdem redeten sie miteinander. Etwas, das sie vorher kaum einmal getan hatten. Und siehe da - gemeinsame Interessen kamen zum Vorschein: Fußball! Rockmusik! Geocaching! Spontan beschlossen sie, im neuen Jahr - wenn der Norospuk hoffentlich ein Ende hatte! - gemeinsam zum Bowling zu gehen. Alex kramte seine Playstation hervor und die neuen Kumpels zockten die ganze Nacht durch. Schlafen konnten sie eh nicht besonders gut ... die Rennerei hielt sie nach wie vor auf Trab. Es war zum Kotzen! Die ganzen Feiertage über konnten sie kaum einen Bissen bei sich behalten, obwohl sie inzwischen Hunger hatten wie die Bären. Die Drei fanden so Freude an ihrem Zusammensein, daß sie spontan beschlossen, künftig mindestens einmal die Woche gemeinsam abends zu kochen.


    Kurz vor Silvester war der Spuk endlich vorbei - und aus der Zweckgemeinschaft waren dicke Freunde geworden.
    Oder wie Alex trocken bemerkte: "War der Scheiß doch für was gut!"

  • 5. Dezember 2016 von arter



    Die Attacke des Nikolaus


    Hallo liebe Eulen, ich bin‘s wieder, euer Nikolaus von Myra. Gleich muss ich ja losziehen und meinen Segen verteilen, damit diese ganzen Geschenke, die man sich heute Nacht gegenseitig in die Schuhe schiebt, ihre christliche Weihe erhalten. Aber vorher habe ich wie jedes Jahr noch ein wenig Zeit für eine kleine Geschichte. Letztes Jahr habe ich versprochen, die Kornwundergeschichte aufzuklären. Nun denn, dann hört gut zu:


    Einige Zeit, nachdem wir dem Kaiser das Korn geklaut hatten - ich hatte schon gehofft, ich wäre damit durchgekommen - erschien mein Freund Alexandros in Myra, begleitet von einer grimmig dreinschauenden Garde. Der Arme sah fürchterlich ausgemergelt aus. Ich meine, eine gewisse Zeit der Diät hätte ihm durchaus gutgetan, aber dieser Anblick erschreckte mich bis ins Innerste. Er war auch nicht zu Späßen aufgelegt, nicht einmal die Aussicht auf einen Besuch im Badehaus ließ ihn frohlocken. Ohne jeden Humor trat er vor mich hin, entrollte einen Brief und las: “Nikolaos von Myra, ihr seid befohlen zu erscheinen auf dem Konzil im Orte Nicäa nahe Byzanthia. Reise und Spesen werden euch erstattet. Seine Herrlichkeit, Imperator und demütiger Diener Jesu Christi, Konstantin der Große”.


    Die Art und Weise des Vortrages ließ mich befürchten, dass man sauer auf mich war. Die Tatsache, dass ich meinen Kopf noch auf den Schultern trug, hatte nicht nur etwas Tröstliches, sie verführte mich sogleich zu unangebrachtem Optimismus. “Dann hat mir Konstantin den kleinen Trick verziehen?”, wagte ich Alexandros zu fragen. Dieser spie vor mich auf den Boden, machte auf dem Absatz kehrt und entfernte sich mit seinen Spießgesellen.


    Diese Szene war der Tiefpunkt unserer Freundschaft. Und ich muss zugeben, dass sein Verhalten nicht ganz unangebracht war. Später erfuhr ich, dass er im Kerker hatte schmoren müssen, weil er ertappt worden war, bei dem Versuch mein Korn-”Wunder” zu verschleiern. Ich will ihm nicht verdenken, dass er meinen Namen verriet, am Ende war ich - obwohl Urheber der kleinen Schwindelei - in der komfortableren Position. Aber Konstantin konnte es sich einfach nicht leisten, mich zu bestrafen. Schließlich war ich derjenige, der die Wunder vollbrachte und die Menschen dazu bewegte, sich seiner neuen Kirche anzuschließen.


    Ich wäre nicht Nikolaus, wenn es mir nicht gelungen wäre, mit Alexandros wieder gut Freund zu werden. Sobald ich mit meiner Abordnung befehlsgemäß in Nicäa eingetroffen war, suchte ich ihn auf und redete auf ihn ein, bis wir uns wieder herzlich in den Armen lagen. Ich glaube, wir haben beide bitterlich geweint. Im Vertrauen teilte er mir mit, wie wütend Konstantin auf mich war, und dass es nur eine Chance gäbe, die Gnade des Imperators zurückzugewinnen.


    “Ihr wisst sicher, warum hier auf des Kaisers Kosten hunderte Bischöfe und Würdenträger der Christenheit zusammengekommen sind?”, fragte er mich, nachdem wir unsere Tränen getrocknet hatten.


    “Nun ja, um der Häresie des Arius zu begegnen”. Dieser Emporkömmling wagte es der heiligen Lehre von der Einheitlichkeit Gottes und Christi eine unverschämte Blasphemie entgegenzusetzen.


    “Nicht ganz”, wandte Alexandros ein. “Konstantin ist es egal, nach welcher Lehre gebetet wird. Die werten Herren sollen sich aber gefälligst auf eine Version einigen. Eine sich selbst zersplitternde Religion ist nicht das, was er erwartete, als er sich taufen ließ”.


    “Wenn Jesus in eine Göttlichkeit zweiten Ranges zurückgestuft wird, zerstört das die Grundlage unseres Glaubens!”, ich konnte einfach nicht glauben, dass der Kaiser den Arianismus nicht entschieden bekämpfte.


    “Ich gebe dir einen guten Rat, lieber Nikolaos”, Alexandros blickte mich durchdringend an. “Wenn du diesen Ort nicht in Ketten verlassen willst, dann nutze deinen Einfluss, dass man sich einig wird. So oder so.” Das war es also. Der Kaiser erwartete wieder mal ein Wunder von mir. Die arianische Lehre hatte sich inzwischen ausgebreitet wie ein Krebsgeschwür. Die Mehrheit der anwesenden Bischöfe hatte sich ihr bereits angeschlossen. Vielleicht wäre es in des Kaisers Sinne am einfachsten gewesen, die letzten Verfechter der Einheitslehre zum Einlenken zu bewegen. Ich würde mir aber selbst nicht mehr ins Angesicht blicken können. Lieber würde ich als Märtyrer enden. Die Verfolgung überlebt, aber am inneren Zwist der Christenheit zugrunde gegangen, das klang nach einem wahrhaft heroischen Ende.

    Doch noch war es nicht soweit. Ich erinnerte mich an Theognis, der die Gemeinde in Nicäa hütete, dem Nest, das in diesen Tagen der Nabel der Welt war. Ihn hatte Konstantin zum Moderator erkoren und er war auch die höchste Moralinstanz in der zerstrittenen Konferenz. Leider sympathisierte auch er ganz unverhohlen mit den Thesen des Arius. Theognis war vor einiger Zeit einmal in Myra gewesen, damals hatte er die lykischen Gebiete im Auftrag des Kaisers inspiziert. Die Besuche in unseren berühmt- berüchtigten Bädern hat er wohl sehr genossen. Mir sind auch einige pikante Details seines Aufenthaltes zu Ohren gekommen und er hinterließ immense Schulden, die ich hatte begleichen müssen.


    Seinem dringenden Bedürfnis, die Sache zu klären, wo ich schon mal in seiner Nähe war, standen aber wohl wichtigere Angelegenheiten im Wege. Meine Boten, die ich aussandte, um einen Gesprächstermin zu bekommen kamen unverrichteter Dinge zurück, sodass ich mich selbst bemühen musste. Alexandros hatte es so eingefädelt, dass ich ganz überraschend in eine weinselige Zusammenkunft der beiden hineinplatzte. Theognis gab sich zerknirscht, vorausahnend, dass ich seine Schulden in Myra ansprechen würde. Er war sogleich untröstlich und ich stellte ihm in Aussicht, kein großes Gewese darum zu machen, aber einen kleinen Gefallen könne er mir sicherlich tun.


    Auf die Frage, was das denn sei, schlug ich ihm vor, zu unser aller Nutzen beim Konzil durch seine theologische Kompetenz einen Kompromiss durchzusetzen, der meinen Vorstellungen nicht völlig entgegenstünde.


    Aber wie sollte das gehen? Theognis war verzweifelt: “Das ist Gott, der Vater”, postulierte er, einen vorher fast ausschließlich durch ihn allein geleerten Krug auf den Tisch stoßend. “Und das ist Jesus Christus”, er stellte seinen ebenfalls leeren Becher daneben. “Die beiden gehören zwar irgendwie zusammen, aber wie könnte man behaupten, sie seien eins?”
    Alexandros wechselte mit mir verständnislose Blicke.


    “Na ja”, versuchte ich eine Antwort: “Es gibt ja doch ein verbindendes Element.” Ich rief den Schankwirt herbei, mehr von dem köstlichen Weine herbeizuschaffen.


    Theognis erstarrte in einer Art kreativer Schaffenspause. “Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht…” Irgendwie schien er völlig abwesend zu sein.


    “Ha!”, rief er aus, “Nikolaos, ihr seid ein Genie!” Ich wollte das nicht abstreiten, aber der Grund für diesen Ausbruch interessierte mich schon. “Für sich allein sind beide nichts. Aber der Geist verbindet sie”, er schenkte sich den Becher von dem neu gefüllten Kruge übervoll ein.


    “Welcher Geist?” traute sich Alexandros zu fragen. “Na der Heilige!”, wies Theognis ihn zurecht.


    Der Heilige Geist floss an jenem Abend noch oft vom Vater über den Sohn in unsere Kehlen, um uns zu erleuchten, sodass ich am nächsten Tag ziemlich angeschlagen die Diskussionen im Konzil verfolgte. Theognis schien völlig unbeeinflusst, wie ich bewundernd feststellte. Er hielt eine überzeugende Rede, die beiden Parteien weismachte, sie seien im Recht. Die Verfechter der arianischen Lehre meinten, er betone die übergeordnete Rolle des göttlichen Prinzips über Christus, die anderen sahen sich bestätigt, dass er die Einheitslehre unterstützte. Dies vollbrachte sein Argument, die Schriften sprächen allenthalben vom Heiligen Geist, der die Göttlichkeit Christi manifestiere.


    Im Auditorium herrsche betretenes Schweigen, als Theognis zu einer anschaulichen Erklärung ansetzte. Eine innere Stimme riet mir, ihm nicht zu gestatten, das Gleichnis von Krug, Becher und Wein darzulegen. So stand ich auf und applaudierte in die Stille hinein. “Wohl gesprochen!”, rief ich, dass jeder es höre. Alle waren begeistert von der unverhofften Möglichkeit eines Kompromisses, nach Wochen der Streiterei. Selbst der Kaiser nickte wohlwollend.


    Dann aber erhob sich Arius. Dieser arrogante Schnösel, der den ganzen Unfug angezettelt hatte, stolzierte herum wie ein Pfau und zerpflückte jeden einzelnen Gedanken, den sein Vorredner geäußert hatte - mit Argumenten aus dem Bereich der Logik. Dieser unwissende Häretiker stellte das schwächliche Denken der Menschen über Gottes Plan! Als ich dies mit einem Zwischenruf kundtat, war plötzlich alles mucksmäuschenstill. Er und ich, uns gegenseitig hasserfüllt mit Blicken durchbohrend, standen vor den geistigen Köpfen der Welt. Nur einer konnte gewinnen.


    “Niemand folgt einer Lehre, die er nicht versteht, alter Mann” Mit diesen Worten glaubte er, die Konfrontation für sich entschieden zu haben. Ich suchte verzweifelt nach einer passenden Antwort, doch weder die Götter der Rhetorik noch der Heilige Geist ließen mir keine geeignete Spitze zukommen. Allerdings durfte die freche Anspielung auf meine Lebenstage nicht ungesühnt bleiben. So schritt ich entschlossen auf ihn zu und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige, Gott sei mir gnädig. Er stolperte rückwärts und konnte gerade noch von Wächtern aufgefangen werden, damit er nicht unwürdig auf den Boden fiele.


    Den anschließenden Tumult kann ich nicht mehr aus dem Gedächtnis rekapitulieren. Ich sehe vor meinem geistigen Auge noch ein Kopfschütteln des Kaisers und spüre feste Griffe unter meinen Armen, man trug mich fort, so sehr ich auch zeterte und mit den Beinen strampelte.


    Der Rest ist schnell erzählt. Konstantin ließ mich für einige Wochen im Kerker schmoren, ohne dass ich auch nur eine Silbe von dem weiteren Geschehen auf dem Konzil erfuhr.
    Als ich dann endlich irgendwann mit einem Tritt auf die Straße befördert wurde, empfing mich Alexandros, ein Grinsen im Gesicht, das zwischen Genugtuung und Schadenfreude pendelte. Er begleitete mich mit ein paar seiner Getreuen auf dem Heimweg nach Myra.


    Eine ganze Zeit lang genoss er meine Unwissenheit, aber schließlich klärte er mich auf: Arius war exkommuniziert worden und man hatte ihn in die Wüste geschickt. Die Einheitslehre war zum Dogma erklärt worden. Über die Rolle des Heiligen Geistes gab es allerdings kein abschließendes Urteil. Das hatte man auf spätere Zwistigkeiten verschoben.


    Fast alle hatten das Dokument unterschrieben, nur mein Signum fehlte. Aus bekannten Gründen war ich bei der Unterzeichnung verhindert gewesen und Konstantin unterließ es wohl absichtlich, dies nachholen zu lassen. So wollte er mir zu verstehen geben, dass seine Gnade von sehr provisorischer Natur war. Somit besitzt die heutige Welt leider keine überlieferte Handschriftprobe von mir, so sehr man später auch danach suchte. Nur von dieser dummen Handgreiflichkeit existiert noch Zeugnis.


    Ja liebe Eulen, das war’s wieder mal. Im nächsten Jahr werde ich euch bestimmt nicht wieder so sehr mit Kirchenpolitik langweilen. Versprochen.


    Euch allen eine gesegnete Adventszeit und ein schönes Weihnachtsfest.
    Euer Nikolaus.

  • 6. Dezember 2016 von Marlowe



    Nikolaus bei Familie Hartmann


    Nikolaus, der tatsächlich Nikolaus Nepomuk hieß, was für diese Geschichte aber vollkommen unerheblich ist, war seit dem Nachmittag fleißig unterwegs und besuchte Familien mit Kindern, die ihn mehr oder weniger ängstlich erwarteten.
    Nikolaus machte das gerne, Jahr für Jahr, immer wieder war es auch für ihn aufregend und spannend zugleich, denn jedes Mal war es irgendwie anders.
    Mal tadelte er, mal lobte er, aber zum Schluss gab es immer Geschenke für die Kinder und für ihn einen Briefumschlag mit einer „Barspende“ darin. Er war beliebt bei den Familien, kam sogar mit den schwierigsten Kindern gut zurecht und das lag zum einen an seiner sanften, beruhigenden Stimme zum anderen daran, dass er niemals die Rute benutzte, obwohl er sie natürlich immer dabei hatte. Er nahm auch keinen Krampus mit, er bevorzugte es, in Begleitung eines Engels unterwegs zu sein.
    Doch nun waren sie spät dran. Also eilten er und Engelchen, wie er sie nannte, die aber eigentlich Rebecca hieß, nach diesem bisher anstrengenden Tag zum letzten Termin des Tages. Eine Familie Hartmann hatte ihn am Vormittag noch angerufen und fast flehend darum gebettelt, dass er es doch unbedingt noch möglich machen sollte, gerne am Ende des Tages und auch gerne etwas später. Denn es war, so hatte die Anruferin gesagt, eine große Familie, für die er Zeit brauchte. Sechs Kinder, eine etwas schwerhörige Großmutter und vier Erwachsene. Er würde auch großzügig bezahlt werden und das gab dann den Ausschlag.


    Etwas außer Atem kamen sie vor dem Haus, einem sechsstöckigen Mietshaus, endlich an, betraten den Vorraum und eilten zum Aufzug. Dort hing ein Schild mit der Aufschrift „Außer Betrieb“.
    „So ein Mist“, schimpfte Nikolaus, „zu Fuß in den vierten Stock, das auch noch!“
    „Ich bin ein Engel,“ lachte Engelchen, „ich schwebe einfach hinauf und melde Dich schon mal an,“ und leichtfüßig war sie schon vor ihm auf dem ersten Treppenabsatz und sauste hinauf.


    Er stapfte maulend und jammernd hinterher, den langen roten Mantel hochgerafft, stolpern war jetzt das letzte, was er wollte. Im zweiten Stock stand eine Frau im Bademantel, schaute ihn mitleidig an und sagte: „Na, ist der Lift wieder mal außer Betrieb? Daran ist bestimmt die Meier schuld, ich weiß nicht wie sie das macht, aber immer will sie schauen, was für Leute nach oben gehen.“ Nikolaus nickte ihr nur zu, was interessierte ihn schon der Hausklatsch?


    Endlich war er im vierten Stock, Engelchen stand schon im Flur der Hartmann-Wohnung, half ihm die bereitgelegten Geschenke in seinen Jutesack zu packen, legte ihm einen vorbereiteten Text in sein Goldenes Buch und klingelte dann mit einem Glöckchen. Sie ging, nein, sie schwebte voran, öffnete ihm die Tür und er betrat ein großes Wohnzimmer, teuer eingerichtet und da stand und saß die Familie Hartmann. Die Großmutter in einem bequemen Sessel in der Mitte, links und rechts stehend je ein Ehepaar. Die Brüder Hartmann mit ihren Ehefrauen und vor diesen wiederum saßen auf dem Boden je drei Kinder.


    Ein Bild des Friedens, eine Familienidylle, wie sie sich wohl jeder wünscht. Ja, Nikolaus wusste nun wieder, warum er das so gerne machte.


