Tom Liehr - Landeier

  • Titel: Landeier
    Autor: Tom Liehr
    ISBN: 978-3-499-290428
    Originalausgabe : November 2016
    Verlag: Rowohlt Polaris
    Seiten: 316


    Beschreibung laut Klappentext:
    Sebastian Kunze ist als Großstadtmensch gescheitert. Er landet mit Frau und Tochter in der brandenburgischen Provinz, denn Melanie ist Psychotherapeutin, und auf dem Land gibt es was sie braucht: einen Kassensitz und therapeutischbedürftige Menschen. Doch die ländliche Realität zwischen gutenständen und Landgaststätten hält für das Paar einige Überraschungen bereit. Melanie traut sich bald kaum mehr auf die Straße – wegen all der „Bescheuerten“. Sebastian hingegen lernt die Überschaubarkeit des neuen Lebens zu schätzen.


    Meine Meinung:
    Tom Liehr glänzt erneut mit einem Buch voller Wortwitz und Wortgestaltung. Der Schreibstil ist so, dass es dem Leser schwer fällt, das Buch zur Nachtruhe wegzulegen.


    Der Leser lernt das hektische Großstadtleben kennen und dazu im Gegensatz das ruhige Landleben. Und trotzdem gibt es bei Liehr nicht in klischeehaften Episoden.
    Schön, dass in Brunn noch gegrüßt wird. Das ist so viel schöner als die Anonymität der Großstadt.


    Herrlich ist die Beschreibung des rückwärts gebauten Hauses in Brunn. Dort kann man auch einen teuren Sportwagen auf der Straße stehen lassen – ja sogar am Rande der Landstraße mehrere Tage.


    Gut hat mir auch der Verein Prosa im Spreewald gefallen. Herrlich unkomplizierte normale Menschen.


    Fazit:
    Ein ganz tolles Buch. Empfehlenswert.
    Volle Punktzahl!!

    Don't live down to expectations. Go out there and do something remarkable.
    Wendy Wasserstein

  • Da ich hier als Bewohnerin eines kleinstädtischen Idylls einen Leseeindruck über "Landeier" schreibe, ist es mir gleich ein Bedürfnis klarzustellen, dass es in der Geschichte nicht darum geht, gängige Klischees über die Landbevölkerung zu thematisieren, sie durch den Kakao zu ziehen und auf ihre Kosten billige Lacher zu erzeugen. Wäre das der Fall gewesen, hätte mir die Geschichte über den "Großstadtfreak" Sebastian Kunze nicht so gut gefallen, wie sie es getan hat. Klar wird der ein oder andere Fakt des Landlebens herangezogen, wie zum Beispiel die schlechten Verbindungen oder das man vieles über seine Mitmenschen weiß, aber es passt zur Handlung und wird absolut charmant beschrieben. Als Bonus sozusagen wird gleichzeitig mit den Bilderbuchvorstellungen der Großstädter von der ländlichen Idylle aufgeräumt. Was im brandenburgischen Land allerdings für Typen herumlaufen ist echt beängstigend, die gibt es hier in den bayerischen Landen nicht, ich schwöre es ;-)


    Was also ist Landeier, wenn nicht eine Verulkung der Landbevölkerung? Für mich ist es die Geschichte der Entwicklung eines egostischen Eigenbrötlers mit Größenwahn zu einem annehmbaren Vertreter der menschlichen Rasse. Die Rede ist von Sebastian Kunze, der unterhaltsam unsympathisch dargestellt wird. Immer wieder fragt man sich, wie er zu einer derart patenten Frau wie Melanie und einem derart treuen Freund wie Thorben kommt. Mittendrin blitzen allerdings immer wieder kleine Details auf, die hoffen lassen, dass mehr in diesem Sebastian Kunze steckt, als er aktuell zeigt. Leider macht er die Entwicklung zum Positiven nicht freiwillig, sondern ein Karriereeinbruch und Machenschaften seiner Frau Melanie zwingen ihn dazu, seine künstliche Lebensblase zu verlassen und sich mit wahren Menschen und echtem Leben zu beschäftigen, zum Beispiel mit seiner absolut anbetungswürdigen kleinen Tochter Lara. Es ist sehr schön zu verfolgen, welche Fortschritte Sebastian macht, man hofft mit ihm und leidet mit ihm.


