Gavin Extence - Libellen im Kopf

  • Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
    Verlag: Limes Verlag
    erschienen am 14. November 2016
    Originaltitel: The Mirror World of Melody Black


    zum Autor: (Quelle: Randomhouse)
    Gavin Extence, geboren 1982, lebt mit seiner Frau, seinen Kindern und einer Katze in Sheffield. Mit seinem Debütroman »Das unerhörte Leben des Alex Woods« schrieb er sich in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen. Der Roman wurde in Großbritannien mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, eroberte auch in Deutschland die Bestsellerliste und gehört zu den meistempfohlenen Büchern 2014. »Libellen im Kopf« ist der zweite Roman von Gavin Extence.


    zum Inhalt:
    Abby will sich nur schnell eine Dosen Tomaten von ihrem Nachbarn borgen. Dieser harmlose Wunsch löst eine Reihe von Folgen aus, die niemand vorhersehen konnte. Als sie bei Simon klingeln will, fällt ihr die offene Tür auf. Sie geht in die fremde Wohnung und findet ihren Nachbarn tot im Sessel. Statt sofort den Notarzt zu rufen, überlegt sie eine Zigarettenlänge, was zu tun ist. Ihrem Freund Beck erzählt sie anschließend unaufgeregt von ihrer Entdeckung und erklärt sich ihr Verhalten damit, dass sie Simon nicht gut kannte. Als Journalistin berichtet Abby darüber in einem persönlichen Zeitungsbericht, der negative Reaktionen hervorruft. Auch ihre Schwester bemerkt die Veränderungen von Abby und empfiehlt ihr, mit ihrer Therapeutin zu sprechen.


    meine Meinung:
    Was wie das Ende einer Geschichte klingt, ist allerdings erst der Anfang. Gavin Extence kreiert in seinem Roman nach Das unerhörte Leben des Alex Woods erneut eine außergewöhnliche Situation, mit der seine Protagonistin zurecht kommen muss. Dabei werden alle Arten von Emotionen angesprochen. Aus Abbys sicht erlebt der Leser ihre Gefühlsschwankungen mit. Was zunächst alltäglich aussieht, lässt uns beim zweiten Blick aufhorchen. Abbys Erzählung und das Verhalten ihres nächsten Umfelds wollen nicht recht zueinander passen. Als Journalistin bekommt sie zwar Aufträge, wie es üblich ist, aber man kann schon merken, dass es sie große Mühe kostet, ihren Job souverän zu erledigen. Ebenfalls in den Gesprächen mit ihrer Schwester und ihrem Freund erkennt man Differenzen zwischen dem Gesagten und Abbys Erinnerungen.


    Das gesamte Bild setzt sich aus vielen Mosaiksteinen zusammen und lässt einen Blick auf einen Menschen zu, der psychisch erkrankt ist. Der Auslöser ist hier eindeutig das Auffinden des toten Nachbarn, der die Symptome schneller hervortreten lässt. Da die Geschichte hier ihren Anfang hat, ahnt der Leser nichts von Abbys bisherigem Schicksal. Die Perspektive macht deutlich, wie sie sich selber sieht. In ihrer Welt lassen sich die Probleme noch durch ein paar Worte lösen. Leider ist das nicht so. Abby wird stationär eingewiesen und lernt, Verantwortung für sich zu übernehmen. Dass diese Beschreibungen nicht aus der Luft gegriffen sind, wird im Nachwort deutlich.


    Die Charaktere sind detailliert gezeichnet, sodass man auch die kleinsten Stimmungen zwischen den Zeilen nachfühlen kann. Durch die Ich-Form kommt man sehr nah an Abby heran und ist ihr natürlich am meisten verbunden. Aber auch Beck kann Empathie gewinnen, da er mit dem Auswirkungen am meisten getroffen ist. Das Leben in der Klinik wird vor allem von der aufkommenden Freundschaft zu einer weiteren Patientin dominiert. Hier verlangt der Autor viel von seinen Lesern, da die Gespräche der beiden eine Welt beschreiben, die den meisten verschlossen bleibt. Alles passt mit den Tabus und sensiblen Themen zusammen und lässt das Buch spannend wie ein Krimi werden. Der flüssige Erzählstil rundet das Leseerlebenis weiter ab. Der britische Autor hat bereits mit seinem Debüt ein hohes Niveau vorgelegt, das er mit seiner zweiten Veröffentlichung mühelos halten konnte. Libellen im Kopf ist wieder ein Lesetipp.

  • Abby Williams will sich nur schnell etwas von ihrem Nachbarn leihen und findet ihn tot in seinem Sessel vor. Die junge Frau lebt zusammen mit einem Partner und arbeitet offenbar freiberuflich als Journalistin. Nur merkwürdig, dass sie über ihren direkten Nachbarn nicht mehr weiß, als auf einen Notizzettel passt. Abbys eigenartiges Verhalten nach dem unerwarteten Todesfall ließ mich zweifeln, ob Abby wirklich erwachsen ist. Die Zumutungen des Alltags lassen sie aus der Realität driften und die Befürchtung verdichteten sich mit jeder gelesenen Seite, dass sie psychisch krank sein muss. Dass Abby selbst als Icherzählerin berichtet, verstärkte meine Beklemmung angesichts der Risse in ihrer Realität. Wie sieht ihr Partner Beck eigentlich die Dinge, könnte man sich fragen. Die eigene Krankheit nicht wahrnehmen können, keinen anderen Standpunkt gelten lassen als den eigenen, ist Bestandteil der Krankheit. Für den Betroffenen ist der eigene Zustand Normalität; nur Außenstehenden verursacht er eine Gänsehaut. Abby ist mittlerweile bei der dritten Therapeutin in Behandlung; die Rechnung zahlt ihr Vater. Gavin Extence’s Hauptfigur ist intelligent, in der Lage andere zu manipulieren und deutlich zwanghaft in ihrem Verhalten. Mit Emotionen hat sie Probleme und hält sich lieber an Fakten. Spätestens, wenn von Renovierungs-Wahn und Shopping-Orgien die Rede ist, dämmert jenen Lesern die Diagnose bipolare Störung, die schon mit manisch-depressiven Patienten zu tun hatten. Während man wie im Krimi Detail für Detail aus Abbys Leben aufsaugt, bis sie sich zu einem stimmigen Bild zusammenfügen, geht es mit der Patientin rapide bergab. Sie muss stationär aufgenommen und medikamentös eingestellt werden. In der Psychiatrie trifft Abby auf Melody Black, die ihr die Theorie nahelegt, dass psychisch Kranke in einer eigenen Parallelwelt leben, zu der andere keinen Zugang haben. Die Wende vom inneren Chaos zu einem versöhnlichen Schluss leiten Becks Briefe an Abby ein, der sie in der Klinik nicht besuchen darf. Sie liefern die zweite Perspektive, die Abby selbst nicht wahrnehmen kann. Zur Wende trägt erheblich die Schriftstellerin Miranda bei, die Abby im Wissen um deren psychische Krankheit einen Job anbietet.


    Romane über Patienten mit bipolarer Störung waren bisher oft aus der Sicht von Ehepartnern oder Kindern als Mitbetroffene geschrieben. In einfühlsamer, sehr rund wirkender Sprache beschreibt Gavin Extence hier einen psychischen Zustand, der ihm selbst nicht fremd ist, wie er im Nachwort offenbart.


    10 von 10 Punkten


    Englische Ausgabe zur Zeit 0,99€