    Er hielt seine Standardbegrüßungsrede, dann öffnete er sein Goldenes Buch und stutzte kurz, als er die ersten Sätze kurz überflog. Da stand doch tatsächlich als erstes: Benutzen Sie ruhig bei allen die Rute, die haben es verdient, auch die Oma. Rot unterstrichen waren diese Worte auch noch. Er schüttelte den Kopf, das konnte ja heiter werden. Nach einem kurzen Räuspern begann er: „So so, hier steht, ihr seid ja eine schlimme Rasselbande alle miteinander. Das gefällt mir aber gar nicht. Ihr gehorcht niemals sofort, gebt Wiederworte, der Klaus beißt gerne und will nicht damit aufhören. Die Elfie wirft dauernd mit ihren Spielsachen herum, der Bernd tritt den anderen gerne auf die Füße. Also wirklich Kinder, das muss sich aber ändern.“ Er drohte kurz mit seiner Rute. Die Kinder schauten ihn nur mit großen Augen an. Er fuhr fort: „Kerstin, du haust alles, was du nicht magst, mit deinem Spielhammer kaputt. So etwas macht man doch nicht! Aber weiter mit dem Torsten. Du schubst die anderen gerne so fest, dass sie umfallen und dann setzt du dich auf sie drauf und deine Schwester Tamara hilft dir auch noch dabei und zieht dann an den Haaren. Also, ich muss schon sagen, das höre ich aber wirklich nicht gerne.“ Er stand auf und drohte wieder mit der Rute. „Und zu guter Letzt muss ich auch die Oma Berta ein wenig schimpfen, denn sie furzt wohl heftig und flucht gerne laut .“ Weiter kam er nicht, denn die Oma schimpfte sofort los: „Ja, Himmel, Ar...!“ „Mutter!“ rief der ältere Hartmann sofort, worauf die Oma verstummte.
    Nikolaus war gar nicht wohl in seiner Haut. „Also“, fuhr er fort, „eigentlich müsste ich euch allen ja jetzt die Rute zu spüren geben, denn etwas Gutes steht nicht in meinem Buch. Aber für dieses Mal will ich darauf noch verzichten. Habt also keine Angst, aber nächstes Jahr möchte ich dafür nur Gutes von euch allen in meinem Buch lesen!“
    Die Kinder standen mit strahlenden Gesichtern auf, als sie sahen, dass Engelchen aus dem Sack die Geschenke herausnahm, sie dem Nikolaus gab, der sie dann an die Kinder weiterreichte. Innerlich seufzte er dabei. Er hatte das für eine idyllische Familie gehalten. So konnte man sich irren.
    Er strich dem Klaus über die Haare, als alle Geschenke verteilt waren. „ Na Klaus, was willst du denn mal werden,“ fragte er? „Nussknacker,“ antwortete der sofort und ehe Nikolaus wusste, wie ihm geschah, hatte der Kleine seine Hand gepackt und verbiss sich in seinen Daumen. Er schrie vor Schreck und Schmerz auf. Doch da rief Bernd: „Er haut uns nicht, er haut uns nicht!“ Und schon stand er vor Nikolaus und trat ihm so heftig auf den rechten großen Zeh, dass er meinte, es knacken zu hören.
    Der Daumen und der Zeh schmerzten, er tanzte, das Gleichgewicht haltend auf dem linken Fuß herum. Klaus hing immer noch festgebissen an seiner Hand, da sah er die kleine Kerstin, mit einem unschuldigen Lächeln im Gesicht und einem Hammer in der Hand, wie sie ausholte und ihm auf den linken Fuß schlug. Gleichzeitig flog eine Puppe in sein Gesicht, Elfie war treffsicher und schon kam Torsten heran, schubste ihn voller Begeisterung und Nikolaus torkelte Richtung Oma Berta und fiel ihr direkt in den Schoß. Ein donnernder Furz löste sich befreiend von der Oma, die schrie lauthals: „Ja, Himmel, Arsch und Zwirn nochmal!“ Die Erwachsenen riefen wie aus einem Mund: „Mutter“ und dann „Kinder, aufhören!“ Dabei blieben sie aber wie erstarrt stehen und rührten sich nicht vom Fleck.
    Engelchen versuchte, Tamara von Nikolaus' echtem langen Bart wegzubekommen, an dem sie zerrte, während ihn schweflige, stinkende Dämpfe umhüllten, Torsten ihn fest auf die Oma drückte und er wieder und wieder Kerstins Hammer auf dem linken Fuß spürte.
    Gerade als er meinte, ohnmächtig zu werden, hatten die endlich entstarrten Erwachsenen es mit Engelchen zusammen geschafft, die Kinder von ihm weg zu bekommen.
    Engelchen hielt ihm beide Hände hin. „Komm, steh auf,“ sagte sie und half ihm dabei. „Ich will hier raus,“ jammerte er nur. Engelchen stützte ihn anfangs, aber er war zu stolz und schaffte es irgendwie, mehr auf den Fersen gehend, auch alleine. Der ältere Hartmann kam hinterher, holte ein paar Hunderter aus der Tasche und legte sie zu den anderen Scheinen in dem Briefumschlag. „Als Schmerzensgeld,“ sagte er, „und tut mir wirklich leid, nächstes Jahr werden sie braver sein“.

    Es würde kein nächstes Jahr geben, schwor sich Nikolaus, nickte aber nur und wankte mit Engelchen hinaus. „Oh, mein Gott,“ stöhnte er, aber dann mit einem Blick auf den Aufzug „wenigstens der Lift geht wieder.“ Die Kabine stand wie gerufen im vierten Stock. Er wankte hinein und drückte auf Erdgeschoss. Engelchen hatte sich noch nach dem Jutesack gebückt, aber da ging die Tür auch schon zu und der Lift fuhr abwärts. „Okay“, dachte er, „dann schwebt sie halt auch wieder runter, Engelchen ist ja noch jung.“


    Das Licht in der Kabine ging im gleichen Augenblick aus, der Lift hielt mit einem Ruck genau zwischen dem zweiten und ersten Stock und er wusste sofort: Stromausfall!


    Mit Tränen in den Augen ließ er sich an der Kabinenwand heruntergleiten. Das ist eine Nacht des Schreckens schoss ihm durch den Kopf. Er tastete nach seinen Zigaretten und dem Feuerzeug, zog dann gierig an dem Nikotinstengel und genoss die einsetzende Entspannung. Er zog wieder und blies den Rauch aus und zog wieder und wieder. Er wurde ruhiger. Dann ging der Rauchmelder los, ein schreckliches, nerviges Geräusch und aus weiter Entfernung hörte er bald darauf die Sirenen der Feuerwehr, Rufe und Getrampel, genau da ging der Strom wieder an, die Sprenkleranlage funktionierte auch hervorragend und als der Lift im Erdgeschoss ankam und die Türen sich öffneten, lag da ein nasser Nikolaus mit einem irren Blick in den Augen, der sagte: „Nie wieder betrete ich dieses Haus. Hütet Euch vor den Hartmanns und habt ihr einen Engel gesehen?“ Dann rappelte er sich auf. Die Feuerwehrmänner meinten es gut, aber die Nacht des Schreckens war erst vorbei, nachdem er die Ärzte mit seinem Bericht über diesen Termin des Grauens überzeugt hatte, dass mit ihm wieder alles in Ordnung sei.

  • 7. Dezember 2016 von belladonna



    Vertauschte Weihnachten


    „Oh du fröhliche!“, seufzte der Weihnachtsmann und blickte missmutig in den Spiegel. Von Jahr zu Jahr wurde er deprimierter, wenn es auf Weihnachten zuging, und das Aufstehen fiel ihm von Morgen zu Morgen schwerer. Dabei war ihm sein Beruf früher eine wirkliche Berufung gewesen, doch in den letzten Jahren hatte er zunehmend Schwierigkeiten, überhaupt noch etwas Positives an seinem Job zu sehen.


    Dass sein ehemals prachtvolles Gewand einer Werbekampagne zum Opfer gefallen war und die überwiegende Mehrheit der Menschen mittlerweile von ihm erwartete, in einem rotweißen Kostüm aufzutreten, als sei er der Generalvertreter irgendeiner Sprudelbrause, konnte er gerade noch verschmerzen; das hatte seinen Freund, den Bischof Nikolaus, wesentlich härter getroffen ebenso wie Knecht Rupprecht, den Gehilfen des Bischofs, für den sich kaum noch jemand interessierte. Soweit der Weihnachtsmann wusste, hatte der alte Krampus sich inzwischen zurückgezogen und, um seine karge Rente aufzubessern, einen Online-Shop aufgemacht, wo er seine Ruten als Sexspielzeug verkaufte. Man munkelte, dass er sich seit „Shadesof Grey“ vor Anfragen kaum noch retten konnte und das Geschäft seines Lebens machte, aber etwas Genaues wusste keiner. Es war wirklich deprimierend: kaum jemand glaubte noch an seine Kollegen und ihn, und mehr als einmal war es ihm passiert, dass die Empfänger der Geschenke ihn für den verkleideten Zusteller eines Paketdienstes hielten und fragten, wo sie denn unterschreiben sollten.


    Der Weihnachtsmann seufzte erneut. Nicht nur, dass er sich mit der Kommerzialisierung seiner Person abfinden musste, sein dicker Pelzmantel und die Mütze waren ihm oft viel zu warm! Infolge des Klimawandels herrschten um Weihnachten in vielen Gegenden der Welt eher frühlingshafte Temperaturen und es fiel kaum noch Schnee – kein Wetter für einen dick vermummten Weihnachtsmann! Überdies war ein Reisen auf Kufen kaum noch möglich und er musste beinahe überall die Räder unter seinen Schlitten montieren. Auch die Rentiere in ihrem dicken Winterfell litten unter der zunehmenden Erwärmung und er musste auf seiner Fahrt wesentlich mehr Pausen machen, damit die Tiere sich abkühlen und etwas trinken konnten. Was das wiederum für sein Überstundenkonto bedeutete, darüber dachte er lieber gar nicht erst nach.


    „Am liebsten würde ich mit dem Osterhasen tauschen!“, dachte der Weihnachtsmann und rührte missmutig in seinem Tee. „An Ostern ist es oft noch so kalt, dass sich der Osterhase Frostbeulen an den Zehen holt – da wäre meine Kleidung doch viel passender! Außerdem fände ich es auch mal lustig, Geschenke zu verstecken, statt sie einfach nur unter den Weihnachtsbaum zu legen.“
    Der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf und beim nächsten Skatabend mit dem Osterhasen und dem Christkind brachte er das Thema zur Sprache. „Wie, du willst mit mir tauschen?“, fragte der Osterhase verblüfft. „Wie soll das denn funktionieren? Ich passe weder in deine Klamotten noch kann ich einen Schlitten lenken. Und wo soll ich so schnell die ganzen Eier hernehmen? Die Hühner werden nicht begeistert sein, wenn sie so kurzfristig noch Sonderschichten fahren sollen!“ „Und was wird mit mir?“, meldete sich das Christkind zu Wort. „Soll ich auch ausgetauscht werden? Ich bin mit meinem Job eigentlich ganz zufrieden!“ „Du darfst ja auch ein dünnes Kleid anziehen und wirst nicht als Werbefigur für Koffeinbrause missbraucht!“, konterte der Weihnachtsmann. „Und so viele Eier brauchen wir ja gar nicht, es gibt genug Weihnachtssüßigkeiten zu verteilen.“ Alle versanken in nachdenkliches Schweigen.


    „Also“, meinte der Weihnachtsmann nach einer Weile, „es ist doch eigentlich ganz einfach, denn im Grunde machen wir ja fast die gleiche Arbeit. Dass du keinen Schlitten lenken kannst, ist auch kein Drama; meine Rentiere sind ein eingespieltes Team und für die Route programmiere ich dir mein Navi. Da kann echt nichts schiefgehen! Außerdem fährt das Christkind mit, das kennt sich auch aus.“ „Hmm“, machte der Osterhase, immer noch skeptisch. „Und schau mal“, redete der Weihnachtsmann weiter, „in manchen Wohnzimmer warten sogar Kekse und Milch auf dich, das kriegst du an Ostern nicht!“ „Ich bin Veganer!“, knurrte der Hase. „Ach komm schon, sei doch nicht so! Schau mal, was meinst du, was die Menschen für Gesichter machen werden, wenn sie ihre Weihnachtsgeschenke plötzlich suchen müssen? Das wäre doch echt witzig!“ „Au ja, das kann ich mir auch lustig vorstellen!“, meinte das Christkind, „und außerdem trinke ich ganz gerne Milch.“ Der Osterhase gab sich geschlagen: „Na gut, aber die Hühner müssen wir trotzdem fragen!“ „Kein Problem!“, entgegnete der Weihnachtsmann, zückte sein Smartphone und schrieb eine WhatsApp in die Hühnergruppe. Sofort kam jede Menge aufgeregtes Gegacker zurück, die Hühner fanden die Idee klasse. Ihnen wäre vor Weihnachten sowieso immer langweilig und es wäre sicher nett, statt der ewigen Strohsterne zur Abwechslung mal Weihnachtsnester aus Stroh zu basteln. Wie viele Eier sie besteuern könnten, müssten sie noch sehen, sie würden ihr Möglichstes tun. „An den Eiern soll es nicht scheitern!“, sagte der Weihnachtsmann zufrieden, „Es reicht, wenn die Menschen sich Weihnachtsstress machen!“


    Die nächsten Tage waren von hektischer Betriebsamkeit geprägt. Die Hühner legten Eier im Akkord und der Osterhase, der Weihnachtsmann und das Christkind bemalten sie mit weihnachtlichen Motiven. Außerdem musste der Osterhase lernen, den Rentier-Schlitten zu lenken, den der Weihnachtsmann vorsichtshalber gleich mit Rädern ausgestattet und mit einem zusätzlichen ABS- und Stabilisatorensystem ausgerüstet hatte.


    Dann kam der Heilige Abend. Das Wetter war wie erwartet frühlingshaft mild mit Temperaturen im zweistelligen Bereich und Sonnenschein. Als der Weihnachtsmann dem Osterhasen die Tür öffnete, traf ihn beinahe der Schlag: der Osterhase hatte sich ein „Weihnachtsoutfit“ zugelegt, bestehend aus einem roten Anzug mit weißem Kunstpelzbesatz an den Ärmelaufschlägen und einer roten Kappe, ebenfalls mit weißem Pelzbesatz auf dem Schirm. Dazu trug er eine verspiegelte Pilotenbrille. Neben ihm stand das Christkind, das sich als Weihnachtsküken verkleidet hatte. „Oh du fröhliche…“, murmelte der Weihnachtsmann, „Wenn das mal gut geht!“ Die drei beluden den Schlitten mit all den Geschenken und Weihnachtsnestern für die Kinder sowie einem großen Proviantrucksack für den Osterhasen und das Christkind. Der Weihnachtsmann schirrte die Rentiere an, sprach ihnen noch einmal gut zu und dann ging es los. „Alle Jahre wieder kommt der Weihnachtshas‘…“, sangen der Osterhase und das Christkind, während der Schlitten sich in den Himmel erhob und langsam immer kleiner wurde, ehe er am Horizont verschwand.


    „Na denn mal fröhliche Weihnachten!“, brummte der Weihnachtsmann und ging ins Haus zurück. Er kochte sich, den warmen Temperaturen zum Trotz, einen großen Pott Tee mit Rum und machte es sich vor dem Kamin gemütlich, um auf die Rückkehr der anderen zu warten. Kurz darauf schnarchte er in seinem Ohrensessel friedlich vor sich bin, bis er Stunden später von einem Geräusch geweckt wurde. Er konnte es erst nicht zuordnen, aber als er vor die Haustür trat, sah er seinen Schlitten, der langsam in Schlangenlinien durch den Abendhimmel flog, während der Osterhase sturzbesoffen „Am Weihnachtsbaume die Eier hängen…“ und „Fips der kleine Weihnachtshase“ grölte. Holpernd setzte der Schlitten auf und der Weihnachtsmann nahm seine erschöpften Rentiere in Empfang. Er brachte sie gleich in den Stall, wo er ihnen eine Extraportion Heu und Mohrrüben vorsetzte, damit sie sich von den Strapazen erholen konnten. „Allesch paletti!“, lallte der Osterhase, „und fröhlischeWoschtern!“ Er wankte ins Haus, ließ sich aufs Sofa fallen und schlief sofort ein. Das Christkind, das anders als der Osterhase unterwegs nur Milch getrunken hatte, saß noch lange mit dem Weihnachtsmann in der Küche und erzählte ihm von der aufregenden Weihnachtsnacht: Wie sie die Geschenke versteckt hatten, wie der Osterhase einmal beinahe mit einem besonders sperrigen Paket im Kamin steckengeblieben war und wie der Hase in England und Schottland viele Haushalte am liebsten zweimal beschert hätte, weil ihm der Whiskey so gut geschmeckt hatte, den ihm die Menschen zusätzlich zu Milch und Keksen hingestellt hatten. „Darum ist er auch so blau!“, lachte das Christkind, „Der ist einfach nichts gewohnt! Du hättest mal die Lieder hören sollen, die er unterwegs gesungen hat – die Rentiere hätten sich beinahe geweigert, ihn wieder mit nach Hause zu nehmen!“ „Na, jetzt haben wir es ja geschafft!“, antwortete der Weihnachtsmann, „und ich bin mir sicher, ihr habt das ganz super gemacht!“ „Ja, das denke ich auch!“, meinte das Christkind zufrieden, „auf jeden Fall war es ein großer Spaß!“ Es steckte sich noch ein letztes Weihnachtsschokoladenei in den Mund und verschwand hundemüde ins Gästezimmer. Der Weihnachtsmann räumte noch ein bisschen auf, löschte das Licht und dann ging auch er ins Bett.


    Die Menschen jedoch wunderten sich sehr, als sie zur Bescherung in ihre Wohnzimmer kamen und feststellten, dass sie ihre Geschenke erst einmal suchen mussten, ehe sie sie auspacken konnten. Dafür lagen in den Weihnachtskrippen kleine Leckereien versteckt und in den Zweigen der Christbäume hingen Nester mit weihnachtlich bemalten Eiern. „Verkehrte Welt!“, murmelten einige und fragten sich, ob das wieder irgendein neuer Marketing-Gag sei. Die Kinder jedoch freuten sich, denn für sie war es diesmal einfach eine ganz besondere Bescherung – eben wie Weihnachten und Ostern zusammen!