    Er ist der Beweis dafür, dass die Hauptfigur einer Geschichte nicht sympatisch sein muss, damit man als Leser gefesselt wird. Von mir gibt es die volle Punktzahl und den Wunsch davon zu lesen, wie aus Melanie und Sebastian ein Paar wurde. Ich stelle mir da eine echt außergewöhnliche Liebesgeschichte vor :grin

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Der eher unsympathische Journalist Sebastian Kunze zieht mit seiner Frau Melanie unfreiwillig von Berlin ins Land der Spreewaldgurken. Die Annehmlichkeiten der Großstadt und das neue Landleben werden aus Sicht von Sebastian Kunze sehr plastisch geschildert. Dabei geht es in diesem Buch nicht um die oberflächliche Darstellung des ländlichen Lebens mit allem drum und dran. Auch wenn lebhafte Schilderungen desselben nicht zu kurz kommen.


    Vielmehr geht es um Sebastians Beziehung zu seiner Frau Melanie und zu seiner Tochter. Über diese Beziehung mit ihren Hochs und Tiefs wird alles andere als oberflächlich geschrieben. Und tiefgründig geht es auch um Sebastians Sicht von sich selbst, der Entwicklung seiner eigenen Person und sein Denken über, von und an Personen die ihm wichtig sind, oder es werden.


    Diesen Entwicklungsprozess liest man mit lockeren und leichten Worten, in einer Schreibweise, die es mir schwer gemacht haben, das Buch aus der Hand zu legen. Gefühle kommen auf keinen Fall zu kurz. Als Leserin habe ich in der Geschichte mitgelebt. Langeweile kam nie auf, vielmehr war permanent die Neugier vorhanden, wie es weitergeht. Selbst am Ende angelangt, hätte ich gerne noch mehr Zeit in dieser Geschichte verbracht.
    Hinzu kommen wunderbar ausgearbeitete Charaktere der Haupt- und Nebendarsteller, welche die "Landeier" zu einem Leseerlebnis machen.


    Auch von mir gibt es die volle Punktzahl!

  • Obwohl Sebastian Kunze schwer damit zu kämpfen hat, dass seine Frau ein Haus auf dem Land (im Spreewald) gekauft hat, ändert er irgendwann seine Meinung. Selbst zu seiner Tochter mit der er sich vorher kaum beschäftigt hat, baut er langsam aber sicher eine Vater-Tochter-Beziehung auf. Was mir sehr gut gefallen hat.


    Langsam baut er Freundschaften in Brunn auf gerade die drei aus der Autorengruppe haben es ihm angetan. Eines Tages lädt er sie nach Berlin ein. Wie verläuft der Abend für Basti? Trifft er hier den Entschluss alles aufs Spiel zu setzen oder bekommt er nochmal die Kurve? ...


    Viel Wortwitz entlocken einem Lacher für Zwischendurch und süße Szenen, die Basti dann doch noch liebenswert machen. :-)


    Es war wieder ein Liehr, den ich mit viel Freude gelesen habe und auch von mir enthält er die volle Punktzahl. Danke Tom, für unterhaltsame Lesestunden. :-)

    Zündet man eine Kerze an,erhält man Licht.Vertieft man sich in Bücher,wird einem Weisheit zuteil.Die Kerze erhellt die Stube, das Buch erleuchtet das Herz.


    (Sprichwort aus China)

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  • Sebastian und Melanie Kunze, vom Namen her ein Allerweltsehepaar, das mit seiner kleinen Tochter Lara aus der Großstadt Berlin aufs Land zieht. Soweit, so irreführend. Denn das, was so durchschnittlich und nicht übermäßig spannend klingt, ist der Hintergrund, auf dem Tom Liehr in gewohnt empathisch sezierender Weise ein kleines "Sittengemälde" des frühen 21. Jahrhunderts malt.


    Wir erleben die Geschichte des Journalisten Sebastian, der sich von einem Tag auf den anderen in einem völlig neuen Kontext wiederfindet. Eben noch der egozentrische arrogante Einzelgänger, jetzt der "Versuch" eines arbeitslosen Ehemanns, der seiner Frau, einer Psychotherapeutin, den Rücken freihält und zugleich seine eigentlich schon seit vier Jahren bestehende Vaterrolle entdeckt. Wie immer zeichnet Liehr seine Figuren (auch scheinbare Nebenrollen) liebevoll, pointiert und vielschichtig.


    Neu ist, dass er seinem Protagonisten ein gleichwertiges Gegenüber erschafft. Melanies Tagebuchauszüge sind in Sprache und Dramaturgie ein wunderbarer Kontrast zu den von Großspurigkeit auf der einen und Orientierungslosigkeit auf der anderen Seite bestimmten Erzählungen Sebastians. Die in meinen Augen interessantesten und schönsten Passagen schenkt der Autor dabei Melanie. Umgekehrt ist Sebastian in seinen "unsympathischen" Phasen am besten. Das Simple und Plakative ist eben nicht des Autors Sache.


