Rochus Misch - Der letzte Zeuge: Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter

  • Taschenbuch: 336 Seiten
    Verlag: Piper Taschenbuch
    erschienen am 21. November 2009


    zum Autor:
    Rochus Misch, geboren 1917, der nie Mitglied der NSDAP war, wurde mit seinem Gardemaß von 1,85 m nach der Musterung für die Leibstandarte SS Adolf Hitler ausgewählt. Ab 1940 arbeitete er bis Kriegsende als Leibwächter, Kurier und Telefonist Hitlers. Nach Hitlers Tod geriet er für neun Jahre in russische Kriegsgefangenschaft. Am 5. September 2013 starb Rochus Misch.

    meine Meinung:
    Inzwischen haben Chronisten und Historiker nahezu alles über die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten im Dritten Reich herausgefunden und veröffentlicht. Je mehr darüber zu erfahren war, desto unglaublicher klingen die Sätze der Zeitzeugen, dass sie von allem nichts gewusst haben. Auch Rochus Misch beteuert in seiner Lebensgeschichte, dass er trotz der Nähe zum damaligen Reichskanzler nichts gewusst habe. Ich glaube ihm das.


    Der Telefonist, Kurier und Leibwächter Hitlers war gut fünf Jahre im Dienst. Er bewarb sich nicht auf den Posten, sondern wurde ausgewählt. Wenn man die Zeilen liest, wird deutlich, dass hier ein pflichtbewusster Mann seine Tätigkeit gewissenhaft ausüben wollte. Er dachte nicht weiter darüber nach, dass sein Chef ein Diktator war und was das für Konsequenzen für die Menschen hatte. Es war eine harte Zeit und er nutzte sie, so gut er konnte, um für seine Verlobte und später für seine Familie zu sorgen. Ein derartiges Verhalten war auch damals legitim.


    Misch plaudert mit Sandra Zarrinbal und Burkhard Nachtigall über seine Erlebnisse im Hitlerdeutschland. So entsteht ein Buch, das in der langen Reihe der Dokumentationen seine Berechtigung findet. Die Perspektive des Bediensteten, der zwar mit dem Befehlsgeber auf Tuchfühlung lebte, aber dennoch nicht über strategischen Entscheidungen informiert war, füllt eine Lücke zwischen reiner Kriegsdokumentation und den Biografien des Widerstands. Das Attentat des Schenk Graf von Stauffenbergs bekommt hier eine ganz andere Wertung. Der Erzähler hatte zu der Zeit keinen Dienst und hört das Geschehen aus zweiter Hand.


    Bekannte Fakten werden hier aus einer anderen Sicht geschildert und fantasievolle Hollywoodfilme mit Mischs Meinung und Einschätzungen relativiert. Stets klingt es plausibel, was er vertritt. Es werden ranghohe Größen erwähnt und ihnen ein menschliches Gewand verpasst. Das ist am Text so beeindruckend, dass der Leser die unmenschlichen Gewalttaten inzwischen kennt, aber die Befehlsgeber doch auch immer sehr privat wirken. Dennoch ist das Buch weit davon entfernt, alles zu verharmlosen. Misch zeigt seine stille Hoffnung auf Entlassung nach dem Selbstmord des Führers und seine Ohnmacht bei der Tötung der Göbels-Kinder. Hier schafft er, nicht nur für sich Empathie zu wecken.


    Rochus Misch führte zweifellos ein aufreibendes Leben, das er nie an die große Glocke hing. In seinen 96 Lebensjahren hat er gerade wegen seiner Angehörigkeit zur SS immer wieder Negatives aushalten müssen. Auch den Lebensabschnitt nach den neun Jahren Kriegsgefangenschaft schildert er schnörkellos und ohne Beschönigung. Es war halt nicht anders. So schließt er mit den Worten: „Zu meiner Zeit reichte meine Kraft nur für ein Soldatenschicksal.“


    Das Buch ist mit einer detaillierten Literaturliste und einem Personenregister versehen. Zusätzlich zu den zahlreichen Anmerkungen zum besseren Verständnis, das es eigentlich nicht benötigt, gibt es ein Vor- und ein Nachwort. Hier kommen Ralph Giordano und Sandra Zarrinbal zu Wort und dürfen ihre Meinung zum Lebensbericht kundtun. Warum das immer überkritisch sein muss, sei mal dahingestellt. Eine Biografie zeichnet ein gelebtes Leben nach und die Hauptperson darf darin auch ihre Meinung vertreten. Andere dürfen andere Meinungen haben. Das nennt sich Toleranz.

  • Zitat

    Auch Rochus Misch beteuert in seiner Lebensgeschichte, dass er trotz der Nähe zum damaligen Reichskanzler nichts gewusst habe. Ich glaube ihm das.


    Darf ich fragen warum?


    Ich glaub das keinem. Meine Familie ist klein und unbedeutend. Aber mütterlicherseits hat die Oma Kriegsgefangenen Butterbrote zugesteckt, obwohl sie wusste, was passiert, wenn sie erwischt wird. Und der Opa. Der hatte einen Bruder in der SS, der gesagt hat: ich kann dafür sorgen, dass Du auch aufgenommen wirst, dann musst Du nicht in den Krieg. Mein Opa wollte nicht, weil er wusste, was die SS tut, und war dann lange in Kriegsgefangenschaft in Russland. Wenn schon in meiner kleinen, unwichtigen Familie alle alles wussten. Kann mir jemand, der direkt für Hitler arbeitete, nicht das Gegenteil erzählen.

    Man möchte manchmal Kannibale sein, nicht um den oder jenen aufzufressen, sondern um ihn auszukotzen.


    Johann Nepomuk Nestroy
    (1801 - 1862), österreichischer Dramatiker, Schauspieler und Bühnenautor

  • Zitat

    Original von Frettchen


    Darf ich fragen warum?


    Ich glaub das keinem. Meine Familie ist klein und unbedeutend. Aber mütterlicherseits hat die Oma Kriegsgefangenen Butterbrote zugesteckt, obwohl sie wusste, was passiert, wenn sie erwischt wird. Und der Opa. Der hatte einen Bruder in der SS, der gesagt hat: ich kann dafür sorgen, dass Du auch aufgenommen wirst, dann musst Du nicht in den Krieg. Mein Opa wollte nicht, weil er wusste, was die SS tut, und war dann lange in Kriegsgefangenschaft in Russland. Wenn schon in meiner kleinen, unwichtigen Familie alle alles wussten. Kann mir jemand, der direkt für Hitler arbeitete, nicht das Gegenteil erzählen.


    Klar, darfst du fragen. Wenn man das Buch liest und zugrundelegst, dass es nicht von ihm geschrieben, sondern von den beiden erwähnten Interviewern in Worte gefasst wurde, ergibt das eine glaubhafte Perspektive. Über Monate haben die drei immer wieder recherchiert und die Erinnerungen, die Rochus gleich nach der Gefangenschaft notiert hatte, in eine Form gebracht. Das ist also nicht ein "Ich-wusste-nix-damit-mir-nix-passiert"-Bericht, sondern eine weitere Perspektive eines, wie ich es auch in der Rezi geschrieben hatte, pflichtbewussten Mannes, der seine Tätigkeit gewissenhaft ausüben wollte.