  • 8. Dezember 2016 von Suzann


    Die Frau des Weihnachtsmanns


    Rosalinde steht zitternd vor dem bodenlangen Sprossenfenster im Schlafzimmer ihres Blockhauses und genießt die Aussicht. Draußen, über dem Sattel der schneebedeckten Hügel, zeigen sich die ersten Boten des neuen Tages. Die niedrigen Berge sind spärlich mit alten Nadelbäumen bewachsen und zwischen den dunklen Silhouetten blitzen orange Strahlen hervor. Am Himmel haben Lavendeltöne das Schwarz der Nacht abgelöst. Obwohl es sehr früh am Morgen ist, hört sie wie Sandro draußen schon mit den Rentieren zugange ist. Er streift ihnen gerade das Geschirr mit den vielen kleinen Glöckchen über. Melodiöses Klingeln ertönt, leises Schnauben und das Knarzen schwerer Stiefel im Schnee. Schließlich reißt sie ihren Blick von dem Farbenspiel los, steigt mit einem Seufzer in Hose und Schuhe, zieht den cremefarbenen Zopfpulli über ihre grau-blonden Locken und geht die breite Holztreppe hinunter zur Küche. Sandro hat im gemauerten, offenen Kamin der Eingangshalle ein Feuer angeschürt und die Birkenscheite knacken vor sich hin. Summend macht sich Rosalinde daran seine Lieblingsbrotzeit vorzubereiten, Käse mit Gewürzgurken und Rooibos-Tee mit Sanddornbeeren. Nebenbei fährt sie den Laptop hoch, der neben ihr auf der Anrichte steht und checkt die Mails. Sie überfliegt die Liste der Posteingänge ihrer Emailadresse herzenswuensche@weihnachten.org, hauptsächlich Werbung und eine private Nachricht von Jacob Moore: „Liebe Frau Weihnachtsmann, …“.


    „Ich bin abflugbereit“, unterbricht Sandros Ruf an der geöffneten Haustüre ihre Konzentration. „Mach dir eine ruhige Zeit bis ich wiederkomme, Rosie. Das hast du dir nach der vielen Arbeit der vergangenen Wochen verdient.“ Rosalinde schließt die Augen, um das angenehme Timbre im weichen Bariton ihres Mannes zu genießen. Seine Stimme klingt für sie so verführerisch, wie sich zart schmelzende Nougatschokolade auf der Zunge anfühlt. Sandro Claas muss den Kopf einziehen, als er durch die Küchentüre tritt. Für sein Alter ist er gut in Form, aber wegen des langen, dick gefütterten Mantels und der schweren Stiefel wirkt er ein wenig plump. Dunkelrote Ärmel schließen sich um sie und ein kaltes, bärtiges Gesicht legt sich auf ihr Haar. „Noch irgendwelche Nachzügler?“, erkundigt sich Sandro. Sie löst sich aus seiner Umarmung, reicht ihm Thermoskanne und Brötchen und schüttelt dabei verneinend den Kopf. „Lass die Finger von den Nussplätzchen“, mahnt sie ihn auf dem Weg nach draußen. Sie erinnert sich schmunzelnd an seine allergische Reaktion vorletztes Weihnachten. Wie er ausgesehen hatte, so rot und aufgeschwollen. Als sich der große Schlitten langsam in Bewegung setzt, kann sie sich nicht verkneifen noch eine letzte stichelnde Bemerkung hinter ihm herzurufen. „Vergiss Neuseeland nicht wieder!“ Ob er sie noch gehört oder absichtlich überhört hat, bekommt sie nicht mehr mit. Sie hat sich bereits abgewendet und die Türe hinter sich geschlossen, im Gedanken bei der Mail.


    Liebe Frau Weihnachtsmann,
    mein Name ist Jacob und ich bin neun Jahre alt. Ich habe eine Schwester, die Anna heißt. Sie ist groß und oft sauer auf mich.
    Digger, mein Hund, liebt es Dinge zu zerkauen. Deswegen brauche ich deine Hilfe. Digger hat sich die Lieblingsschuhe meiner Schwester geschnappt und kaputt gemacht.
    Ich möchte sie trösten und brauche etwas für sie. Ich hoffe, dass du das für mich besorgen kannst, damit sie nicht mehr traurig ist, denn ich hab sie sehr lieb. Dein Jacob
    PS: Anna hat Größe 4 1/2


    Was für ein lieber Bruder, denkt Rosalinde. Mal sehen, ob sich da nicht noch etwas machen lässt. An der Garderobe schnappt sie sich ihr gefüttertes Cape, wirft es sich über die Schultern und öffnet dann die mannshohe Spiegeltüre, indem sie an einem gusseisernen Kleiderhaken zieht. Dahinter ist ein Aufzug versteckt, mit dem sie Zugang zu den unterirdischen Etagen hat. Sandro ist eher altmodisch gepolt und pflegt die Traditionen auf althergebrachte Weise, aber Rosalinde hat kein Problem damit, sich mit moderner Technik das Leben zu erleichtern. Im Lager im zweiten Untergeschoss tippt sie auf dem Touchscreen an der Wand den Nummerncode des Wunschartikels ein. Bingo, sie hat noch ein geeignetes Paar vorrätig. Das vollautomatische Logistiksystem schickt einen Drahtkorb los und binnen Minuten kann Rosalinde die Schuhschachtel in Empfang nehmen. Eine viertel Stunde später steht sie im unterirdischen Hangar vor der roten Bell. Obwohl sie vor über sieben Jahren den Flugschein gemacht hat, ist Sandro noch kein einziges Mal mit ihr geflogen. Er hat einfach kein Vertrauen in die moderne Technik. Sie klettert hinein, gibt die Anweisung, die großen Tore über ihr zu öffnen und schon ist sie auf dem Weg. Die Rotoren des kleinen Helikopters drehen sich schnell und gleichmäßig, während sie Jacobs Adresse ins Navi-System eingibt: Vereinigtes Königreich, Tamworth, 11 Comberford Rd.


    Beim Anblick der Schornsteine auf den Dächern der ockerfarbenen Reihenhäuschen im nördlichen Teil des beschaulichen Städtchens in der Nähe von Birmingham muss sie schmunzeln. Als würde sie sich ihre Kleidung in einem rußigen Kaminrohr ruinieren. Leise öffnet sie mit ihrem Universalschlüssel die Haustür der Nummer elf und sucht das Wohnzimmer. Lichterkerzen schimmern am liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum, auf dem Kaminbord steht ein Glas Punsch und ein Teller Plätzchen. Sie kostet vorsichtig eines davon, mhhh lecker, Ginger Biscuits. Hinter ihr regt sich auf der Couch eine Gestalt und grollt leise. Mit einem Finger auf den Lippen und strengem Blick dreht sich Rosalinde um. „Pssssst, Digger!“ Die Promenadenmischung verstummt verdutzt und zieht den Schwanz zwischen die Hinterbeine. Sie legt ihr Päckchen unter den geschmückten Baum zu den anderen Geschenken und schnappt sich die Plätzchen als Verpflegung für den Heimflug. Den wohlduftenden Punsch muss sie leider stehen lassen, denn Alkohol und fliegen verträgt sich nun mal nicht.


    - - -


    Am Weihnachtsmorgen sitzen Jacob und Anna auf der schmalen Treppe, die ins obere Stockwerk führt und warten ungeduldig darauf, dass sie ins Wohnzimmer gerufen werden. Jacobs Mutter mustert stirnrunzelnd ein cremefarbenes Päckchen mit breiter, roter Schleife und der Vater hebt ratlos den leeren Plätzchenteller in die Höhe. Dann halten es die Kinder nicht mehr aus und stürmen ins Wohnzimmer. Als erstes greift Anna sich das Geschenk mit der auffälligen Schleife. Mühsam entziffert sie die Handschrift auf dem Anhänger: „Liebe Anna, Jacob wollte, dass du das bekommst. Merry Christmas!“ Mit Fragen mag sich Anna jetzt nicht aufhalten, gespannt öffnet sie den Karton und erblickt ein nagelneues Paar ihrer verloren geglaubten Schuhe. Freudentränen springen ihr in die Augen. Sie beugt sich zu Jacob und zieht ihn fest in ihre Arme. Sie liebt ihren kleinen Bruder. Auch wenn er manchmal tierisch nervt, würde sie nicht ohne ihn sein wollen.


    - - -


    Gerührt liest Rosalinde am darauffolgenden Tag, mit einer duftenden Tasse Kakao in den Händen, die Dankesmail von Jacob. Er erzählt ihr von dem glücklichen Weihnachtstag, den er mit seiner Familie verbracht hat und dass er mit seiner Schwester Schneeengel in das pulvrige Weiß gewedelt hat. Da hört sie Glöckchen vor dem Haus. Sandro ist zurück. Sie klappt zufrieden den Laptop zu und lehnt sich in die Kissen der Couch zurück.
    „Wie war´s, Rosie?“
    „Ach, sehr ruhig, ohne dich. Ich hab gelesen.“ Rosalinde zeigt auf ihre aktuelle Lektüre „FiftyShadesofRed“.
    Erschöpft lässt sich Sandro dicht neben sie auf die Couch plumpsen, entführt die Tasse aus ihrer Hand und nimmt einen großen Schluck. „Frohe Weihnachten, mein Herz.“
    Lächelnd reicht ihm Rosalinde ein kleines Päckchen. „Wie du es nur immer schaffst, mich zu überraschen“, brummt er verlegen. Er hat es im Weihnachtsrummel wieder einmal nicht geschafft, sich ein Geschenk für sie zu überlegen. Rosalinde lächelt milde und gibt ihm einen Kuss auf die kalte Nase.


    „Wie langweilig wäre das Leben, wenn du alle meine kleinen Geheimnisse kennen würdest, Sandro Claas.“

  • 9. Dezember 2016 von Sonne79


    Das kleine Adventlicht


    Es war so einsam. So einsam. Viele Monate war es her, seit die Mieter aus der Wohnung gezogen waren. Es vermisste sie. Sie waren immer so gut zu ihm. Jeden Abend wenn die Dunkelheit hereinbrach zündeten sie es an. Es leuchtete am kleinen Fenster der Dachgeschosswohnung. Es genoss den Anblick der Menschen, die durch die Gassen gingen und von ganz unten zu ihm hochblickten.


    Es war eine dicke violette Kerze. Kleine Glitzersterne waren im Wachs mit eingearbeitet. Im Sommer hatte ihm die Einsamkeit nichts ausgemacht. Aber sobald es früher dunkel wurde, hatten die alten Mieter es angemacht und es konnte seinen Glanz hinaus in die Welt tragen. Wenn die Mieter zu Bett gingen wurde sein Licht gelöscht und es ruhte sich aus. Claudia, die alte Mieterin hatte es sogar schon am Morgen angezündet. Traurig und kläglich senkte es den Docht. Was niemand wahrnahm. Niemand. Es war einsam und ihm war kalt. So kalt.


    "Ach je, ach je", jammerte es. Vor ein paar Tagen hatte es den alten Vermieter Herrn Schröder, der regelmäßig in der Wohnung nach dem Rechten sah kommen hören. "Ich glaube, wir müssen den Preis ein wenig herunterschrauben, damit wir neue Mieter finden." Mit sich selbst hatte er gesprochen. So weit war es schon. Auch er war einsam. Seit dem Tod seiner Frau vor ein paar Jahren war er nicht mehr wie vorher. Jammernd war er davon gegangen.


    "Ach je, ach je", jammerte es erneut. "Was soll nur aus mir werden? Ich war dick, als ich im Supermarkt gekauft wurde. Ein wenig bin ich geschrumpft. Aber einen Herbst und einen Winter überstehe ich schon noch. Sofern," kurz hielt es inne "sofern die neuen Mieter, sollten jemals welche kommen, mich nicht austauschen." Es schwieg wieder. Es wagte einen kurzen Blick nach unten auf die Gasse, wo die Menschen eilig hin und her liefen. Tüten schleppten. Die Adventszeit stand kurz bevor und es hatte begonnen leicht zu schneien. Der erste Schnee. Niemand sah zu ihm hoch. Warum auch? So ohne Flamme. Die Tage vergingen. Doch dann, am ersten Adventswochenende hörte es, wie sich der Schlüssel in der Wohnungstür drehte. Sofort erkannte es die Stimme des Vermieters.
    "Herr und Frau Auras, da wären wir. Hier ist der Flur, da links geht es ins Wohnzimmer." Er war nicht allein, er war nicht allein. Da mussten Leute dabei sein.


    "Hübsch", hörte es eine Frau sagen. Hübsch? Es liebte die kleine gemütliche Wohnung. Tausende andere Ausdrücke hätte es willkommener gefunden als hübsch. Hübsch klang so nach na ja. Es hörte wie sie durch die Wohnung gingen.


    "Da hinten ist das Schlafzimmer. Geheizt wird mit Ölheizung. Die Miete beträgt 450 Euro warm."


    "450 Euro?", hörte es die Frau fragen.


    "450 Euro warm."


    "Das ist ja ein Schnäppchen. Du Paul. Was meinst du?"


    "Die Wohnung ist zehn Geh-Minuten vom Zentrum entfernt."


    "Lassen Sie sich ruhig Zeit. Schauen Sie sich alles an. Sie können auch gerne eine Nacht darüber schlafen."


    "Und zehn Minuten von meiner Arbeit. Die Küche hat alles was wir brauchen. Das Wohnzimmer ist wunderbar mit allem ausgestattet. Fernseher, Schau, sogar einen DVD-Player gibt es."


    "Irgendwo ist doch ein Haken?" Paul blieb skeptisch.


    "Nein. Es ist alles korrekt. Die Wohnung hat außerdem einen W-Lan Anschluss. Ich bin froh, wenn ich die Wohnung vermiete. Die Vormieter mussten leider ausziehen, weil sie in eine andere Stadt gezogen sind. Sie haben fast 15 Jahre hier gewohnt."


    "Paul. Dann spricht doch nichts mehr dagegen. Wir wollen so schnell nicht hier wegziehen und billiger finden wir keine mehr. Och, schau. Schau mal da am Fenster."


    "Wer hat dich denn hier vergessen? Paul, guck mal. Diese Kerze müssen die Vormieter vergessen haben. Wie schön. Dann ist die erste Deko für den Advent schon vorhanden. Also ich finde nicht nur die Wohnung, sondern auch den Preis perfekt."


    "Ok. Dann nehmen wir die Wohnung, Melli", sagte Paul, als Melli wieder bei ihm stand.


    Oh. Sie heißt Melanie. Mellis heißen immer Melanie. Sehr schöner Name. Und sie war am Fenster. Es könnte hüpfen vor Freude.


    "Super Paul. Endlich hat die Suche ein Ende."


    Sie wendete sich wieder vom Adventslicht ab. Doch auf seinem Docht breitete sich ein seliges Lächeln aus.


    Die Sache war klar. Am 01. Dezember 2016 zogen Herr und Frau Auras in der Wohnung ein. Das Licht war überglücklich Da der erste Advent dieses Jahr etwas früher war, würde es zwar erst am 2. Advent angezündet, doch das machte nichts. Die paar Tage schaffte es noch.


    Die Zeit verging erstaunlich schnell und bereits vor dem 01. Dezember rollten Umzugswagen an, Kartons wurden in die Wohnung geschleppt, sie war belebt von Stimmen. Das Adventslicht strahlte weiter vor Glück. Seine Freude war ungeheuer groß.
    Am 01. Dezember abends saß Familie Auras am Küchentisch beim Abendessen und Melli stand auf, ging ins Wohnzimmer. Zum Fenster zu dem kleinen Licht.


    "Hey, du kleines Licht. Jetzt zünde ich dich an. Jeden Abend. Ich habe dich von der Straße aus erkannt. Jetzt musst du nicht mehr einsam sein." Melli zündete das Licht an und es leuchtete in großer Flamme auf. Es reckte und streckte sich. Mit dieser Geste wollte es Melli danken.


    "Danke, danke Melli. Jetzt bin ich richtig glücklich. Danke. Du hast es erkannt, dass ich einsam bin. Wir werden gute Freunde werden." Die Flamme tanzte. Melli nahm die flackernde Flamme wahr und lächelte.


    "Auf eine schöne Adventszeit. Gerade ihr Adventlichter macht sie doch zu etwas besonderem und schenkt uns Ruhe, Besinnlichkeit durch die ganze Weihnachtszeit."


    "Och Melli, Melli. Schön gesagt. So schön. Aber das sind wahre Worte. Und das macht ja auch die Adventszeit aus. Nicht wahr."


    Von diesem Tag an war das Adventslicht wieder glücklich. Jedes Mal wenn jemand von der Gasse aus zu ihm hoch sah, tanzte es sehr intensiv und leuchtete mit ganzer Kraft und zauberte den Menschen ein Lächeln ins Gesicht.

  • 10. Dezember 2016 von Idgie


    Advent Advent, die Lunte brennt…


    An einem beliebigen Tag im Advent in einer bundesdeutschen Innenstadt: Menschen laufen durch die weihnachtlich beleuchtete Fußgängerzone, aus den Eingängen klingt leise Weihnachtsmusik und vom Weihnachtsmarkt schwappt ein Duftgemisch aus gebrannten Mandeln, Reibekuchen, Räucherkerzen und Glühwein in die angrenzenden Straßen.
    Niemand achtet auf den alten Mann in abgetragener schäbiger Kleidung, der schwerfällig durch die Fußgängerzone schlurft; eng an der Häuserzeile entlang, damit er nicht auffällt. Den Blick hat er fest auf den Boden geheftet. Seine Schutzzone verlässt er nur, um die Mülltonnen nach Pfandflaschen zu durchsuchen, die er dann eilig in große Plastiktaschen stopft. Heute hat er nicht viele Flaschen gefunden. Beim Blick in die Tragetaschen schätzt er seine Ausbeute auf 20 – 30 Flaschen. Das reicht gerade für ein bisschen Essen und etwas zu trinken….


    Tja, so könnte diese rührselige Adventsgeschichte jetzt weitergehen – wahlweise mit einer wundersamen Einladung in eine heimelige Stube mit temporärem Familienanschluss für den Alten oder mit dem traurigen Ende unter der Brücke. Tut sie aber nicht.