    Tom Liehr zeigt auch bei "Landeier", wie gut er es versteht, zu beobachten und die Beobachtungen in eine Sprache zu fassen, die Lesegenuss garantiert. Als Stammleser Liehrs freue ich mich über einen weiteren Schritt seiner Entwicklung. Emotionen kommen offensiver vor, werden aber immer wieder "zurechtgerückt".


    Am Ende aber doch noch ein kritischer Punkt: Das Buch ist schlicht und einfach zu kurz. Die einzelnen Handlungsstränge und Figuren hätten mehr Buchseiten verdient gehabt. Langweilig wäre es sicher nicht geworden.

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Wieder einmal ist Tom Liehr ein sehr guter Roman gelungen. Ein Buch voller Wortwitz,mit seinen Liehr-typischen Wortfindungen und einem eigenen lockeren, sehr guten Schreibstil, der einen so in den Bann zieht, dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann.


    Berlin und Brunn. Großstadt und Landleben. Ein am Anfang nicht sehr sympathischer Protagonist. Beißender Großstadtjournalismus, ländliche Prosa. Arroganz gegen Unkompliziertheit. Egoismus gegen Freundschaften.


    Tom Liehr beschreibt gekonnt die Entwicklung des Egozentrikers Sebastian, der seinen Job in Berlin verliert und mit seiner Frau und Tochter in das ländliche Brunn ziehen muss. Nicht nur die sehr bildliche Beschreibung dieser beiden Orte, sondern auch die Geschichte um Sebastian, seiner Ehe und der Beziehung zu seiner Tochter wird sehr lebendig, teils einfühlsam beschrieben. Wankelmütigkeit und Unentschlossenheit prägen den Protagonisten bei seiner Selbstfindung. Männerfreundschaften, ein Thema, das in vielen von Toms Büchern auftaucht, sind auch hier ein wichtiges Thema und der Autor schafft es auch hier wieder einmal sehr verschiedene, vielseitige und faszinierende Charaktere zu erschaffen. Chapeau.


    Für mich haben die „Landeier“ die volle Punktzahl verdient.

    :lesend Mary Kay Andrews - Winterfunkeln

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    Hörbuch: Andreas Föhr - Totholz

    SuB: 324

  • Ich habe mir vorgenommen, keine Rezis mehr zu schreiben von Romanen bei denen ich den oder die Verfasser/in kenne oder kennengelernt habe. Bei diesem Roman mache ich nochmals eine Ausnahme.


    Als Vielleser, oder zumindest als Leser der mehr Bücher liest als der Durchschnitt der Bevölkerung, fällt mir bei Tom Liehr von der ersten Seite an sein gewandter Sprach- bzw. Erzählstil sowie sein charmanter und manchmal ironischer Umgang mit den von ihm entworfenen Protagonisten positiv auf. Mit diesen beiden Punkten hebt er sich deutlich von der grossen Masse auf dem Buchmarkt ab. Ich habe soeben die Liste mit meinen Buchvorstellungen von diesem Jahr durchgesehen und ich habe nur zwei oder drei Romane gefunden, die ich qualitativ auf dem erzählerischen Niveau des Berliner Schriftstellers einsortieren würde. In dieser Beziehung ist und bleibt Tom Liehr erstklassig. Zudem hat er ein ungemein feines Gespür was in seinen Figuren vorgeht, was sie bewegt, was sie denken und wie sie manchmal entgegen aller Logik aus dem Moment heraus richtig oder falsch handeln, was vollkommen irritierendes sagen und ab und zu in Fettnäpfchen treten, die eigentlich gar nicht im Weg stehen. Manchmal überraschen sie einem aber auch positiv und zeigen ungeahnte Seiten ihrer facettenreichen Persönlichkeit. Den eines sind die Figuren bei Tom Liehr nie: Eintönig. Kurzum: Ein scharfer Beobachter des menschlichen Wesens erzählt von Menschen die menschlich handeln. Wunderbar.


    Inhaltlich geht es um die ganz normalen Durchschnittsbürger die ein gewöhnliches Leben inmitten unserer Gesellschaft führen. In diesem Fall heissen sie Melanie und Sebastian und leben in der Grossstadt Berlin. Sebastian ist Städter durch und durch und er hat daran zu knabbern, dass seine Frau Melanie ihn zum Auswandern bewegen will. Nein, nicht nach Indien oder Südamerika sondern "nur" in den ländlich gelegenen Spreewald, knapp eine Autostunde entfernt von der Hauptstadt. Was für den eingefleischten Berliner aber mehr oder weniger auf das Gleiche hinausläuft. Schlecht gelaunt fährt Sebastian, der soeben seinen Job als Kolumnist in einem bekannten Berliner Szenemagazin verloren hat, zur Besichtigung eines stattlichen Hauses in dem Melanie ihre psychotherapeutische Praxis eröffnen will und darin wohnen möchte. Da seine Frau noch eine andere Überraschung für Sebastian auf Lager hat, muss er zwangsläufig einige Tage auf dem Lande verbringen und sich mit den langweiligen "Landeier" auseinandersetzen.