    Hinter der scheinheiligen Glühweinromantik brodelt dieses Jahr in vielen Städten eine latente Bombenstimmung. Kein Tag vergeht, an dem in der Presse und den sozialen Medien nicht irgendwo fröhlich gezündelt wird. Nicht nur in der Flüchtlingsfrage entbrennt ein rhetorisches Gemetzel. Da wird der Untergang des Abendlandes speziell in Gegenden mit homöopathisch höchst geringer Flüchtlingsquote beschworen und ungehemmt gehetzt. Der Flüchtling mit Suizidabsichten auf dem Dach einer Notunterkunft wird aufgefordert, doch endlich zu springen und am besten seine Mischpoke gleich mitzunehmen. Auf Pegida-Demos kocht erst die Stimmung, dann fliegen die Fäuste und am Ende wird auf die Journalisten eingedroschen, weil die in ihrer Berichterstattung angeblich nichts anderes tun, als das Volk zu belügen und zu betrügen. Und an allem ist die Regierung schuld, die die vielen Menschen ungebremst und ohne Konzept ins Land geholt hat. Gut, über Konzepte und deren mögliches Fehlen kann man trefflich streiten. Über Menschlichkeit sollte man es eigentlich nicht.


    Im Vorraum einer Bank verreckt ein Mensch, weil alle auf dem Weg zum Geldautomaten über ihn drüber steigen, aber niemand sich die paar Augenblicke Zeit nimmt, ihm zu helfen oder wenigstens den Notarzt zu rufen. Ähnlich ergeht es dem Pechvogel, der unglücklicherweise aus seinem Rollstuhl gekippt ist – keiner hilft, alle schauen weg. Hingucken, oder besser noch Filmen und Fotografieren und das Ergebnis möglichst als Erster im Internet posten tun viele nur, wenn es spektakulär genug ist und sich lohnt. Gaffen bei Unfällen und das Behindern von Rettungsarbeiten ist zum neuen Volkssport geworden und wird mit Likes und Klicks belohnt. Anerkennung in Form von Dank für tätige Hilfe wird eher nicht mehr so angestrebt.


    Auf der anderen Seite des Atlantiks im Land der unbegrenzten Dämlichkeiten - oh pardon - Möglichkeiten wird ein Demagoge zum neuen Präsidenten gewählt, der zwar kein Programm hat, aber dafür krude Ideen vom Mauerbau, der glaubt, Geldbesitz allein rechtfertige alles und der besonders laut brüllen kann.


    Ja, man kann tatsächlich den Eindruck gewinnen, das Abendland geht unter. Moralische Gesinnung, ethische Grundsätze, christliche Nächstenliebe, Herzenswärme außerhalb der Eigenliebe, Barmherzigkeit, Nachbarschaftshilfe, Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber scheinen gerade auf den Altären des Egoismus und Populismus geopfert zu werden.


    Advent – komisches Wort - wofür stand das noch mal? Ach ja, Ankunft und zwar die Ankunft Jesu. Seit dem frühen 6. Jahrhundert feiern die Christen Advent; damals noch mit Fasten, heute eher mit Schlemmen und Feiern. Aber immer noch hat jeder Adventssonntag eine eigene Bedeutung. Morgen, zum 3. Advent wird an Johannes, den Täufer erinnert. Der saß im Knast, weil er seine Klappe nicht halten konnte und hatte Angst, seinen Kopf zu verlieren, obwohl er doch nur die Wahrheit gesagt hatte. Aber wer das wagt, braucht auch heute oft ein verdammt schnelles Pferd. Diese Angst trieb ihn dann wohl auch zu der Frage durch seine Jünger an Jesus: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir noch auf einen anderen warten?“ Die Antwort Jesu erzählt von den Blinden, Lahmen und Tauben, deren Gebrechen allesamt verschwinden werden. Was ist das denn für eine Antwort und vor allen Dingen wie hilft die heute in einer Welt, deren oberste Gebote Rücksichts- und Teilnahmslosigkeit heißen?


    Hinter der Botschaft stecken Hoffnung, Gerechtigkeit und Heilung. Aber worauf? Lohnt sich das heute noch, aufzustehen, und laut zu sagen, was nicht mehr stimmt in der Welt, oder riskiert man, beschimpft oder im besten Fall ausgelacht zu werden?
    Bequemer ist es bestimmt, wegzugucken, still zu sein, sich nicht einzumischen. Aber kann man dann noch Weihnachten feiern – so ganz ohne Hoffnung?


    Ich wünsch euch morgen einen schönen 3. Advent.

  • 11. Dezember 2016 von Rumpelstilzchen


    O Tannenbaum


    Thies war auf dem Weg zu seinem wöchentlichen Besuch im Wirtshaus und schaute noch einmal an der Wiese vorbei, wo seine Frau Heike die Gänse und Hühner im Sommerstall einsperrte. Es war ungewöhnlich warm und sonnig für November und die Tiere konnten in der Scheune in der Nähe des Teichs bleiben.


    Thies lachte über den Anblick, der sich ihm bot. Heike, in Gummistiefeln und offener Jacke, lief über die große Wiese, lockte die Hühner mit lautem Rufen und Schütteln des Futtereimers und wurde von den zutraulichen weißen Gänsen verfolgt. Die Hühner, die tatsächlich auf den Schutz der geschlossenen Scheune angewiesen waren, zogen es vorläufig vor, noch selbst auf Futterjagd zu gehen und würden erst im letzten Moment hinterherkommen. Wie im Märchen von der goldenen Gans sahen sie aus, Heike und ihre Gänseschar.


    Heute konnte er sich kaum mehr vorstellen, dass er seine Frau wegen ihrer Pläne zunächst ausgelacht hatte. „Was sollen wir beiden Alten mit dem Hof anfangen?“ hatte sie gemeint, nachdem auch die jüngste Tochter lieber zum Studium in die Stadt gezogen war „Die großen Ackerflächen zu bewirtschaften wird nicht leichter und bringt immer weniger ein. Vergrößern müssten wir, investieren, uns verschulden. Aber wofür?“


    Er hatte nur wenige Tage überlegen müssen, um ihr Recht zu geben. Sechzig war er damals gewesen. Danach hatte er in kurzer Zeit den größten Teil seines Landes verpachtet und die Idee seiner Frau aufgegriffen, bedrohte Haustierrassen zu halten, Kindergruppen auf den Hof einzuladen und Kindergeburtstage zu veranstalten. Das war alles mit wenigen kostengünstigen Umbauten zu bewerkstelligen gewesen und war ein Riesenerfolg geworden.


    Schafe, Schweine, Gänse und Hühner hielten sie. Und drei Schleswiger Kaltblutstuten, die hier ihre alten Tage verbrachten, gelegentlich die Kutschen bei Kindergeburtstagen zogen und dabei die Attraktion darstellten. In einem Winter hatten sie sogar Schlittentouren anbieten können. Sie kamen zurecht. Gut sogar.


    Er verabschiedete sich von Heike, um den Weg zum Dorf hinaufzugehen, an den Stuten vorbei, die schon auf die mitgebrachten Äpfel warteten. Die schweren Pferde liebten es, das ganze Jahr draußen zu bleiben. Sie hatten zwar einen wind- und regengeschützten Unterstand für die Nacht und kalte, nasse Tage. Aber sie waren selten dort zu finden, sondern vergnügten sich lieber auf der weitläufigen Weide.


    Thies schritt flott aus auf dem leicht ansteigenden Weg, immer im Schutz von Holunderhecken, in denen die Meisen und Amseln schon eifrig Beeren gepickt hatten. Seit Jahrzehnten trafen sich die Bauern des Ortes einmal pro Woche im Wirtshaus, besprachen den neuesten Klatsch aus dem Dorf, die unterschiedlichen Ideen, was lohnend anzubauen sei, wie man an welche Fördergelder kommen könne. Seit sein alter Freund und Nachbar Jan im vergangenen Jahr ganz plötzlich gestorben war, machten ihm diese Abende längst nicht mehr so viel Freude. Nach und nach rückten junge Leute an die Stelle der Älteren, mit neuen Ideen, anderen Vorstellungen. Mancher Hof war ganz aufgegeben worden und diente nur noch reichen Städtern als Wochenenddomizil.


    Immerhin war da der Sohn des alten Freundes der den Hof übernommen hatte. Peter, ein ernsthafter und etwas schwermütiger junger Mann. Der hatte einen großen Teil seines Ackerlandes gepachtet und hatte begonnen, auf den leichteren, sonnigeren Böden Nordmanntannen zu ziehen.


    Dann war da noch Yegor, der vor drei Jahren aus der Ukraine gekommen war, zusammen mit seiner Frau Alina. Sie hatten einen schon länger brachliegenden Hof übernommen. Es hieß, Yegor sei bei der Armee gewesen und habe fliehen müssen, weil er Befehle nicht hatte ausführen wollen. Er selber sprach nicht darüber. Thies konnte ihn sich aber gut in der Armee vorstellen. Groß, dabei flink und ungeheuer kräftig. Durchsetzungsfähig und begabt im Umgang mit Menschen. Er freute sich über den Neuzugang. Neue Menschen und Gedanken konnten der kleinen Gemeinde nur gut tun.


    Längst war es dunkel geworden, der Mond noch nicht aufgegangen. Vom Dorf her leuchteten ihm die Straßenlaternen entgegen und vor dem Wirtshaus „Zum wilden Mann“ standen schon einige Fahrzeuge. Kaum öffnete er die Tür, kam ihm lautes Stimmengewirr entgegen. Der Stammtisch der Bauern war schon gut besetzt, ansonsten waren erst wenige Gäste da. Er nickte Daniel, dem Wirt kurz zu, hängte Joppe und Hut an einen Haken und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz, weit weg vom Kachelofen, direkt am Fenster.


    Wie so oft führte Gunter das große Wort. Er hatte vor einigen Jahren den größten Hof im Nachbarort übernommen, nachdem die Eltern zu seiner Schwester ins Rheinland gezogen waren. Lust auf Landwirtschaft hatte Gunter eigentlich keine. Dafür aber großartige Ideen, aus denen nie etwas Gescheites wurde. Ratschläge nahm er nicht an, tönte immer, die anderen seien altmodisch und beschränkt. Von mir aus, dachte sich Thies, bisher bin ich immer bestätigt worden. Im letzten Jahr war es ganz dicke gekommen. Gunter hatte, gut versteckt in einem Maisfeld, Marihuanapflanzen angebaut. Da das bei den holländischen Nachbarn offenbar große Mode war, hatte man die Pflanzen bei einem Überflug entdeckt und der Doofkopp hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als die ermittelnden Beamten anzugreifen. Ein Jahr mit Bewährung hatte er bekommen, da er sich bisher nichts hatte zuschulden kommen lassen.


    Ein wenig hatte ihn das gedämpft, aber nach Thies Geschmack nicht genug. Heute hatte er eine Zeitung in der Hand, aus der er Peter laut vorlas. Es ging um den nächtlichen Diebstahl von Weihnachtsbäumen im Sauerland.


    Peter winkte nur ab. Ja, im Sauerland, da gebe es auch eine Plantage neben der anderen. Aber wegen seiner paar Bäume werde wohl kaum einer mit einem Laster vorfahren. Er sei jedenfalls froh, in diesem Jahr erstmals Bäume verkaufen zu können und werde in den nächsten Tagen mit der Ernte beginnen.


    „Du musst es wissen, wem zu trauen ist und wem nicht“ tönte Gunter mit einem Seitenblick auf Yegor, der gerade zur Türe hereingekommen war. Peter zuckte nur mit den Achseln, machte eine verächtliche Handbewegung in Richtung Gunter und meinte, indem er Yegor und Thies lächelnd zunickte, er wisse jedenfalls, auf wen er sich verlassen könne.


    „Na, mein Rat scheint hier ja nicht erwünscht zu sein. Du kannst dich ja mit diesem schwerhörigen Nostalgiker hier zusammentun“. Gunter deutete auf Thies und stapfte davon. Sogar die Tür knallte er hinter sich zu.


    „Was hat gebissen den?“ fragte Yegor, und steckte seine langen Beine unter den Tisch. „Stänkern will er und die Leute gegeneinander aufhetzen“, knurrte Thies.


    „Vielleicht ist es aber doch eine gute Idee, eine Wachmannschaft zu organisieren, wenn die Bäume geschlagen sind. Du willst sie doch zwei Tage liegen lassen, vor dem Abtransport, oder?“


    „Ja“, nickte Peter, „dann nadeln sie nicht so schnell. Aber nein, das ist doch dummes Geschwätz. Ich kann die Schranken zu den Waldwegen runtermachen. Vielleicht fährt ja Martin mit dem Streifenwagen nachts ne Runde vorbei, wenn ich ihn drum bitte.“


    Nachdem die Brüder Klaus und Georg vom Quellenhof dazukamen, entwickelte sich eine lebhafte Diskussion um die für die hiesigen Böden am besten geeigneten Zugmaschinen und es wurde noch eine lustige Runde, bei der sich alle mit phantastischen Vorschlägen überboten. Thies war froh, dass er sich um das alles keine Sorgen mehr machen musste und machte sich zeitig auf den Heimweg.



    Thies schnarchte leise vor sich hin, als Heike ihn wachrüttelte. „Wach auf, raus aus dem Bett. Hier, dein Hörgerät.“ „Was ist los“, brummte Thies, rieb sich die Augen, die kaum aufgehen wollten und setzte sein Hörgerät ein. Ohne das Ding ist er stocktaub, da hat Gunter schon recht gehabt. Jetzt hörte er auch, dass draußen etwas los war. Die Gänse machten einen Wahnsinnslärm, die Hühner gackerten fast genauso laut und selbst die Schafe waren wach geworden und blökten aufgeregt.


    „Da draußen ist jemand, in der Tannenschonung“, sagte Heike, „steh auf, schnell.“ Jetzt sah Thies Lichter am Hügel, drückte Heike das Handy in die Hand und rief: „ruf die Polizei an, mit der Notrufnummer. Da klaut einer Tannenbäume. Ich rufe Peter an und Yegor. Mach hier kein Licht an. Wir wollen die Kerle nicht vorwarnen. Und in zehn Minuten fährst du den Traktor auf die Zufahrt zur Gänseweide.“


    „Sei bloß vorsichtig und mach keine Dummheiten;“ murmelte Heike noch, als Thies die Treppe hinunter polterte.


    Unter rief er Peter an, informierte ihn, was vor sich ging und drängte ihn, Yegor, Klaus und Georg dazu zu rufen. Man wisse ja nicht, wie viele von den Lumpen da zugange wären. Und sie sollten die Zufahrt zum Eggeberg mit einem Traktor versperren. Dort seien die Kerle, auf dem Hang zur Gänseweide. Heike habe schon die Polizei gerufen. Auf die sollten sie warten. Und kein Licht machen.


    Thies hatte sich beim telefonieren seine Hose und schwere Stiefel angezogen, riss die Joppe und den Hut vom Haken, griff sich die Taschenlampe und den dicksten Knüppel und schlich zum Hintereingang hinaus.


    Die Nacht war dunkel, der Mond wurde von dichten Wolken versteckt. Dennoch konnte er erkennen, dass in der Tannenschonung Bewegung war, offenbar war dort auch ein Fahrzeug.


    Die Gänse schnatterten nicht mehr so laut, dafür fing jetzt der Hahn das Krähen an. Thies hielt sich im Schatten und ging neben dem Weg, um möglichst wenig Lärm zu machen. Nicht dass es darauf ankäme. Die Tiere machten noch immer ein ziemliches Spektakel.


    In der Tannenschonung hatte Gunter allerhand Mühe, seine Kumpels zu beruhigen. „Null Risiko hast du gesagt, Mann und jetzt machen die Viecher einen Krach, der die Toten auf dem Friedhof wecken könnte.“


    „Du Heulsuse, halt den Rand. Guck rüber zum Haus. Nix rührt sich. Kein Licht. Ich sag dir doch, der Alte ist taub wie ein Ofen. Los, los. Aufladen.“


    Thies war am Sommerstall angekommen, öffnete die Tür zur Gerätekammer, schlüpfte hinein und holte das Handy, das in der Jackentasche vibrierte, heraus. Es war Peter, der mit der Verstärkung am Abzweig angekommen war. „Klaus ist mit dem Traktor da und wartet hier auf die Polizei. Yegor, Georg und ich kommen jetzt leise über den Hügel. Mach nix alleine.“


    „Nein, keine Angst“, murmelte Thies ins Telefon und kraulte Luke, den schwarzen Mischling, der eifrig angerannt gekommen war, zwischen den Schlappohren. Luke war der treueste und zuverlässigste Hund, den man sich vorstellen konnte. Er war nicht der beste Hütehund und inzwischen arg langsam, was die Schafe nur zu gut wussten. Aber er verstand jedes Handzeichen seines Herrn und solange keiner die Schafe oder seine Familie bedrohte, muckste er sich nicht.


    Mit einer knappen Handbewegung forderte Thies den Hund auf, die Schafe ein wenig aufzuscheuchen, wodurch der Lärm noch ein wenig infernalischer wurde. Die Schafe blökten, die Gänse, die sich gerade wieder etwas beruhigt hatten, kreischten als würden sie lebend gerupft und die Hühner stoben gackernd zwischen den anderen Tieren umher.


    Dieses Tohuwabohu nutzte Thies, um mit Luke an seiner Seite wieder aus dem Stall hinauszuschlüpfen und geduckt am Zaun zur Schonung den Hügel hinaufzuschleichen.


    Die vier nächtlichen Diebe hatten mittlerweile fast alle Bäume auf den Anhänger geladen, der Fahrer des Lasters fing an zu schimpfen, dass er auf dem Scheiß-Waldweg jetzt zurücksetzen müsse und das alles ohne Beleuchtung, es sei eine idiotische Idee gewesen, er werde im Wald landen, was Gunter mit der Bemerkung quittierte, er hätte vielleicht erstmal LKW fahren lernen sollen. „Immerhin hat kein Mensch etwas mitgekriegt, siehste! Alles dunkel. Auf dem Hof rührt sich nix. Der Hund scheint so taub zu sein, wie sein Herr.“


    In dem Moment war Thies am Ort des Geschehens angekommen, knipste die Taschenlampe an und leuchtete Gunter direkt in die Augen.


    „Nicht ganz so taub wie du dachtest, mein Lieber“, kommentierte er freundlich und ergänzte: „nett, dass ihr Peter die Arbeit abgenommen habt, die ganzen Bäume aufzuladen.“


    „Du blöder alter Schwachkopp, was mischst du dich ein“, brüllte Günter und stürzte auf Thies zu, die Fäuste schon drohend erhoben, der am nächsten stehende Ganove gleich hinterher. Dann ging alles ganz schnell. Luke hatte erkannt, dass sein Herr bedroht wurde, sprang Gunter mit einem leisen aber umso bedrohlicheren Knurren an und der stürzte zu Boden. Sofort wandte sich Luke Gunters Begleiter zu.


    Peter war mit Yegor und Georg auch gerade angekommen, knipste einen Strahler an, der die Szene taghell erleuchtete und die drei traten auf die beiden übrigen Kumpane zu, die sich gerade zur Flucht wenden wollten.


    Vom Hof her kam in diesem Moment Heike mit dem Traktor angefahren. Sie hatte Angst um ihren Mann gehabt, als das Getöse bedrohlich laut geworden war und war sofort mit dem Traktor hinter ihm hergekommen und schnitt auch den letzten Fluchtweg für die Diebe ab.


    Von der Straße kam jetzt auch ein Polizeifahrzeug mit zwei Polizisten und Klaus angefahren.


    „Schau an, der Gunter“, freute sich Polizist Martin und umschloss die Handgelenke von Gunter mit Handschellen. „Hast du nicht noch Bewährung, mein Freund? Na, dann kommen gleich noch ein paar Tage auf Staatskosten dazu.“ Er nickte den beiden anderen Polizisten zu: „Die anderen da, alle mitnehmen.“ Er nickte Thies und Peter nochmal zu und forderte sie auf, am nächsten Tag gleich aufs Revier zu kommen, wegen der Formalitäten. Und nach einem Blick auf die Uhr: „Und im Übrigen wünsche ich einen schönen ersten Advent“.

  • 12. Dezember 2016 von Inkslinger


    Fritzchens Bitte


    „Papa? Wann kommt denn endlich der Weihnachtsmann?“


    „Das dauert noch eine Weile, Fritzchen. Wieso? Weißt du schon, was du dir von ihm wünscht?“


    „Ich habe dieses Jahr schon vier Wunschzettel geschrieben. Aber ich wollte ihm sagen, dass er sie alle wegschmeißen soll. Das, was ich wirklich will, kann er mir sowieso nicht schenken.“


    „Was möchtest du denn? Ich habe dir ja schon erklärt, dass du nicht eine Xbox und eine Playstation bekommen kannst. Der Weihnachtsmann ist dagegen, dass ein siebenjähriger Junge zwei Spielkonsolen hat. Er möchte, dass ihr auch draußen spielt und das Kindsein genießt. So wie wir früher. Wir hatten damals keine Videospiele. Wir haben nur einen Ball geschenkt bekommen und mussten uns damit ein Jahr beschäftigen.“


    „Ach, Papa! Das weiß ich doch. Die Stories erzählst du ganz oft. Ich wünsche mir, den Weihnachtsmann zu treffen, sonst will ich nichts.“


    „Ach, Fritzchen, das ist aber ein schöner Wunsch. Und er ist nicht so unmöglich, wie du denkst. Wart‘s ab.“



    Am Heiligabend fand Fritzchen unter dem Weihnachtsbaum eine Xbox One, einen Fußball und eine Karte.


    KOMM UM 20 UHR IN DEN GARTEN
    ICH FREUE MICH AUF DICH
    WEIHNACHTSMANN (DER ECHTE!)


    Fritzchen ging pünktlich über die Terrasse in den Garten, wo eine Lichterkette den Pavillon erhellte. Darunter, an dem weißen Plastiktisch, saß der Weihnachtsmann in all seiner Pracht.


    Langsam näherte Fritzchen sich dem Dicken.


    Santa stand auf und brummte: „Ho Ho Ho, junger Freund! Ich bin hier, wie dein zuverlässiger, gutaussehender Vater es versprochen hat. Was möchtest du tun? Einen Schneemann bauen? Oder eine Schneeballschlacht veranstalten?“


    Fritzchen blieb stehen und guckte ihn mit großen Augen an. „Nö. Ich wollte dir nur etwas sagen.“


    Santa beugte sich zu dem Knirps hinunter. „Was denn, Kumpel?“


    Fritzchen holte aus und boxte ihn mitten ins Gesicht. Als der Weihnachtsmann sich fluchend die blutige Nase hielt, hob der Kleine sein Knie und rammte es ihm in die Kronjuwelen.


    „Erzähl meinem Papa nie wieder so einen Scheiß! Du willst doch, dass ich eine Xbox und eine Playstation 4 habe! Sonst hättest du nicht beide gebaut! Entscheiden ist Mist! Wenn du fies sein willst, geh nach Hause und kick einen Eisbär! Böser alter Mann!“

  • 13. Dezember 2016 von Groupie


    Interview mit dem Christkind


    Interviewer: „Guten Tag liebes Christkind, wir haben Sie jahrzehntelang immer wieder um ein Interview gebeten und sind doch nie erhört worden. In diesem Jahr haben Sie uns aus heiterem Himmel kontaktiert und erlauben uns 5 Fragen. Warum jetzt?“


    Christkind: „Weil ich denke, dass das jetzt genau der richtige Zeitpunkt ist. Die Menschen haben sich verändert. Viele von ihnen haben ihren Glauben – nicht nur an Gott - verloren. Viele fühlen sich einsam. Vielleicht einsamer als je zuvor, obwohl das bei der Weltbevölkerungszahl ziemlich absurd ist. Aber das Leben an sich ist unpersönlicher, unverbindlicher geworden. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, den Menschen ein Stückchen Glauben zurückzugeben. Ich beobachte momentan eine gefährliche Entwicklung. Vielen Menschen geht es zu gut und dafür geht es vielen anderen zu schlecht. Dazwischen gibt es kaum etwas. Ich möchte nichts unversucht lassen, diese Lücke wieder zu schließen.“


    Interviewer: „Unterscheiden sich Ihre Weihnachtswünsche eigentlich von denen der Kinder?“


    Christkind: „Nein, im Großen und Ganzen nicht. Was sich die meisten wünschen (egal wie alt), ist vor allem Zeit. Die Kinder wünschen sich Spielzeug, klar, aber nicht nur für sich, sondern vor allem, damit ihre Eltern/Geschwister/Freunde mit ihnen zusammen damit spielen können. Kinder wollen tatsächlich vor allem mehr Zeit. Mehr Zeit mit ihren Eltern. Mehr Zeit mit ihrer Lieblingsserie. Mehr Zeit, bevor sie schlafen gehen müssen. Gerade in einer schnelllebigen Zeit wie der heutigen wird der Wunsch nach mehr Zeit immer größer. Kaum jemand kann sie sich noch leisten. Auch das ist eine Entwicklung, die mich dazu gebracht hat, Ihre Fragen zu beantworten.


    Ich wünsche mir ebenfalls, dass die Menschen sich mehr Zeit nehmen. Für ihre Familien, ihre Freunde und manchmal auch für Fremde und deren Belange. Wenn es den Menschen gut geht, dann geht es auch mir gut.“


    Interviewer: „Glauben Sie an Wunder?“


    Christkind: „Aber natürlich. Was wäre ich für ein Christkind, wenn ich nicht daran glauben würde. Und ich gehe sogar noch weiter. Ich glaube nicht nur an Wunder, ich sehe sie jeden Tag. Sie passieren stündlich, minütlich, sekündlich. Jedes Kind, das geboren wird, ist ein kleines Wunder. Die Menschen schrauben ihre Ansprüche zu hoch. Da müssen schon Blinde wieder sehen oder Lahme wieder gehen können, bis sie ein Wunder auch als solches erkennen. Dabei ist doch jedes Lebewesen, jede Blume, jeder Baum ein kleines Wunder. Wir sollten uns auf die Wunder des Alltags zurückbesinnen und uns eben auch an diesen erfreuen.“


    Interviewer: „Woher beziehen Sie Ihre Informationen?“


    Christkind: „Facebook. Vorallem Facebook.Sie glauben ja nicht, was die Menschen alles preisgeben. Früher war das richtig Arbeit. Heute gucke ich nur mal kurz auf die Timeline und ich weiß eigentlich schon alles. Jetzt werden Sie vielleicht einwenden, dass die Kleinen ja noch nicht da angemeldet sein dürfen und so. Das stimmt auch, aber die Eltern erzählen ja gern mal, wenn Kevin was angestellt hat oder Luisa sehr brav war. Das ist für mich wirklich praktisch. Und seit auch WhatsApp dazugehört ... Herr Zuckerberg führt mittlerweile automatisch eine Liste für mich, wer Geschenke verdient hat und wer nicht.“


    Interviewer: „Was möchten Sie denen mit auf den Weg geben, die nicht mehr an Sie glauben?“


    Christkind: „Ach, da bin ich wirklich hin- und hergerissen. Einerseits bin ich immer froh, wenn jemand aufhört, an mich zu glauben. Das ist der Zeitpunkt, ab dem ich nicht mehr für die Geschenke zuständig bin. Das können dann Familie und/oder Freunde übernehmen. Andererseits bin ich aber auch immer traurig. Jedem, der nicht mehr an mich glaubt, fehlt es an Magie in seinem Leben. Und wenn wir ehrlich sind, können wir doch alle von Zeit zu Zeit ein wenig davon ganz gut gebrauchen.


    Die, die nicht glauben, sollten sich vielleicht einfach mal überlegen, was Ursache und was Wirkung ist. Ich meine, kam erst der Unglaube oder ist zuerst das Christkind verschwunden?“


    Interviewer: „Dem ist nichts hinzuzufügen. Vielen Dank für das Interview. Vielleicht bis zum nächsten Jahr.“

  • 14. Dezember 2016 von imandra777


    Liebes Tagebuch,


    der dritte Advent ist vorbei, der vierte naht. Doch Weihnachtszauber und Ruhe wollen sich bei mir kaum einstellen. Eigentlich suche ich mir immer Nischen, aber das will dieses Jahr nicht funktionieren. Der Wecker klingelt jeden Morgen in der Früh und auch an den Wochenenden packt mich jedes Mal der Weihnachtsstress. Am Wochenende stehen Kekse backen, Wohnung putzen, Weihnachtseinkäufe machen, Freunde treffen und noch Arbeiten korrigieren an. Wie gerne würde ich doch mehr Ruhe haben, als nur beim Frühstück ruhig am Adventskranz zu sitzen. Doch vom Gefühl her bin ich mit allem im Verzug.


    Die Klassenarbeiten stapeln sich, Woche für Woche mehr. Ich komme häufig nur langsam voran. Teilweise bin ich bis zum Nachmittag in der Schule, dann erst einmal Essen, eine Stunde ausspannen, mit der Familie reden und schnell ist es schon Abend. Den nutze ich, um den nächsten Tag vorzubereiten, ein Gedicht noch näher analysieren, damit man es den Schülern in der Oberstufe näher bringen kann, motivierende Einstiege planen und schon wandert mein Blick wieder zur Uhr, 22 Uhr oder später. Jetzt noch zwei Klassenarbeiten korrigieren, dann ruft auch schon das Bett. Zeit… ja Zeit ist es, die ich mir momentan am meisten wünsche. Und diese Zeit fühle ich immerhin gerade jetzt, während ich diesen Beitrag schreibe. Danke, Tagebuch, für diesen Moment der Ruhe.


    Doch bis jetzt liest es sich so, als wenn ich nur im Stress untergehe. Aber dem ist nicht so. In der Schule gibt es viele Momente, die mich haben innehalten lassen und die mich wirklich freuen. Ich habe an Klassen momentan das ganze Spektrum durch, das es gibt. Ich habe eine Horror 10 und eine Musterklasse in Jahrgangsstufe 8. Und ich bin froh, dass meine eigene Klasse als Klassenlehrerin die Musterklasse ist und nicht die Horror 10, bei der ich mich bei einigen frage, ob und wie sie es auf dem Arbeitsmarkt schaffen wollen. Aber dazwischen gibt es noch viele Nuancen, die einfach die Mischung ausmacht. Die Mischung, aus der die Gesellschaft besteht. So sind die Menschen nun einmal. Es ist nicht jeder gleich. Mit dem Blick auf Medien, Politik und einigen Meinungsäußerungen ist es schade, dass genau das nicht alle verstehen. Umso wichtiger finde ich es, dass in meiner Schule genau darauf hingearbeitet wird, dass Heterogenität als Chance gesehen wird und nicht als Maßnahme einer Ausgrenzung. Natürlich funktioniert es nicht immer, aber alleine der Verbund aus einem Gymnasialzweig und einer Gesamtschule hilft dabei. Dabei ist der Respekt ein anderer Punkt, der immer wieder wichtig ist. Und genau das geht häufig verloren. Ich habe oft das Gefühl, dass viele Kinder das nicht mehr genug lernen. Sei es aufgrund der familiären Situation oder auch der Erziehung. Und darauf wird hier auch viel Wert gelegt. Wer nach einer gewissen Anzahl von Ermahnungen immer wieder respektlos gegenüber Mitschülern ist oder seine Mitschüler im Unterricht stört, kommt in den Trainingsraum, um sein Verhalten zu reflektieren und einen Plan zu entwickeln wie er an sich arbeiten möchte. Eine Lehrkraft unterstützt ihn bei dem Vorhaben. Diese Einrichtung ist gut und ich merke an der Schule, dass sie durchaus auch erfolgreich ist. Die Regeln, die hier eingehalten werden, tun einigen Schülern einfach gut. Nur bei meiner Horror 10 hat das System versagt. Mit dieser Klasse kann man jeden verjagen und der Lehrer wird zur Zielscheibe degradiert. Aber auch daran wird jetzt mit Konsequenzen gearbeitet. Ich bin gespannt wie es weitergeht, denn für einige Schüler tut mit die Klasse leid. Und zwar sind es diejenigen, die etwas aus sich machen wollen, aber gebremst werden. Dennoch bin ich nach einer Doppelstunde darin immer sehr geschafft, vor allem psychisch.


    Doch ich sprach vorhin von den guten Seiten. Diese kommen immer wieder zwischendurch und zeigen sich immer wieder anders. Einmal ist es ein Rabauke, der in einem Vieraugen-Gespräch sich dir anvertraut und durchaus reflektiert handelt. Das sind die Schüler, die dir unaufgefordert sagen, dass sie eine Klassenarbeit gut fanden, obwohl sie nicht gut ausgefallen ist. Und das, weil sie einfach gefordert werden. „Die früheren Deutscharbeiten waren auch schon bald zu leicht!“, war so ein Kommentar. Da wird einem warm ums Herz. Und das, obwohl die eine oder andere 5 schon einige Tränen gekostet hat. Aber Tränen mehr über das eigene Versagen. Auch meine Oberstufe in der Einführungsphase ist mir sehr ans Herz gewachsen. Viele Schüler wollen etwas lernen. Sie knien sich in das Thema und fragen nach. Sie nehmen dankbar Hilfeangebote an und versuchen einen dann mit „Wir sind doch Ihre Lieblingsklasse!“, um den Finger zu wickeln, um nach einer Klausur nicht noch analysieren zu müssen. Die Arbeit mit Menschen ist einfach toll. Und viele dieser kleinen Momente sind für mich wie Weihnachten. Auch mit meinen Kollegen, mit denen eine Teamarbeit nicht nur auf dem Papier existiert, sondern die dich einfach so annimmt wie du bist und sich noch für dich interessiert. Besonders schön empfand ich das Mitfiebern, ob ich die feste Stelle erhalte. Leider hat es nicht geklappt und viele fanden das nicht schön. Sie hatten mit mir mitgehofft. Aber die Hoffnung ist nicht aufgegeben. Im Sommer habe ich die nächste Chance.


    Oh… es ist schon wieder später geworden. Aber das war mir der Beitrag wert. Ich nehme zwar viele Arbeiten mit in meine Weihnachtsferien, ganze drei Stück, aber die Weihnachtsruhe lasse ich mir dadurch nicht vergälen. Ich mache meine Arbeit gerne und am Freitag steht eine kleine Adventsfeier an in meiner Klasse samt Wichteln. Es wird wieder viel gelächelt und gelacht werden, dankbare Blicke werden ausgetauscht, neckende Worte. So kenne ich meine Schüler. Und das freut mich. Das Miteinander strahlt für mich manchmal mehr Weihnachten aus, als das Klische bei Kerze, Tee und Keksen die Weihnachtszeit geruhsam zu genießen.


    So, es warten noch Arbeiten auf mich.


    Bis bald,


    deine Immi !