    Das Grundthema mit den Stadtbewohner, die angeblich grosse Mühe haben, sich das Leben der Leute auf dem Land vorzustellen ist nicht neu und wurde schon vielfach in der Literatur sowie und Filmen und Fernsehserien verarbeitet. Liehr hat den Stoff in einer eigenständigen, mit viel klugem und situativem Wortwitz angereicherten Version verarbeitet die die Konsistenz von einem perfekt zubereiteten Viereinhalb-Minuten Ei besitzt. Den männlichen Protagonisten wird man nicht unbedingt mögen, er bringt aber alles mit, damit ein Spannungsbogen entsteht und der Roman funktioniert. Wie schon Churchill geschrieben hat: der Roman ist zu kurz. Ich hätte mir einerseits mehr Seiten gewünscht und das Ende hätte man möglicherweise anders gestalten können. "Hätte hätte Fahrradkette" wie ein bekannter Politiker sagte aber schlussendlich ist das eine Frage des persönlichen Geschmacks. Wertung: 8 oder 9 Eulenpunkte


    Für den Berliner Schriftsteller Tom Liehr bleibt zu hoffen, dass seine Frau nie auf die Idee kommt, sich irgendwo in ländlichen Regionen beruflich selbst verwirklichen zu wollen. Beispielsweise im rein zufällig gewählten Örtchen Altwarmbüchen bei Hannover. Grundsätzlich können Schriftsteller ihre Bücher ja überall schreiben, sogar auf dem niedersächsischen Lande. Falls Frau Liehr dies dennoch möchte, wäre die Fortsetzung zu diesem Roman wohl stark autobiografisch geprägt ... :lache

  • Danke dafür, sapperlot, dass Du mit Deinem Vorsatz noch einmal gebrochen hast. Am vorläufigen Ende eines wirklich ... interessanten Tages hat mich diese Besprechung sehr gefreut und meine Laune deutlich verbessert. Ich werte sie als Omen für den Abend. :-)

  • Titel: Landeier
    Autor: Tom Liehr
    Verlag: Rowohlt Polaris
    Erschienen: Oktober 2016
    Seitenzahl: 320
    ISBN-10: 3499290421
    ISBN-13: 978-3499290428
    Preis: 14.99 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Sebastian Kunze ist als Großstadtjournalist gescheitert. Er landet mit Frau und Tochter in der brandenburgischen Provinz, denn Melanie ist Psychotherapeutin, und auf dem Land gibt es, was sie braucht: Einen Kassensitz und therapiebedürftige Menschen. Doch die ländliche Realität zwischen Gurkenständen und Landgaststätten hält für das Paar einige Überraschungen bereit. Melanie traut sich bald kaum mehr auf die Straße - wegen all der "Bescheuerten". Sebastian hingegen lernt die Überschaubarkeit des neuen Lebens zu schätzen …


    Der Autor:
    Tom Liehr, geboren 1962 in Berlin, war Redakteur bei P.M., 1990 Sieger und Drittplazierter des ersten "Playboy-Literaturwettbewerbs", seither diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Langjähriger Vorsitzender der "42erAutoren". Zwischenzeitlich tätig als Computerverkäufer, Unternehmensberater, Rundfunkproduzent und Diskjockey. Seit 1998 Besitzer eines Unternehmens für Softwareentwicklung. Er lebt in Berlin.


    Meine Meinung:
    Dieser Roman hat mich durchaus ordentlich unterhalten. Sprachlich vielleicht sogar das beste Buch von Tom Liehr. Ein Autor, der sein Handwerk versteht – und der es schafft seine Leserinnen und Leser nicht zu langweilen.
    Und so ist das auch mit den „Landeiern“.


    Alles wirkt wohldosiert, die notwendige Portion Zynismus, die angedeutete aber sich dann relativierende Verachtung der „Landbevölkerung“; die Einblicke in das Großstadtleben und natürlich auch die Einblicke in das Leben einer offensichtlich funktionierenden Dorfidylle. Wobei sich dann natürlich die Frage stellt, die im Buch aber nicht beantwortet wird: Ist das, was dort geschildert wird, wirklich das reale Leben? Oder ist das alles nur eine Fiktion und ziemlich weit neben der Realität? Sollte hier nur unterhalten werden oder steckt mehr hinter dieser erzählten Geschichte.
    Offen gestanden: Keine Ahnung!


    Denn bei einigen Szenen, bei einigen der handelnden Personen, hatte ich so etwas wie „Gedankenblitze“ - hatte ganz persönliche Assoziationen. Realität die sich in einer Fiktion wiederfindet. Aber ich möchte darauf jetzt nicht herumreiten und werde insofern auch nicht näher darauf eingehen.


    Die Erzählweise wirkt distanziert, manchmal sogar ein wenig unterkühlt – was ich persönlich als sehr durchaus angenehm empfunden habe. Überbordende Gefühlsduselei hat nämlich in meinen Augen einen sehr großen Nervfaktor.
    Man könnte diesen Roman als rundum gelungen bezeichnen, wäre da nicht das Ende gewesen . Friede, Freude, Eierkuchen – ein „hastiges“ Happy End. Und damit auch alles passt, wird schnell abgerundet und abgeschliffen, damit bloß keine sperrigen Dinge und Fallstricke im Weg liegen bleiben. Wobei aber auch zu bemerken ist: Dieses ist ein Roman, eine erfundene (?) Geschichte und keine Dokumentation oder Abbildung des wahren Lebens.
    Vielleicht wäre hier ein „Open End“ besser gewesen? Aber ist ist lediglich ein Ausdruck meiner ganz persönlichen Befindlichkeit.


    Interessant auch der Satz im Abgesang:
    „Dieser Text ist nicht autobiographisch, an keiner Stelle.“


    Warum wird das dann so extra betont?
    Aber eigentlich ist das auch egal – man muss ja schließlich nicht alles wissen.


    Fazit: Freundliche Unterhaltung (vielleicht ein klein wenig zu glatt, ein paar Ecken und Kanten hätte ich mir schon gewünscht – aber dieses ist ein Roman und kein Wunschkonzert) mit ein paar Einschränkungen, stilistisch wirklich sehr gut (wenn ich mir dieses Urteil erlauben darf). Keine verschwendete Lebenszeit. 7 Eulenpunkte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Hallo, Voltaire.


    Danke für die Rezension. ;-)


    Zitat

    Vielleicht wäre hier ein „Open End“ besser gewesen?


    Und mir lieber. Eigentlich, eigentlich aber wollte ich ein negatives Ende. Kunze so richtig auflaufen lassen. Das Dorf metaphorisch in die Luft jagen.


    Aber dann wär's vermutlich nicht bei Rowohlt erschienen, sondern im Selbstverlag oder so. Es war schon schwer genug, eine überwiegend negative Hauptfigur durchzusetzen, und ich habe immer wieder die Mitteilung bekommen, dass es doch Zeit für liebenswerte Eigenschaften des Protagonisten wäre - "Wir wollen Sebastian Kunze wenigstens ein bisschen mögen". Ich verstehe das ja auch. Aber Lust hatte ich schon darauf, den so richtig an die Wand zu klatschen. Und vielleicht deshalb nicht ganz so viel Lust auf dieses Ende.


    Nächstes Mal. :grin

  • Ich stelle noch meine bei goodreads 2015 ?hinterlegte Meinung ein



    Ein unterhaltsamer Roman um einen Stadtneurotiker, der das Landleben für sich entdeckt. Gezwungenermaßen. Denn seine Frau hat im Spreewald eigenmächtig ein Haus gekauft und renoviert.


    Nach anfänglichen Schwierigkeiten und amüsanter Kontaktaufnahme mit der Dorfbevölkerung, fühlt sich Basti, der seine Frau zwar liebt und auf eine Skala von 1 bis 10 erreicht sie immerhin 10 Punkte, seltsam wohl auf dem Land.


    Wer schonungslose Worte gepaart mit Sprachwitz in einem Buch liebt, der darf sich hier auf eine neue Fallstudie über das normale Paarleben in der Großstadt oder auf dem Land freuen.
    Mich hat das Buch gut unterhalten.


    8 Punkte bei GR 4 Sterne ;-)

  • Eins vorab: ich nix Deutsch, also bitte ich, sämtliche Sprachfehler zu entschuldigen. Muttersprachlich komme ich aus den Untiefen von Dostojewskij und Bulgakow.


    Klappentext:
    Sebastian Kunze ist als Großstadtmensch gescheitert. Er landet mit Frau und Tochter in der brandenburgischen Provinz, denn Melanie ist Psychotherapeutin, und auf dem Land gibt es was sie braucht: einen Kassensitz und therapeutischbedürftige Menschen. Doch die ländliche Realität zwischen gutenständen und Landgaststätten hält für das Paar einige Überraschungen bereit. Melanie traut sich bald kaum mehr auf die Straße – wegen all der „Bescheuerten“. Sebastian hingegen lernt die Überschaubarkeit des neuen Lebens zu schätzen.