  • 15. Dezember 2016 von leselampe



    Als Weihnachten starb


    Als wolle er den ihm übergestülpten geschäftsmäßigen Weihnachtszauber abschütteln, zeigte sich der vierundzwanzigste Dezember von seiner ekligsten Seite. In der Nacht hatte es geregnet, und die Feuchtigkeit tropfte von den Bäumen, die kahl und schwarz die Gleise der S-Bahn säumten. Die graue Wolkendecke verstärkte noch die Tristesse, in der die Landschaft zu ertrinken schien. Noch nie hatte ich diesen Tag unweihnachtlicher und abweisender empfunden.
    Der Waggon war fast leer. Wer heute arbeiten musste, gehörte nicht zu denen auf der Sonnenseite des Lebens. In München am Marienplatz musste ich umsteigen. Da sah ich sie. In der Mitte der breiten Treppe, die zum oberen Bahnsteig führte kauerte etwas unter einer schmutziggrünen Plane, links und rechts zwei pralle Plastiktüten. Ein Haufen Lumpen. Nichts zeichnete sich ab, was an einen Menschen erinnern konnte. Aber ich wusste: sie war es. Die zarte Frau, die aussah wie ein achtzehnjähriges Mädchen, mit Augen, so blau wie ein Föhnhimmel am Abend und einem Blick, in dem sich Angst und Verzweiflung zu endgültiger Hoffnungslosigkeit vereint hatten. Ich hatte sie seit fünf Jahren immer wieder am Bahnhof getroffen, wenn ich zur Arbeit fuhr. Das erste Mal am Hauptbahnhof um fünf Uhr früh. Ich war auf dem Weg nach Magdeburg, um dort meinen Mann zu treffen, der aus Dänemark kam. Es war Mitte Juli. Sie trug einen dicken Pullover, einen viel zu großen Parka und zog einen Einkaufsrolli nach sich. Ihr braunes Haar war verfilzt, die Hände schmutzig, ein Bein steckte in einem Pelzstiefel, mit dem anderen zog sie den zweiten Stiefel mit. Vielleicht war er ihr zu klein, vielleicht hatte sie wunde Füße, ich weiß es nicht. Ich sprach sie an, weil ich etwas für sie tun wollte. Aber ich musste meinen Anschlusszug erreichen, so hielt ich ihr einen Zwanzigeuro-Schein hin. Sie sah mich an mit diesen Abendföhnaugen und einem Blick, der mir die Schamesröte ins Gesicht trieb. Und immer war es dieser Blick, der mich traf, wenn ich einen Bettler auf der Straße, einen Obdachlosen im S- oder U-Bahnhof sah: die Frau mit dem aufgedunsenen Bauch und der gelben Perücke auf dem Kopf, die die ganze Sitzreihe für sich hatte, weil sie stank wie ein verwesender Kadaver;
    der Mann, der in ausgelatschten Sandalen und fadenscheiniger Hose ständig am Bahnsteig auf und ab lief und den Menschen lächelnd zunickte und stumm um Zuwendung bettelte; die Frau aus meiner Nachbarschaft, die in die Anonymität der Straße floh, damit ihr der Mann nicht jeden Ersten die kleine Rente aus den Rippen prügeln konnte; der junge Mann mit dem blonden Lockenkopf und den strahlend blauen Augen, der sich eines Sommers zu den Stadtstreichern am Rathausbrunnen gesellte und der jedes Jahr zerlumpter und kaputter daherkam, und als ich mir endlich ein Herz nahm und ihn ansprach, war er nur noch ein menschliches Wrack und aus seinen unendlich blauen Augen schaute nur noch der Stumpfsinn, den er sich angesoffen hatte.
    Sie alle hatten sich mit ihr unter dieser schmutziggrauen Plane versteckt, der einzige Schutzraum, der ihnen noch in diesem Schlachtfeld der Rücksichtslosigkeit blieb. Und ich dachte, welch ein Bild! Kann man einen verlorenen Menschen besser darstellen, als durch einen Haufen Lumpen? Und ich bedauerte, dass ich keine Kamera dabei hatte. Und ich stieg in meine S-Bahn und war erschüttert und hatte Mitleide im Herzen und war feige.
    Gegen Mittag stemmte der Föhn die schwere Wolkendecke in die Höhe und öffnete sein Schaufenster am Horizont, in das er alles stellte, was er auf seiner Reise über die Alpen mitgerissen hatte. Und als ich am späten Nachmittag nach Hause fuhr hatte sich der Himmel in ein glühendes Lavafeld verwandelt, und ich hatte das Gefühl, als würde gleich Feuer auf die Erde stürzen. Bis heute habe ich kein derartiges Phänomen mehr am Himmel gesehen.
    Im Wagen saß nur noch ein Mann. Er hatte ein Flasche Bier in der Hand und fing an zu weinen, und schluchzte, warum verachten mich alle und warum wollen sie nicht verstehen, ich bin doch krank, ich kann doch nichts dafür, es ist eine Krankheit, das Trinken, es ist eine Krankheit.
    Und ich saß da, gelähmt, geschockt und feige. Und ich stieg aus, und alle stiegen mit mir aus, die in ihrem Blick, diesem strahlenden, föhnblauen, hoffnungslosen Blick vereint waren, und sie gingen mit mir nach Hause und saßen mit mir und Hans auf dem Sofa. Und ich betrachtete den Baum mit den echten Kerzen, den glänzenden Kugeln und dem hässlichen Plastiklametta und ich hörte die Weihnachtslieder und es berührte mich nicht. Und als die Kerzen abgebrannt waren, stellte Hans den Fernseher ein und es war Hl. Abend, und Frieden allen Menschen auf Erden, die guten Willens sind.

  • 16. Dezember 2016 von Minusch


    Eine märchenhafte Weihnachtsversammlung


    Man schreibt den 24. Dezember. Es ist Heiligabend. Schnee knirscht unter den Schuhen der sich versammelnden Märchenfiguren, während sie zu der reichlich gedeckten Tafel schreiten. Sie finden sich zu einem weihnachtlichen Beisammensein auf der Lichtung des Zauberberges ein. Der König hat geladen, und das will niemand verpassen, auch wenn es bitterkalt ist. Zu selten treffen sie alle aufeinander. Und dieses Ritual kennen sie bereits zu gut.
    Man lebt nämlich in unheimlichen Wäldern, in Brunnen, deren Tiefe niemand auch nur erahnen kann. In Lebkuchenhäusern, die zum tödlichen Naschen einladen und die Kinder vom rechten Wege abbringen und in Höhlen, die so weitverzweigt sind, dass nur die Zwerge hinausfinden. Doch auch ein prunkvolles Schloss gehört in diese Welt, in dem natürlich der König logiert, mit all seinen Untertanen, die ihm treu und (fast) ohne Widerworte dienen. Jedes Jahr feiern sie jedoch hier, mitten in der Kälte des Winters, in jenem Augenblick der Stille, in dem jedes Lebewesen innehält und den Melodien des Festes lauscht.
    Auf den Tannen glitzern Schneekristalle. Eine dieser Tannen wurde mit roten Kugeln, Girlanden und Lametta geschmückt. Die Feen haben sie mit Leuchtsternen versehen, und so erstrahlt sie als wunderschöner Weihnachtsbaum inmitten von Frost und Eis.
    Es ist bereits dunkel, graue Wolken durchziehen den Himmel, aus denen kleine Schneeflocken entkommen.


    Über dem Tisch ist ein Baldachin gespannt, damit die sanft rieselnden Flocken nicht auf das Essen niedergehen.
    Ausnahmslos alle Märchenfiguren tragen warme Mäntel, gefütterte Stiefel und weiche Handschuhe. Im Schnee stecken Unmengen an Fackeln, die die Szenerie flackernd beleuchten und gespenstische Schatten auf sie werfen.
    Die lange Tafel mit dem blütenweißen Tischtuch wartet mit bunten Torten, heißen Kannen mit dampfendem Tee und gebackenen Keksen auf. Das edle Geschirr mit Tannenmuster sticht sofort ins Auge. Hänsel und Gretel haben frische Lebkuchen gebacken und Schneewittchen schenkt jedem ein Glas Apfelwein ein. Zum Aufwärmen, wie sie verschmitzt meint. Rapunzel sitzt gelangweilt auf einem der Sessel und kämmt ihr ellenlanges Haar, das durch den Schnee feucht geworden ist.
    „Wie bist du aus deinem Turm herausgekommen?“, will das Tapfere Schneiderlein wissen.
    „Ich habe die Treppe benutzt“, sagt sie und grinst.
    Sie warten auf den König, der wie immer zu spät kommt. Ständig hat seine Kutsche irgendeinen Schaden. Einmal ist die Achse gebrochen, ein anderes Mal ging es dem Kutscher so schlecht, dass er eine Stunde im tiefen Nadelwald verschwinden musste, um sich zu übergeben. Offenbar hatte er ein Stück Obst von Schneewittchens Apfelplantage gegessen, was ihm gar nicht bekommen war.
    Auch die Goldene Gans und die sechs majestätischen Schwäne sind da; sie wollen für die Rechte des Federviehs eintreten. Denn besonders an Weihnachten stößt es der Goldenen Gans sauer auf, dass so viele Menschen ihre Spezies essen werden.
    Frau Holle hat sich ein Federkissen mitgebracht (zum Unwohl der Gans, wie man sich denken kann), sie schüttelt es mehrmals auf, stopft es sich in den Rücken, um es sich dann mit einem Seufzen auf dem Sessel gemütlich zu machen.
    Rotkäppchen, adrett gekleidet wie eh und je, setzt sich auf einen gelben Sessel, der immer für sie reserviert ist. Sie trägt ein samtblaues Kleid. Ihr Mantel ist leicht geöffnet, und lässt den Blick auf den weichen Stoff des Kleides zu. Ihre geflochtenen blonden Zöpfe verleihen ihr ein kindliches Aussehen, obwohl sie schon eine junge Dame ist. Ihre grünen Augen mit den hübsch geschwungenen Wimpern weiß sie gekonnt einzusetzen.
    Plötzlich springt der große, böse Wolf hinter einer Tanne hervor.
    „Guten Tag, Rotkäppchen. Wie geht’s denn deiner Großmutter?“, raunt er und zeigt dabei auffallend seine spitzen Zähne, indem er den Mund zu einem grotesken Lächeln verzieht.
    Er läuft galant auf zwei Beinen, gekleidet in einen grauen Frack und mit einem Zylinder auf den Ohren auf Rotkäppchen zu. Schwungvoll verbeugt er sich.
    „Bleib weg von mir“, kreischt diese entrüstet und springt auf.
    „Aber, aber“, säuselt der Wolf und zaubert hinter seinem Rücken einen Blumenstrauß hervor, „für die schönste Frau der Welt.“
    Er will Rotkäppchen die Blumen überreichen, aber sie läuft erzürnt zu Frau Holle.
    „Mit dem setze ich mich nicht an einen Tisch“, zetert sie, „er wollte meine Großmutter fressen.“
    „Die ist doch viel zu zäh“, meint der Wolf und lacht.
    Die Märchenfiguren blicken den Wolf kopfschüttelnd an und es folgt aufgeregtes Gemurmel.
    „Ein Skandal“, ruft ein Zwerg, der kaum über die Tischkante schauen kann.
    „Was denn?“, fragt der Wolf unschuldig, „ich habe sie nicht einmal angeknabbert.“
    „Du bist widerlich.“ Rotkäppchen ist schlichtweg empört. Wie kann man nur so gemein sein?


    Auf einmal hört man Pferdegetrappel. Die bunt geschmückte und mit weißen Federn dekorierte Kutsche des Königs bahnt sich ihren Weg zu der Lichtung. Der Waldweg hinauf zum Berg wurde von den Trollen freigeschaufelt. Nur schwerlich bewegt sich das Gefährt durch den verbleibenden Schnee, die Räder drehen immer wieder durch, aber schließlich ist es geschafft.
    Und da ist er. Der König. Untersetzt und fast kahl, aber nicht minder entschlossen.
    Mit hochrotem Gesicht stürmt er zu seinem roten Sessel, der an der Spitze der Tafel steht und viel größer ist als die anderen. Er gleicht einem Thron.
    Man weiß im ersten Moment nicht, ob der Monarch schwitzt, trotz der Kälte, oder gar friert. Seine weinrote Robe schleift über den glitzernden Schnee, und die mit Brillanten besetzte Krone sitzt merkwürdig schief auf seinem Kopf.
    „Das war vielleicht furchtbar. Unterwegs sind wir den Bremer Stadtmusikanten begegnet. Haben Weihnachtslieder geträllert, und auch noch alle, die ich kenne. Halten sich wohl für Sternsinger. Die haben uns erst vorbeigelassen, als wir ihnen ein paar Dukaten zugeworfen haben.“
    „Die geben Sie mir aber nachher wieder, Eure Königliche Hoheit?“, drängt der bleiche Kutscher, der sich ebenfalls auf einem der Sessel niederlässt.
    „Natürlich...ich hatte nur gerade kein Geld dabei...“, stottert der König.
    Er setzt sich nun ebenfalls und stürzt den Becher Apfelwein in einem Zug hinunter, den man ihm vorsorglich hingestellt hat.
    „Was habe ich verpasst?“, fragt er dann und hickst.
    Atemwölkchen verteilen sich in der klaren Winterluft.
    „Wolf macht schon wieder Rotkäppchen an“, informiert ihn Hänsel.
    „Und er wollte ihre Großmutter letzten Donnerstag fressen“, ergänzt Gretel.
    „Was?“, entfährt es dem König. Ärgerlich sieht er den Wolf an.
    „Nun macht doch alle nicht so einen Aufriss! Rotkäppchen ist heiß. Das weiß doch jeder Elf“, sagt der Wolf lässig und lässt sich auf einen der violetten Sessel fallen.
    Aufgeregtes Geschnatter folgt; Rotkäppchen wird rot.
    „Wenn du dich nicht mäßigst, fliegst du aus meinem Königreich“, ermahnt der König den Wolf.
    „Mit einem fliegenden Teppich?“, fragt dieser darauf.
    „Von mir aus“, sagt der König und tastet nach den frischen Lebkuchen, „die sind doch sicher von euch ganz frisch gebacken. Lecker!“
    Er lächelt Hänsel und Gretel an und lässt sich von den Dienern ein großzügiges Stück Sahnetorte abschneiden, während ihm Wein nachgeschenkt wird.
    „Und was ist eigentlich mit der Hexe passiert? Ich hörte, ihr bewohnt jetzt allein das Lebkuchenhaus?“
    Gretel nickt.
    „Sagen wir mal so, sie hat sich die Finger am Ofen verbrannt.“
    Die Runde bricht in Gelächter aus.
    „Das soll passieren, wenn man nicht aufpasst. Aber nun esst doch endlich! Also, wann packen wir die Geschenke aus?“
    Er schielt zu einem Berg von glänzenden Paketen, die in allen Farben schillern, und auf einem Karren gestapelt sind.
    Der König wirkt aufgekratzt, so kennt man den Monarchen gar nicht.
    „Am besten im Warmen. Ich frage mich, warum wir uns immer hier treffen, Eure Königliche Hoheit“, sagt Frau Holle schläfrig.
    Für einen Moment stutzt der König. Widerworte hört er nur selten. Und wenn doch, haben diese sich gewaschen.
    „Du müsstest doch nun überhaupt nicht frieren, meine Liebe“, meint er mit einem Seitenhieb auf das bequeme Kissen und die dicke Daunenjacke, die Frau Holle trägt.
    „Das denkt Ihr aber nur“, sagt sie und reibt sich die klammen Hände, die trotz der Handschuhe leicht kribbeln.
    Die Goldene Gans wirft ihr einen verächtlichen Blick zu.
    „Nun, wir könnten zur Abwechslung später im Schloss feiern“, lenkt der König plötzlich ein.
    Verständnislos und überrascht schauen sich die Gäste an der Tafel an. So etwas hat er noch niemals zuvor vorgeschlagen.
    „Ich habe ihm was in den Apfelwein getan“, flüstert Schneewittchen verschwörerisch in die Runde. „So eine Art Serum, das die Gedanken vernebelt. Hat meine ehemalige Stiefmutter entwickelt.“
    Alle kichern.
    „Lasst uns ins Schloss fahren! Oh, wir brauchen Kutschen! Und der Baum muss auch mit, sowie die Geschenke“, ruft der König außer sich.
    Die Lakaien verdrehen die Augen. „Sehr wohl, Eure Hoheit.“
    Der König springt auf.
    „Wart ihr schon mal im Schloss?“
    „Sehr selten, Ihr ladet uns ja kaum ein“, sagt der Wolf und erhebt sich ebenfalls.
    Zustimmendes Gemurmel der Zwerge und Feen folgt augenblicklich.
    „Oh, es wird euch gefallen. Wir werden am Kamin sitzen und die hübschen, hübschen Geschenke auspacken“, lallt der König daraufhin und klatscht in die Hände.
    „Ich hoffe, es gibt keinen Gänsebraten“, mahnt die Goldene Gans und starrt den Monarchen unnachgiebig an.
    „Nun … ich …“, fängt dieser an, und verhaspelt sich beinahe, „wir werden sehen, was die Küche hergibt.“
    „Ich habe ihm wohl ein bisschen zu viel in den Becher getan“, wendet Schneewittchen ein und zuckt dann mit den Schultern. „Aber was soll’s. Ich möchte Weihnachten richtig behaglich feiern. Mit gutem Essen, Wärme und Weihnachtsliedern. Und angeblich soll es im Schloss Musiker geben, die auf Geigen spielen können.“
    Der König nickt eifrig, scheint gar nicht zu merken, was um ihn herum passiert: „Das stimmt. Sie werden den ganzen Abend für uns spielen! Kommt mit.“
    Und damit klettert er glücklich lachend in die Kutsche (die Krone hängt inzwischen auf halb acht), den Becher Apfelwein hält er in der Hand, den er fast verschüttet, und ruft: „Fröhliche Weihnachten!“