    Zur Hauptperson: auch wenn es mittlerweile viele arrogante Journalisten durch die Literaturlandschaft tingeln, konnte ich mit Sebastian Kunze durchaus etwas anfangen. Selbstverliebt, scharfsinnig, faul, streift er durch das (hauptsächlich) nächtliche Berlin, um das -zigste Weibchen flachzulegen und zwischendurch den Stoff für Tausend Zeilen pro Monat zusammenzutragen. Beides fällt ihm sehr leicht. Die Schreiberei bringt zwar wenig Geld, gibt jedoch die Möglichkeit, das Ego zu befriedigen. Herr Kunze ist für jeden (kindischen) Mist zu haben. Einen Apfel in der Sauna anbeißen und zurück in die Schale legen? Kein Problem. Das Einfahrt eines Fünf-Sterne-Hotels mit eigenem Auto zu blockieren? Bitte sehr. Was man ihm zugute halten muss, ist, dass er seine Arbeit als Journalist ernst nimmt und sehr hohe Ansprüche an sich hat.


    Er ist seit sechs Jahren mit Melanie verheiratet (das verflixte siebte Jahr) und hat zwar eine 3,5-Jährige Tochter, zu der er jedoch so gut wie keine Beziehung hat. Er wollte sie nicht und bezeichnet als „Eindringling“ in seinem Leben.


    Das Leben meint es gerade nicht gut mit Herrn Kunze. Eine Hiobsbotschaft kommt nach der anderen und das in einem ziemlich sportlichen Zeitraffer. Am 16. Juni wird er arbeits-, am Vormittag des 17. Juni mittellos, am Abend des 17. Juni bekommt er von der Ehefrau ein zweites Kind (im Bauch) serviert und muss entscheiden, ob er in eine gottverlassene Gegend mitziehen will.


    Durch das ganze Buch sind kleine Beobachtungen verstreut, die mein Herz höher schlagen lassen. Ich liebe es, wenn ein Schriftsteller seine Arbeit ernst nimmt. „die verfrühten Wespen“ (das Geschehen spielt sich im Juni ab); „Die Smartphone-Junkies, die an einem sonnigen Tag versuchen, etwas auf dem Display zu erkennen“. Köstlich. Das Buch ist witzig, warmherzig und auch paar Tage nach dem Lesen musste ich schmunzeln, wenn ich daran dachte.


    Der Rest ist eigentlich für die gedacht, die das Buch gelesen haben.


    Beim Lesen ist mir lediglich ein eine Sache aufgefallen, die ich gar nicht nachvollziehen konnte. Seite 268: „Ich habe mich in der Praxis unter falschem Namen angemeldet, die Behandlung in bar bezahlt und auch bei der Anreise auf mein Inkognito geachtet“. Und trotzdem sagt der Arzt in Tschechien auf der Seite 12 „Herr Kunze, nehmen Sie Platz“. Wozu hat Kunze dem Arzt seinen richtigen Namen verraten? Und wann?


    Einen Punkt finde ich auch im Nachhinein nicht schlüssig. Die Verwandlung eines Raubtieres in ein weinerliches Reh geht mir zu schnell. Zugegeben, ich bin kein Psychologe, aber ein Mann, der gerade erfuhr, dass seine Frau ihn betrogen hat, will keine Beziehung zu seiner ersten Tochter aufbauen. Auch nicht für eine Sekunde. Er fragt sich, ob das erste Kind überhaupt von ihm ist. Sofort. Diese Frage stellt sich für SK erst unendlich viele Seiten später. Die Szene mit dem Schwindelanfall. Das Zittern beim Kochen. Weinen beim Kindinsbettbringen. Alles für sich genommen ist glaubwürdig, aber nicht am 3. Tag der Geschichte. Nö. Sorry. So schnell geht dat net. Schon gar nicht bei SK. Er hat irgendwie zu schnell den Glauben verloren, dass er wieder in der Hauptstadt-Presse Fuß fassen kann. Dabei war er eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Presselandschaft. Sogar seine Gastrokritiken wurden überall wiederholt... Polarisierende Arschlöcher sind gut für die Auflage, das wissen auch die Chefredakteure, mit denen sich SK angelegt hat. Vielleicht wurde SK´s Talent etwas übertrieben dargestellt?


    Der Ausflug von SK in den Spreewald, wo die Ehefrau das Haus gekauft hat, war etwas anstrengend zu lesen. Aus einem scharfen Beobachter, wie Kunze vorher gezeigt wurde, wird ein gescheiterter Hellseher. Worte „vermutlich“ und „wahrscheinlich“ sind auf jeder Seite doppelt zu finden. „Der Porsche Panamera... gehörte wahrscheinlich dem Chefarzt, der mit Sicherheit nicht in der Region wohnte“. „Ich legte mein Badetuch zwischen der Blondinen und der Brünetten, die wahrscheinlich direkt aus dem OP der Spezialklinik für Plastische Chirurgie ins Hotel gewechselt war.“ Auf Dauer haben mich diese Wiederholungen genervt. Schlechte Laune kann man auch durch andere Stilmittel zum Ausdruck bringen. Gerade Kunze, der ein Lexikon auf zwei Beinen ist, sollte fähig sein, etwas bösartigeres von sich zu geben.


    Die Nebenpersonen sind größtenteils sehr ausdrucksstark dargestellt, besonders Petra und Gabriele, die Mutter von Melanie, Mike Schuster.... Gibt es eigentlich Buchpreise für Nebenfiguren? Dafür bleibt Melanie selbst über das ganze Buch erstaunlich blass. Für SK ist sie mehr oder weniger Sexualobjekt, eine absolute Nummer 10 (er vergibt jeder Frau eine Nummer auf der Skala von 1 bis 10) . Über ihre wahnsinnige Attraktivität lesen wir immer wieder, ansonsten versagt SK´s Humor bei der Ehefrau komplett. Schade eigentlich.


    Ich habe generell eine starke Abneigung gegen Kleinkinder in Romanen, denn sie sind eine Art Erpressung. Man muss sie einfach lieb haben, so wie man lachen muss, wenn man gekitzelt wird, auch in der tiefsten Depression. Noch schlimmer als in den Romanen sind sie nur mit ihren Mamis an der roten Fußgängerampel. Kein Auto weit und breit, aber man steht wie angewurzelt und wartet auf Grün. Ohne Lara wäre die Beziehungskrise der beiden Hauptpersonen viel brutaler gewesen. Eine Grundschülerin Lara würde die Honigsüße verlieren und einerseits die Eltern schärfer beobachten, andererseits auch die neue Umgebung mit frischen Kinderaugen sehen.


    Das Kapitel „Gin Tonic“ ist für mich etwas zu kitschig geworden. Der Sturm naht heran. Der Freund erzählt, dass er sterbenskrank ist. Eine Abmachung mit dem kranken Freund wird getroffen. Das Propaganda gegen das Rauchen wird betrieben. „Ich werde sterben. Wegen der Scheiße hier.“ Thorben hielt die Zigarette in die Höhe.“
    Stilistisch hat mir auch einiges weh getan. „Das ist schlimmer, als die eigene Mama zu beklauen. Die eigene kranke Mama. Die eigene kranke, behinderte Mama, die ans Bett gefesselt ist und nichts mehr sehen oder hören kann“. Hat Thorben diese Rede vorher einstudiert? Klingt so, als ob er genießen würde, das alles sagen zu dürfen.
    Oder das hier: „Ich brauche jetzt einen Schnaps“, sagte er. Ich sah auf die Uhr, es ging auf halb drei zu. „Das ist eine schräge Idee“, antwortete ich... „Aber eine gute“. Wieso ist es für SK eine schräge Idee? Trinkt kein Sterbender in Deutschland Schnaps um halb drei? Ein Fallschirmsprung wäre eine schräge Idee. Schaut man überhaupt auf die Uhr in dieser Situation?


    Um es mit SK zu formulieren: das Buch ist eine 7. Grundsätzlicher Vorwurf: Was man in sechs Jahren verbockt hat, kann man nicht in neun Tagen therapieren.


    Und nun für alle, die sich fragen, was der ganze Scheiß hier soll: Punkt 1. Ja, Sie haben mich erwischt: ich war mal als Redakteur tätig und, was noch wichtiger ist,
    Punkt 2. Mir ist gerade langweilig.



    So long...


    Erbsenzähler :wave

  • Hey, Erbsenzähler.


    Danke für die freundlichen Worte, fürs Lesen und fürs Verstehen. Dieses Buch ist unter eigenartigen Umständen entstanden, und es hat sich beim Schreiben ein ganz klein wenig anders entwickelt, als ich ursprünglich geplant hatte. Das sind nur zwei von mehreren Dutzend Gründen, weshalb mir dieser Roman besonders am Herzen liegt - und irgendwie auch besonders schützenswert vorkommt. Deshalb nehme ich ausnahmsweise mal zur Erbsenzählerei zu den inhaltlichen Kritikpunkten Stellung:


    Zitat

    Wozu hat Kunze dem Arzt seinen richtigen Namen verraten? Und wann?