  • 17. Dezember 2016 von polli


    O Tannenbaum


    An einem klaren Dezembermorgen schlich sich kurz nach Sonnenaufgang ein Mann aus seinem Haus. Er blickte verstohlen um sich, dann schlug er den Weg hinauf zum Wald ein. Er trug einen länglichen Gegenstand, eingewickelt in einen groben Sack, unter dem Arm.
    Niemand sah ihn. Die Hundebesitzer trafen sich lieber unten bei den Talwiesen und Spaziergänger waren um diese Zeit noch nicht unterwegs. So erreichte er nach einem längeren Fußmarsch unbemerkt die Bank, die der Heimatverein vor Jahren dort aufgestellt hatte, wo der Wanderweg in den Wald hineinführte. Das Schild an der Eiche hinter der Bank war längst verwittert und überhaupt verirrten sich höchst selten Wanderer in diesen Teil der schwäbischen Alb. Der Mann hielt an, wickelte sorgfältig den Gegenstand aus und betrachtete ihn.
    Vielleicht ahnt ihr, was der Mann vorhatte, auch wenn ihr noch nicht wissen könnt, wie die Geschichte weitergeht.
    Der Wind frischte auf und ließ die Laubhaufen am Fuße der alten Eiche tänzeln. Sie raschelten bei jedem Windstoß und die knorrigen Äste gaben ein ächzendes Geräusch von sich, fast ein wenig unheimlich. Die Eiche war dank ihrer jahrzehntelangen Erfahrung geübt darin, Gefahren für den Wald und seine Bewohner zu erkennen. Und dieser Mann war eindeutig eine Gefahr. Er hatte eine Axt.
    Man muss wissen, dass sich Bäume recht gut miteinander verständigen können und zwar über ihr weit verästeltes Wurzelwerk. Es funktioniert so ähnlich wie die verzweigten Nervenzellen mit den chemischen Botenstoffen bei euch Menschen. Stellt euch einfach vor, dass die Köpfe der Bäume unten im Waldboden stecken und ihre Körper, also Stamm, Äste und Blätter oder Nadeln, nach oben ragen. Deshalb stört es normalerweise auch keinen Baum, wenn wir Vögel in seiner Krone sitzen und unbemerkt von euch Wanderern und Radlern eure seltsamen Aktivitäten beobachten. Die Eiche schickte also einen schnellen Alarm aus, der von den Fichten rechts und links des Waldweges umgehend weitergeleitet wurde. Der Feind naht! Er hat eine Axt! Wir müssen die Jungen schützen! Ungefähr so lautete die Botschaft der Eiche in Menschensprache übersetzt. Die Jungtannen waren auf der Lichtung zu prächtigen Bäumchen herangereift. Damals vor ihrer Zeit hatte der große Sturm eine Schneise der Verwüstung bei den alten Fichten hinterlassen. Reihenweise waren sie umgestürzt und begruben andere beim Fallen unter sich. Jetzt erinnerten nur noch moosüberwachsene, tote Wurzelstöcke an ihre Existenz und zwischen ihnen eroberten die neuen Tannen ihren Platz im Wald. Ganz klar, sie waren in Gefahr! Der Mann mit der Axt war gekommen, um eine von ihnen zu fällen.
    Einige der jungen Bäume bekamen Angst und auch diese verbreitete sich in Windeseile über das unterirdische Wurzelwerk. Während der Mann sein Werkzeug packte und ahnungslos seinen Weg fortsetzte, beschwichtigten die Alten das aufgeregte Jungvolk. Habt keine Angst, wir werden euch beschützen und dafür sorgen, dass keinem von euch ein Ast gekrümmt wird!
    Doch noch war keine Lösung in Sicht. Der Mann näherte sich mit festen Schritten der Lichtung. Lieber Baum, mach irgendetwas, betete die Eiche nervös. Mach, dass unseren jungen Tannen kein Leid geschieht!
    Zur Erklärung für euch: Man muss wissen, für die Eiche ist Gott ein Baum.
    Der Mann verließ den Waldweg und zwängte sich durch das Unterholz. Drei, vier Meter noch bis zur Lichtung mit den wohlgeratenen Tännchen, eine schöner als die andere. Plötzlich vibrierte der Waldboden. Erdbeben? Donner? Ach was, Hirngespinste. Er schob sich an zwei Buchen vorbei, als es über ihm knackte. Ehe er zur Seite springen konnte, fiel ein Ast herunter und traf ihn am Kopf. Es wurde dunkel und er sank zu Boden.
    Wir haben ihn erlegt!
    Freut euch nicht zu früh, er wird wieder zu sich kommen und sein schreckliches Werk vollenden.
    Hat einer von euch noch einen morschen Ast übrig?
    Hier, ich, meldete sich eine etwas abseits stehende Buche. Ich werde die nächste Windböe abwarten und einen abwerfen.
    Der Mann rührte sich kaum, als ein weiterer Ast seinen Kopf traf.
    Als die Kirchturmuhr schlug und den Waldbewohnern die Mittagszeit anzeigte, wurden einige der alten Bäume nachdenklich. Ob er noch lebt?
    Eigentlich hat er uns nichts getan.
    Unsinn, es war vorausschauende Notwehr.
    Vielleicht kommt ein wandernder Mensch vorbei und entdeckt ihn. Dann kann er ihn mitnehmen und wir haben wieder unsere Ruhe.
    Nein, Wanderer pflegten den Waldweg nicht zu verlassen und so fand keiner den Bewusstlosen am Rande der Lichtung, auch nicht, als er zu sich kam und leise stöhnte. Aber um zwölfe war der Mann mit der Axt noch nicht wieder zurück, obwohl längst das Mittagessen bereitstand und der Baumschmuck dreimal sortiert und poliert worden war. Da endlich machten sie sich zu Hause Sorgen. Die Frau verständigte den Nachbarn zur Rechten und der machte sich mit seinen beiden großen Söhnen auf den Weg in den Wald.
    Sie kommen ihn holen, ließ die Eiche die anderen wissen. Die reagierten sofort. He, wir brauchen weitere Äste, es gibt neue Feinde!
    Nein, entschied die Eiche. Frieden ist besser als Krieg, sie sollen ihn ungestört mitnehmen dürfen. Es dauerte eine Weile, bis die Männer den Verletzten fanden. Er blutete am Kopf und jammerte, doch zusammen gelang es den dreien, ihn aufzurichten und zu stützen. Eine letzte Windböe zerzauste die Baumkronen. Einige morsche Äste knackten bedrohlich über ihnen. Und dann schafften sie es irgendwie, ihn nach Hause zu bringen.
    Falls ihr wissen wollt, was der Mann später erzählt hat: Er konnte sich an rein gar nichts mehr erinnern. Ist auch besser so. Denn wer glaubt schon einem schrägen Vogel, der von sprechenden Bäumen erzählt.

  • 18. Dezember 2016 von Johanna


    Veränderungen


    Völlig übermüdet kam Julia nach stundenlangem Flug endlich in der alten Heimat an
    Einerseits traurig, daß das Leben am anderen Ende der Welt nicht so funktioniert hatte, wie sie es sich erträumt hatte. Die Scheidung war nicht schön gewesen, auch wenn sie als vermögende Frau aus der Ehe herausgekommen war.
    Ihre seelischen Verletzungen war zu groß, als daß sie dort in der Ferne hätte bleiben können.
    Zuviel verband sie in Australien mit Sean.


    So war sie auf der anderen Seite froh, der Hitze des Sommers zu entkommen und sich in die winterliche Welt Deutschlands zu stürzen, in der Hoffnung dort in der weihnachtlichen Atmosphäre
    bei ihrer geliebten Omi Anni wieder Halt zu finden.
    Sie war damals auch die einzige gewesen, die ihr den Abschied schwergemacht hatte.


    So gab sie dem Taxifahrer, der sie vom Flughafen fahren sollte, auch direkt Omi Annis Adresse.
    Als sie dort eintraf, war der Schock doch ziemlich groß, als fremde Menschen die Türe öffneten und auf ihre Frage, wo denn Frau Schader sei, lapidar antworteten: “Die ist jetzt im Luisenhof, ihre Kinder haben sie in das Alterspflegeheim gebracht“.


    Nachdem sie die Adresse herausbekommen hatte, fuhr sie zum Luisenhof um endlich Omi Anni zu sehen und zu erkunden, was eigentlich in den letzten Wochen passiert war.


    Der Luisenhof war ein altes, herrschaftlich wirkendes Anwesen, ein ehemaliges großes Gutshaus mit Nebengebäuden, das auf den ersten Blick von außen ganz apart wirkte.
    Als sie allerdings die Eingangshalle betrat und dort nach einem Empfang suchte, überkam sie eine merkwürdige Stimmung.
    Trostlos. Das war das richtige Wort dafür.


    Der Empfang machte auch keinen besseren Eindruck, ein dunkler Holztresen mit einer jungen Frau dahinter, die sich erst nach einiger Zeit bequemte, ihre Ohrstöpsel aus selbigen herauszunehmen.
    Unfreundlich, ob der Störung, sagte sie nuschelnd auf Julias Frage:“Die Frau Schrader ist in Zimmer 17. Erster Stock, links“.
    Prompt stöpselte sie ihre Ohren wieder auf MP3 Empfang.
    Leicht schockiert stapfte Julia die breite, doch eindrucksvoll wirkende, Treppe hinauf und sah sich um. Sie entdeckte Zimmer 17, lediglich mit einem Zettel behaftet, auf dem eine 17 und Schrader stand, klopfte vorsichtig an und trat ein.


    Sie erschrak, als sie Omi Anni verloren in einem Rollstuhl sitzen sah, der neben einem schmalen Einzelbett stand.
    So dünn und klapprig hatte sie noch nie ausgesehen, dachte sie und ging auf Omi zu.
    Als diese sie erblickte, kam kurz das alte Leuchten in ihre Augen. „Julia“, sage sie “wie kommst Du hierher, ich dachte, Du bist in Australien und feierst dort Weihnachten mit Deinem Mann.“


    „Ich scheine nicht die einzige zu sein, die in ihren Briefen nicht alles erwähnt hat“ meinte Julia.
    „Was ist hier los? Warum hast Du Deine Wohnung aufgegeben? Was ist mit meinen Eltern? Wieso haben die das zugelassen“


    „Das ist schnell erzählt, ich habe mir das Bein gebrochen, konnte dadurch nicht mehr laufen und mir wurde für die Zeit ein Rollstuhl verordnet. Deine Eltern konnten mich nicht pflegen, wie sie sagten, haben mich daraufhin hier her gebracht. Sie meinten noch – ich zitiere: wir können Dich im Moment nicht pflegen, aus Zeitgründen. Daher ist es für dich besser, wenn Du eine tägliche Betreuung hast und mit 75 Jahren bist Du ja auch nicht mehr die Jüngste und die Zipperlein werden eher mehr als weniger. Da wir ja nur das Beste für Dich möchten, sind wir der Meinung, Du bist hier am besten aufgehoben.“.


    Julia war fassungslos. „Das kann doch nicht wahr sein“, meinte sie. „Ich glaub das nicht“
    „Ach Kindchen, so gesehen stimmt es ja, ich werde eben nicht jünger.“ Versuchte Omi Anni Julias Entsetzen zu beschwichtigen. „ Wenn es hier nur nicht so trostlos wäre. Die Stimmung und das Umfeld hier gehen mir doch ein wenig aufs Gemüt. Nur in meine alte Wohnung kann ich nicht mehr, die ist bereits wieder vermietet“
    „Nein, das lasse ich nicht zu“, Julia schrie es fast.


    Am nächsten Tag machte sich Julia direkt daran, Erkundigungen über den Luisenhof einzuholen.
    Das Haus gehörte einem Unternehmer, der es geerbt hatte, sich aber nicht weiter darum kümmerte.
    Was in dem Haus vor ging interessierte ihn nicht, dafür hatte er einen Heimleiter eingestellt, der sich um alles zu kümmern hatte.
    In dem Haus waren 20 ältere Leute untergebracht. Die Plätze in dem Haus waren noch einigermaßen bezahlbar, was Julia auch daran feststellte, daß es nicht sonderlich in Schuß gehalten wurde und nur das Notwendigste vorhanden war.


    Am Personal wurde ebenfalls gespart, wie Julia herausbekam, war die „Dame“ am Empfang auch nur als Minijobberin eingestellt und teilte sich den Platz mit noch zwei weiteren Minijobbern.
    Demensprechend ging es auch den älteren Leutchen hier im Haus. Die meisten fühlen sich sehr vereinsamt, bekamen wenig Zuwendung und bei den meisten hatte Julia das Gefühl, sie seien von ihren Familien hierher abgeschoben worden.


    „So“, meinte Julia, als sie nach ihren Erkundigungen wieder zu Omi Anni ins Zimmer trat. „ Das kann so nicht weitergehen. „Omi, ich brauche Dich in alter Verfassung, damit Du mir hilfst, daß wir beide hier grundlegend etwas ändern.“


    „Wie willst Du das denn hinkommen?“ fragte Omi Anni.


    „Ganz einfach“, meinte Julia. „Ich habe da schon eine Idee. Aber das wichtigste ist erst einmal, daß wir hier die düstere Stimmung herausbekommen. Wir haben bald Weihnachten, da geht es gar nicht, daß alle hier in einem derart traurigen und resigniertem Zustand sind“
    Sie begann Pläne für die Adventszeit zu machen und teilte sie Omi Anni mit, die beim zuhören immer
    mehr aufblühte.


    Gleich am nächsten Tag versammelten Omi Anni und Julia die anderen Bewohner im Speisesaal, der auch gleichzeitig als gemeinsamer Aufenthaltsraum diente.
    Julia stellte sich vor und meinte, sie könne es nicht ertragen, daß hier im Hause alles so traurig wirke und daß sie versuchen möchte, etwas Leben und Fröhlichkeit ins Haus zu bringen.
    „Wir sollten versuchen, es etwas weihnachtlicher zu gestalten und uns gerade für die Adventssonntage etwas besonders überlegen.“ Schlug sie vor.
    Die alten Leute lauschten ihr und die meisten wurden von ihrem Enthusiasmus angesteckt und wirkten gleich ein wenig agiler.


    Die nächsten Tage brachten Veränderung mit sich, nicht nur Omi Anni wirkte lebendiger, auch Julia wurde zunehmend fröhlicher und merkte, wie gut es ihr tat, die Zustände im Haus langsam zu ändern.


    Auch Omi, die inzwischen von Julia über ihre Scheidung erfahren hatte, bemerkte immer mehr, daß etwas in Julia vorging und sie neben ihrer Aktivität auch sehr geheimnisvoll tat. Ließ sich aber kein Wort entlocken und meinte nur: “Warte ab und laß Dich überraschen“. Der erste und zweite Advent wurden tatsächlich schöner und auch gemütlicher und brachten auch etwas mehr Freude in die Gesichter der Bewohner vom Luisenhof.
    An den Äußerlichkeiten hatte sich zwar noch nicht viel geändert, aber alleine die Gemeinsamkeiten beim Adventskaffee und das schmücken des Raumes hatte doch schon einiges bewirkt.


    Für den 4. Advent hatte sich Julia etwas besonderes ausgedacht. Schon am 1. Adventssontag hatte sie den Bewohnern erklärt, sie sollen alle etwas, das sie nicht mehr brauchten, oder das ihnen nicht mehr gefällt, ein Geschenk, das sie schrecklich fänden aber trotzdem noch gut erhalten ist, in Geschenkpapier wickeln, hatte sie alle je einen Namen ihrer Mitbewohner ziehen lassen, die sie dann jeweils auf das ihr Päckchen kleben sollten.
    Sie hatte es ihnen als: „so ähnlich wie Julklapp aber viel lustiger“ erklärt.


    Am Sonntag den 4. Advent nun, als alle versammelt saßen, gemütlich bei Kaffee und Plätzchen, sammelte sie all die Päckchen auf einem Stapel und anschließend verteilte sie sie an die jeweiligen Inhaber der aufgeklebten Namensschildchen.


    Als das auswickeln losging, fingen die ersten zu lachen an. „Oh nein, ein Nußknacker, der so häßlich ist, daß er schon fast wieder schön ist“ lachte eine ältere Dame. Eine anderer Herr wirkte ebenfalls sehr amüsiert, als er einen Aschenbecher, verziert mit einem grünen Drachen auswickelte.
    So ging es weiter und die Stimmung wurde immer lauter und fröhlicher.
    So ein verrücktes Julklapp habe ich noch nie mitgemacht, meinte Omi Anni lachend.
    „Das ist ja auch kein Julklapp, sondern etwas viel besseres, Schrotteln ist das und macht garantiert gute Laune“ erwiderte Julia grinsend. „Ich mache das jedes Jahr und dachte mir, das wäre doch genau das richtige, um die Stimmung aufzuheitern.


    Als die Stimmung sich etwas beruhigt hatte, meinte Julia, sie hätte noch eine Überraschung für die Bewohner. „Eigentlich wollte ich ja bis Heiligabend warten, es Euch mitzuteilen, aber ich freue mich selber gerade so, daß es geklappt hat, daß ich es Euch heute schon erzähle.“
    Gespannte Stille trat ein.


    „Ich habe den Besitzer dieses Hauses aufgesucht und mit ihm verhandelt. Es war nicht ganz einfach aber schließlich hat er doch eingewilligt, mir das Haus zu verkaufen. Ich habe ja dank meiner verkorksten Ehe einiges an Geld bekommen und dachte mir, wo wäre es besser angelegt als hier. Ich habe eine Stiftung gegründet, die es ermöglicht, daß dieses Haus bestehen kann und ich möchte, daß wir aus diesem Haus ein fröhliches und schönes Haus machen. Im Januar beginnen wir zu streichen, ausnahmslos fröhliche Farben, die nötigen Umbaumaßnahmen sind bereits auch für Januar geplant. Auch habe ich die Personalfrage in die Wege geleitet, daß wir engagierte und gutbezahlte unterstützende Hände bekommen. Die Leitung werde ich selber übernehmen. Ich möchte gerne, daß diese Haus zu einem Ort wird, an dem sich alle wohlfühlen “


    Nachdem Julia geendet hatte, brach ein unbändiger Jubel aus und in einigen Augen glitzerte es verräterisch.
    „Das war also die Überraschung, von der Du gesprochen hast,“ fragte Omi Anni leise? „Ja, die Idee kam mir bereits am ersten Tag, als ich Dich besuchte und diese Trostlosigkeit hier spürte.
    Auch für mich ist es ein Neuanfang, ich habe das Gefühl etwas Schönes und befriedigendes zu machen und genau das ist es was ich brauche und das Beste daran ist, daß wir es zusammen machen können“.


    Omi Anni drückte Julias Hand und lächelte.

  • 19. Dezember 2016 von Kirsten S.



    Schneeflöckchen



    „Heute Abend erzähle ich euch eine ganz besondere Geschichte“, begann Oma Hilda die allabendliche Adventsstunde. Ronja und Timo kuschelten sich auf die warme Wolldecke, die in Omas Wohnzimmer auf dem Boden vor dem Kaminofen lag. Oma Hilda saß in ihrem großen, hellbraunen Ohrensessel. Neben ihr, auf einem Beistelltischchen, stand ein Adventskranz, an dem alle 4 Kerzen brannten. Es war der Tag nach dem 4. Advent.
    „Es war einmal …“, begann Oma Hilda, und die Augen ihrer Enkel begannen zu leuchten. Sie liebten Geschichten, die mit diesen drei Wörtern begannen.
    „Es war einmal eine kleine Schneeflocke. Die wünschte sich nichts sehnlicher, als einmal am Heiligen Abend bei einer Bescherung dabei zu sein. Schon unzählige Male hatte sie am Kreislauf des Wassers teilgenommen. Sie war in allen Meeren und Flüssen der Welt unterwegs gewesen, von den Sonnenstrahlen Richtung Himmel gezogen worden und als kleiner oder großer Regentropfen wieder auf die Erde gefallen. Im Winter als Schneeflocke durch die Lüfte zu segeln gefiel ihr aber am Besten. Vor allem, wenn sie dann auf einem Baum landete, und ihre Umgebung beobachten konnte, bis es so warm wurde, dass sie schmolz und wieder in Richtung Sonne schwebte.
    Sie liebte es, Kindern beim Schlitten fahren zuzusehen. Wie diese sich freuten und juchzten. Am schönsten war es aber, wenn sie das Glück hatte, vor Weihnachten auf einem Fenstersims oder einem Baum zu landen, von wo aus sie freie Sicht in die Wohnzimmer der Menschen hatte. Wenn das Christkind oder der Weihnachtsmann kamen, die Geschenke unter den Baum legten, und wenig später Kinder und Erwachsene glücklich zusammen saßen. Da quoll sie beinahe über vor lauter Freude. Mit jedem Mal, wenn das Schneeflöckchen das Glück hatte, bei einer Bescherung zuzusehen, war der Wunsch, das einmal im Zimmer miterleben zu können, größer geworden.“


    Oma Hilda trank einen Schluck warmen Tee und lächelte ihren Enkeln zu, die gebannt lauschten.