    Okay, das könnte ein Fehler sein. Ein falscher Name wäre aber auch z.B. "Andreas Kunze", oder? ;-)


    Zitat

    Zugegeben, ich bin kein Psychologe, aber ein Mann, der gerade erfuhr, dass seine Frau ihn betrogen hat, will keine Beziehung zu seiner ersten Tochter aufbauen. Auch nicht für eine Sekunde. Er fragt sich, ob das erste Kind überhaupt von ihm ist. Sofort.


    Nunwohl, dieser Mann hat aber seine Frau kurz vorher ebenfalls betrogen, und zwar auf ziemlich saftige Art - er hat sich heimlich sterilisieren lassen. Das rechnet er sozusagen gedanklich gegen. Außerdem denkt Kunze nicht in diesen romantischen Kategorien. Ich dachte, das wäre rübergekommen. Davon abgesehen: Als er erfährt, dass Melanie schwanger ist, macht er sich ja sofort vom Acker. Und der Beziehungsaufbau zur Tochter entspringt eher der räumlichen als der emotionalen Not.


    Zitat

    Alles für sich genommen ist glaubwürdig, aber nicht am 3. Tag der Geschichte.


    Ja, das geht alles sehr schnell, aber genau genommen ist es nur der Höhepunkt einer längeren Entwicklung. Nichtsdestotrotz: Stimmt. Ich musste die dramaturgische Klammer und den Zeitrahmen gegen die unbedingte Nachvollziehbarkeit stellen und einen Kompromiss finden. Ich wollte nicht von fünf Monaten auf dem Land erzählen, sondern punktueller.


    Zitat

    Ich habe generell eine starke Abneigung gegen Kleinkinder in Romanen, denn sie sind eine Art Erpressung.


    Lara durfte einfach in keinem anderen Alter sein. Ein älteres Kind hätte sich dieser späten väterlichen Annäherung komplett verweigert, mit einem älteren Kind gäbe es diese Ehe unter diesen Umständen nicht mehr. Melanie zieht ja auch deswegen an der Reißleine. Davon abgesehen: Lara ist keine Romanfigur, sondern eine Metapher.


    Zitat

    Schlechte Laune kann man auch durch andere Stilmittel zum Ausdruck bringen. Gerade Kunze, der ein Lexikon auf zwei Beinen ist, sollte fähig sein, etwas bösartigeres von sich zu geben.


    Auf Stilkritik zu reagieren bedeutet, sehr dünnes Eis zu betreten. Nicht heute. ;-) (Deshalb auch nichts zu den folgenden Punkten, etwa Thorbens Wutrede, die ich persönlich sehr mag.)


    Zitat

    Grundsätzlicher Vorwurf: Was man in sechs Jahren verbockt hat, kann man nicht in neun Tagen therapieren.


    Man kann. In noch kürzerer Zeit sogar. Aber das ist keine Rechtfertigung. Wenn Du das diesem Sebastian Kunze als Leser nicht abnimmst, habe ich einen Fehler gemacht. Trotzdem danke für die dann immerhin noch recht hohe Wertung. Und diese sehr spaßige Rezension. :anbet

  • Meine Meinung zum Buch


    Sebastian Kunze ist ein A...loch. Schwer ertragbar witzig mit beißendem Sarkasmus, arrogant und egozentrisch, untreu und oberflächlich mit Insiderwissen.

    Will ich von so einem Mann, der sich in den ersten Kapiteln konsequent aus den Herzen der Leser heraus ätzt, weiter lesen, fragte ich mich von Seite zu Seite zu Anfang des Romans?


    Ja!

    Ich bin da schmerzfrei.

    Und ich habe es nicht bereut.


    Denn der Autor verbannt seine Hauptfigur dorthin, wo er nie, aber auch wirklich nie hinwollte: in die Provinz, in eine beschauliche, familiäre Idylle.

    Wie sich Kunze dort entwickelt, wandelt, verändert, hätte extrem peinlich zu lesen werden können.

    Aber Tom Liehr versteht sein Handwerk, malt eben nicht in Rosarot mit dem feinen Marderhaar-, sondern mit einem soliden Borstenpinsel und realistischen Farben.

    Der Autor schreibt Kunzes Wandlung ohne Peinlichkeiten und sehr glaubwürdig. Großes Kino!


    Ein lesenswerter Roman und wirklich gute Unterhaltung!

  • Das Buch hat den Verlag gewechselt, und nicht nur das. Am 31.8.2023 erscheint bei "aufbau audio" die Hörbuchfassung, eingelesen von Bettina Strom und Julian Horeyseck, die abwechselnd Melanie und Clemens sprechen:


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    ASIN/ISBN: B0CF5KQLQQ