    „Da gerade Winter war, war sie also wieder eine Schneeflocke. Sie ritt auf dem kräftigen Nordwind in einer großen dunklen Wolke inmitten tausender anderer Flöckchen und bereitete sich auf den Sinkflug vor. Um sie herum brach ein Gekichere aus. Alle freuten sich ungemein. Der Nordwind pustete, wirbelte sie umher, und schon ging es abwärts. Sobald sie den Wind hinter sich gelassen hatten, schwebten sie in vollkommener Stille abwärts. Der Flug dauerte angenehm lange. Schneeflöckchen genoss es richtig, in Ruhe die schon verschneite Waldlandschaft und ein kleines Dörfchen, welches direkt neben dem Wald lag, zu betrachten. Es landete auf einer wunderschönen Tanne, und dachte sofort und auch ein wenig wehmütig: Das wäre ein wunderbarer Weihnachtsbaum.


    Wenig später ging die Sonne unter. Groß und rotgoldfarben tauchte sie die Schneelandschaft, die sich zu Füßen der Nordmannstanne ausbreitete, in ein geheimnisvolles Leuchten. Schneeflöckchen schlief ein, und erwachte irgendwann in der Nacht von einem leises Glockengebimmel. Ein goldener Schlitten, der von einem weißen Hirsch gezogen wurde, fuhr am Waldrand entlang. Er war in ein seltsames helles Licht getaucht, und in dem Schlitten saß …
    das Christkind, durchfuhr es Schneeflöckchen, und es meinte beinahe, ein Herzchen pochen zu spüren.
    „Halt“, rief es, und wunderte sich gleichzeitig. Seit wann konnte es sprechen?
    Das Christkind hielt an. Direkt vor dem Schneeflöckchen, das nun wieder sprachlos war.
    „Guten Abend, liebe kleine Schneeflocke.“
    „Hallo.“
    „Du hast mit Sicherheit einen Wunsch, das kann ich spüren.“
    „Woher…?“
    „Ich bin das Christkind.“
    Natürlich. Und dann erzählte das weiße Flöckchen von seinem innigsten Wunsch. Dass es gerne in einem der gemütlichen Zimmer dabei wäre, wenn die Bescherung stattfindet.
    „Den Wunsch kann ich dir erfüllen. Ich kann dich mitnehmen, ich kann dir auch einen Schutz mitgeben, der dich vor dem Schmelzen bewahrt. Allerdings nur für eine gewisse Zeit. Wenn der Zauber der heiligen Nacht vorüber geht, dann wirst du schmelzen, wie das Schneeflocken für gewöhnlich im Warmen tun. Und dann kann es sein, dass du nicht mehr in den großen Kreislauf des Wassers zurückkehren kannst.“
    „Das wäre mir egal. Ich bin schon so lange unterwegs. Wenn das wirklich so geschehen sollte, dann soll es so sein.“


    Das Christkind nahm Schneeflöckchen mit in ein kleines Haus und setzte es auf einen wundervoll geschmückten Weihnachtsbaum. Anschließend zündete es wie von Zauberhand die Christbaumkerzen an. Der Kerzenschein spiegelte sich in den bunten Kugeln wider, und dem Flöckchen wurde es innerlich ganz warm. Eine Glocke läutete hell, und schon öffnete sich die Wohnzimmertür und drei Kinder kamen andächtig herein. Zwei Mädchen und ein Junge, gefolgt von ihren Eltern und Großeltern. Alle setzten sich, und eine der älteren Damen las die Weihnachtsgeschichte vor.


    Schneeflöckchen staunte und freute sich gleichzeitig, da es nun wusste, was es mit dem Christkind auf sich hatte. Nach dem Vorlesen wurde gesungen und musiziert, und dann Geschenke ausgepackt. Alle waren fröhlich und lachten miteinander und erzählten sich weitere Geschichten. Schneeflöckchen war so versunken in diese herrliche Stimmung, dass es gar nicht bemerkte, wie der Schutzzauber verschwand. Ein kleines Mädchen stand vor ihm und blickte es mit großen Augen an. Flöckchen erschrak kurz, wurde zu Wasser und fiel als Tropfen vom Tannenzweig.“


    Oma Hilda schwieg andächtig. Ronja und Timo wagten kaum zu atmen.


    „Und seither habe ich hier, direkt über meinem Herzen ein Mal, und weiß alles, was die kleine Schneeflocke in ihrem langen Leben erlebt hat“, erzählte Oma weiter und zeigte ihren Enkelkindern dann einen hellen Fleck auf ihrer Haut, der wirklich aussah, wie eine kleine Schneeflocke.
    War das wirklich so geschehen, oder hat Oma sich das nur ausgedacht?, staunte Timo. Denn im Geschichten erzählen und erfinden war Oma Hilda wirklich spitze.

  • 20. Dezember 2016 von rienchen



    The Heart Of Saturday Night



    Sie saßen im Asiagourmet im Bahnhof Friedrichstraße, das eher einer Bude als einem Restaurant glich und starren auf ihre Teller. Atze hatte sie schon beim Betreten des zugigen Ladens gesehen, in sich zusammengekauert an dem einzigen Tisch, an dem es noch einen Sitzplatz gab. Widerwillig murmelnd: "Is' hier noch frei?" Lea versuchte ein Lächeln, "Ja, sicher", aber ihre geröteten Augen sagten alles.


    Darauf hatte er echt keinen Nerv. Scheiß Weihnachten. Lasst mich alle in Ruhe damit. Mit Euren Märkten, Eurer Gefühlsduselei, Eurem bescheuerten Gott, den es nicht gibt, Eurer Illusion von Liebe, Euren Emotionsbaustellen, Mitgefühlsduseleien, gepanschtem Glühwein, dem neuesten Smartphone und der Playstation unterm gemeinsam geschlagenen Familientannenbaum, bevor es Tränen gab, weil der Ehemann die wirklich aufregenden Geschenke in seine heimliche Geliebte investierte. Ihr Selbstbetrüger. Stellt Lichtergesindel auf und denkt, alles sei in Ordnung. Betet einmal im Jahr, obwohl die Welt sowieso im Eimer ist. Kauft Tafel – Schokolade im überteuerten Biosupermarkt für Besserverdienende und entdeckt einmal im Jahr Euer Gewissen für die Vergessenen der Gesellschaft, während ihr fetter und fetter werdet. Es könnte ihm eigentlich egal sein, er wohnte allein, pflegte sein lässiges Singledasein, niemand störte und würde ihn jemals stören. Außer Obi, seinem blauen Papageien, aber der war ihm eben zugeflogen. Das hatte er sich nicht ausgesucht. Als er in den letzten Tagen öfters Last Christmas pfiff, hängte er irgendwann einfach ein großes Tuch über seinen Käfig, was das Tier nur noch kräftiger trällern ließ, bis er es wieder vom Stoff befreite. Blöder Vogel. Einmal erwischte er sich sogar dabei, wie er leise mitsummte. Es war ihm erst am Abend aufgefallen, als die Kirchenglocken nicht mehr zu läuten aufhörten, dass ja Heilig Abend war und er nicht wirklich was zum Essen im Haus hatte. Während alle anderen üppig an Gewicht zulegten, nahm er ab. Und sah gut aus.


    Der Späti an der Ecke hatte schon zu, wie er fluchend feststellte, das ging wirklich zu weit. In Berlin! Seine Freunde, auf deren misanthropische Ader in der Regel Verlass war, hatten sich nach und nach verabschiedet Richtung Familie, um dort Weihnachten zu feiern, was er spöttisch belächelte. Menschen waren schwach, wenn es um anerlernte, unsinnige Bräuche ging. Dicke Flocken Schnee tanzten im Wind, als hätten sie Freude an dem ganzen Mist. Kurzentschlossen schlug er den Kragen seiner Lederjacke hoch, setzte sich in die nächste Bahn, machte sich nichts aus den üblichen MOTZ- Verkäufern mit ihren Kötern, wich Dönerresten auf dem Boden aus, ignorierte den Gestank und ließ sich einfach treiben. Es war fast beruhigend meditativ, wie leer sich die Stadt im Gegensatz zu den letzten Tagen anfühlte, nach dem sich unausweichlich steigernden Weihnachtscountdown. Sonntagsshopping. Kaufen Sie stressfrei. Und möglichst viel. Denken Sie groß! Keine Menschentrauben, kein Gedränge, keine Hast wegen Nichtigkeiten. Nächster Halt: Friedrichstraße und er fuhr Rolltreppen rauf und runter, guckte sich die Schaufensterauslagen an, die kein bisschen leergekauft wirkten, wunderte sich über einen verzweifelnd aussehenden Mann mit neongelbem Smileyluftballon, der von einem Wachmann aus dem NANU NANA geschoben wurde (Das Geschäft wird nun geschlossen, basta! Is‘ Heilig Abend!) und ihn flehend anblickte. "Was mach ich denn jetzt?", wimmerte der Typ in Atzes Richtung, der daraufhin mit den Schultern zuckte, ihm eine Zigarette anbot und ihm aufmunternd auf den Rücken klopfte. Er hatte jetzt aber auch echt langsam Hunger. Asiatisch, okay. Ein Platz schien ja noch frei.


    "Wollen Sie denn gar nichts essen?"


    Lea schob ihren Teller Minifrühlingsrollen zu ihm rüber. Der Mann sah traurig aus. Oder hungrig. Oder beides. Das war ihr sofort aufgefallen, als er diesen windigen, trostlosen Laden vorhin betreten hatte. Sie liebte Weihnachten. Die Lichter überall, der Duft, der durch die Straßen zog, aus den offen gelassenen Küchenfenstern, aus den Wohnungen, in denen Leben wohnte, gesungen, geliebt, gestritten und sich vertragen wurde. Wenn das denn noch ging, das mit dem Vertragen. Sofort musste sie schlucken und die Tränen bekämpfen. Marc, dieser Arsch.


    "Ich wollte mir sowieso noch eine Suppe holen, essen Sie ruhig, wirklich!"


    Diese doofe Pute, was dachte die sich eigentlich? Dass er irgendein Penner sei oder was? Weil er sich an Heilig Abend allein in ein Bahnhofslokal verirrte? Oder stimmte mit seinen Klamotten was nicht? Aber bevor er was erwidern konnte, wurde schon eine große Schüssel Suppe vor ihnen abgestellt. "Udon für Verliebte", flötete der Mann in der weißen Schürze und Atze verschluckte sich, obwohl er noch gar nichts gegessen hatte, griff dann aber langsam nach einer Gabel und pickte ein Röllchen.


    "Danke. Wir sind nicht...nee!"


    Großer Gott. Diese irgendwie spießig aussehende Tante mit ihren farblosen Klamotten. Sie hatte ein bisschen Farbe an den Wangen bekommen, als wäre sie durch eisigen Wind gelaufen oder sowas, sie schob verlegen eine Papierserviette hin und her und er schämte sich plötzlich. Eine hübsche, sehr hübsche Frau, wie er nun feststellte, ungefähr in seinem Alter, teilte einfach so sein Essen mir ihm, warum auch immer.


    "Ich… auch 'n Bier?"


    Er ging zum Kühlschrank, nahm zwei Lager (Frauen mögen, wenn überhaupt, nur Lagerbier), öffnete die Flaschen mit seinem Zippo und hielt ihr eine hin, als handele es sich dabei um eine Bouteille besten Rotweins.


    "Hier! Trink mal 'nen Schluck, entspannt!"


    Sie schniefte. Atze seufzte innerlich, während er mit den Fingern auf der Tischkante trommelte, seinen Stuhl nach hinten kippen ließ und einen tiefen Zug nahm. War ja klar. Emotional verzweifelte Frau. Da ging er einmal raus aus seiner Bude.


    "Scheiß Weihnachten, wa? Hat das Christkindchen nix gebracht? Oder war Dein Gott sauer auf Dich? Hat Dich Dein Männe betrogen?"


    Er grinste. Klarer Fall von Desillusionierung nach überzogener Erwartungshaltung. Sie schluckte. Und da saßen sie nun, im Asia Gourmet und starrten auf ihre Teller. Lea schob die Serviette beiseite und stand auf. Ganz ruhig zog sie ihren Mantel an, legte einen Zwanziger auf den Tisch und ging Richtung Tür. "Frohe Weihnachten Euch", nickte sie in Richtung Küche. Atze stutzte und als er sich den Hals nach ihr verrenkte, verlor er das Gleichgewicht und kippte mit dem Stuhl nach hinten.


    "Mist, verdammter… Du hast was vergessen!"


    Außer Atem holte er Lea ein, sie lief die Treppen rauf zum Ausgang, Atze keuchte.


    "Meine Güte, wo willste denn hin, warum hauste einfach ab? Hier, Du hast was vergessen! Die lagen neben Deinem Stuhl."


    "Was willst Du…?"
    "Atze.“
    "Atze. Was willst Du, Atze? Geh doch einfach weiter. Kümmer Dich nicht um mich. Es geht mir gut. Nein, das stimmt nicht. Es ging mir schon mal besser. Ich hatte Streit mit meinem Freund... nein, seit heute Ex- Freund, und diese blöden Pralinen da in Deiner Hand, die hat er mir geschenkt. Zu Weihnachten. Ich mag aber keine Pralinen. Aber ich liebe Weihnachten, sehr sogar. Also iss sie oder was auch immer, aber ich, ich gehe jetzt feiern. Auf meine Weise. Das lasse ich mir nicht vermiesen. Nicht von meinem Ex, nicht von Dir, von niemandem."


    Jetzt funkelte sie endgültig, ihre Wangen glühten und die Augen glänzten, ihr Mund blieb noch ein bisschen offen, bevor sie die Lippen aufeinander presste, ihn nochmal wütend anblitze, sich umdrehte und den Schal über die Schulter schmiss. Wow, dachte Atze und strich sich fahrig die Haare glatt. Und dann ging er ihr einfach hinterher. In sicherem Abstand, Zigarette rauchend, manchmal auffällig hustend. Er war ja kein Stalker. Und auf der Weidendammer Brücke, da blieb sie endlich stehen und wartete auf ihn. Sie standen dort nebeneinander, blickten auf die Spree und schwiegen. Ab und zu schrie ein Vogel in der Dunkelheit, die Stille war nicht unangenehm.


    "Zigarette?"
    "Ich rauche nicht."
    "Was hast Du ihm geschenkt?", fragte Atze.
    "Mixtapes."


    Lea blickte in den Himmel.


    "Ich habe ihm Mixtapes geschenkt. Alle, die ich wiedergefunden habe. Zuhause, in meinem alten Jugendzimmer, im Keller, auf dem Speicher, bei Freunden, einfach alle. Die wir uns früher gegenseitig auf dem Schulhof verschämt zugesteckt haben. Tom Waits, Pink Floyd, David Bowie und so. Und den Walkman, den ich habe ich auch noch in einer Kiste gefunden und wieder flott gemacht."


    Atze schnalzte. Nicht schlecht. Ein Herzensgeschenk. Und dieser Idiot?


    "Und dieser Typ - der schenkt Dir... Pralinen?" Er hielt die Schachtel immer noch und betrachtete sie. Fruchtiges Glück. Feine Mischung aus Himbeer- und Zitronentrüffeln. Lea zuckte mit den Schultern.


    "Ja. Ich bin... Es hat nicht so geklappt mit Kindern, weißt Du. Seine Art von Humor."


    Sie liefen weiter am Ufer entlang, die Museumsinsel erleuchtet am anderen Ufer, im Monbijou Park lagen ein paar Obdachlose unter den Bahn - Bögen, aber alles war friedlich und sanft. Es war fast windstill und es schneite nicht mehr, die Stadt schien bezuckert. Ab und zu berührten sich ihre Schultern ein wenig, wenn der Weg zu eng oder uneben wurde. Als die Domglocken ganz in der Nähe läuteten, blieb Lea stehen.


    "Atze?"
    "Ja...?"
    "Lea."
    "Lea. Ja, Lea?"
    "Ich möchte jetzt Weihnachten feiern. Ich möchte jetzt beten."
    "Was?"
    "Ich möchte jetzt beten."
    "Spinnst Du?"
    "Nein. Ich möchte jetzt beten."


    Atze sog gierig an seiner Zigarette und wünschte, es wäre wenigstens ein bisschen was Stärkeres darin, dann schnippte er sie auf den Boden und trat ordentlich feste drauf. Beten, ey. Die sind alle bekloppt mit ihren Vollmeisen.


    "Na gut, dann mach. Muss ich dabei irgendwas beachten oder was?"


    Sie lächelte, glaubte er zumindest. Sie stand schon längst einfach so da, neben ihm, faltete die Hände und murmelte leise vor sich hin. Was ihn erstaunlicherweise sehr beruhigte. Er dachte an früher, an seine Mutter, die den Tannenbaum schmückte, er reichte ihr Kugel um Kugel, sie summte, bis er mitsummte und sie schließlich beide lauthals sangen. Wie lange war das schon her, dieses von Allem unangetastete, reine Glück ohne Hintergedanken, voller Güte. Er fühlte sich plötzlich tief erwärmt und behaglich in dieser kalten Nacht mit einem fremden Menschen an seiner Seite. Angenehm.


    "So!" Lea atmete tief ein.
    "So?"
    "Frohe Weihnachten, Atze."
    "Ja, Dir… auch. Froh… schöne Weih... dings".
    "Gibst Du mir jetzt doch 'ne Zigarette?"
    "Warum hast Du gebetet? Ich mein'... wofür? Und zu welchem Gott, zum einzig richtigen?"
    "Für nichts. Ich habe mich nur bedankt. Bei wem auch immer. Dass jetzt alles so ist, wie es ist. Dass ich jetzt so bin, wie ich jetzt bin. Genau hier, an diesem Ort. In einer kalten Nacht mit einem anderen Menschen, warum auch immer."



    Sie standen da und rauchten.
    Und als die Kirchenglocke Mitternacht schlug, da warfen sie alle Pralinen nacheinander in den dunklen Fluss, wie Kinder das mit Steinen machten und kicherten.




    Ich wünsche Euch allen wunderbare Weihnachten!