Sören Kittel: An guten Tagen siehst du den Norden. Südkorea zwischen Geistern und Glasfassaden
DUMONT Reiseverlag 2016. 384 Seiten
ISBN-13: 978-3770182817. 14,99€
Verlagstext
Fast eineinhalb Jahre lebt Sören Kittel in Korea, schreibt Artikel, interviewt Künstler, Wirtschaftsexperten und Politiker und bereist schließlich das ganze Land. Es ist die Zeit, in der Trendscouts aus der ganzen Welt Südkorea entdecken, sie sagen, es sei hier wie in Japan vor zehn Jahren. Mode, TV-Serien, Pop-Kultur und die technische Entwicklung kommen plötzlich für ganz Asien aus Südkorea, und Kaffee wird im Land der Tee-Liebehaber zu einem hippen Getränk. Gleichzeitig ziehen sich diese modernen Koreaner in Tempel zurück und besuchen Originalschauplätze von vergangenen Kriegen. Vielleicht, weil Südkorea offiziell noch immer im Krieg ist, mit dem einzigen Land, in dem ebenfalls Koreanisch gesprochen wird: Nordkorea. Die Trennung geht mitten durch die Nation und beeinflusst den Alltag. Kittel geht diesem Konflikt, der allgegenwärtig das Leben mitbestimmt, nach. Ihm gelingt ein tiefer Einblick in eine gespaltene Nation, und er zeigt den Weg Koreas zu einem modernen „Powerhouse“.
Der Autor
Sören Kittel wurde 1978 in Dresden geboren. Er studierte in Leipzig, Amsterdam und Berlin die Fächer Ethnologie und Südostasienwissenschaften, lernte Chinesisch, Swahili und Indonesisch. Nebenbei absolvierte er Auslandspraktika bei Medien in Jakarta, Peking und Nairobi. Nach dem Volontariat an der Axel Springer Akademie war er fünf Jahre Reporter der „Berliner Morgenpost“, er gewann mit Reportagen unter anderem den Medienpreis Mittelstand, den EMMA-Männerpreis und für eine Reisereportage in Nordkorea den „Meridian- Reisejournalistenpreis“. Im Jahr 2014 beschloss er, für eineinhalb Jahre nach Seoul zu ziehen und arbeitete von dort als freier Journalist für „Die Welt“, „FAS“, „brandeins“ und „Cicero“. Aktuell lebt er in Berlin und arbeitet für die Zentralredaktion der Funke- Mediengruppe.
Inhalt
Es ist sicher kein Zufall, dass Sören Kittel sich zu Korea hingezogen fühlt; denn den zugänglichen südlichen Landesteil und Deutschland verbindet die sehr spezielle Situation in einem früher oder noch immer getrennten Land. Kittel sah die Welt jenseits der deutschen Mauer zum ersten Mal mit 10 Jahren. In Deutschland wurde er u. a. bekannt mit einer Foto-Reportage über Kneipen in Süd-Korea mit ungewöhnlich „deutschen“ Namen.
Kittels Kapitel über die Hauptstadt Seoul liest sich wie die Beziehung zu einer kapriziösen Geliebten. Ein Fluss und ein Hügel sind unbedingt nötig für eine Stadt, trägt ihm Herr Yang aus der Sicht des Geomanten vor. Kittels erste Begegnungen mit in Süd-Korea lebenden Ausländern bestätigen das eigenwillige Verhältnis zwischen dem Gastland und Einwanderern, die zwischen sich und ihre Heimatländer offensichtlich eine möglichst große Distanz legen wollten. Süd-Korea hat derzeit ein sehr cooles Image bei jungen Ausländern. „Es gibt viel Arbeit, freundliche Menschen, sehr gutes Essen und wohl eins der besten Transport-Systeme weltweit. Hier gilt das umgedrehte New-York-Prinzip: „If you can’t make it anywhere – you can make it in Seoul.” (Seite 19)
Kittels Reisereportagen entstanden auf Busreisen zu Orten, die ganz im Zeichen des „Han“ stehen, einer so nur in Süd-Korea möglichen Traurigkeit. Eine charakteristische Verbindung aus Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem und der lebenslangen Unfähigkeit loslassen und vergessen zu können, nimmt er bei seinen Gesprächspartnern wahr. Konfuzianisch geprägte Länder wie China zeichnen sich durch ihr hohes Harmoniebedürfnis aus, durch den gesellschaftlichen Zwang das Gesicht des Anderen zu wahren und nur nicht aus der Reihe zu tanzen. Aus dem Schweigen hat sich in Süd-Korea das Vertuschen von Katastrophen und Skandalen entwickelt, das für Betroffene leidvolle Folgen hat. Beispiele sind der Untergang der Sewol mit hunderten von Todesopfern 1980 und der Amoklauf eines Polizisten 1982 mit über 50 Opfern. Beide Katastrophen wurden aufgrund von Denkverboten aus der Zeit der Militärdiktatur nicht aufgearbeitet.
Der Autor bereist ein Land, das ehemals japanisches Protektorat und lange von fremden Großmächten abhängig war. Der Korea-Krieg (1950 bis 1953) ließ das Land geteilt und auf dem Stand eines Entwicklungslandes zurück. Mit der langen Fremdbestimmung erklärt der Autor das Bedürfnis der Südkoreaner unter sich zu sein, einmal nicht mit Fremden Englisch sprechen zu müssen, nicht mehr vom Ausland abhängig zu sein. So verständlich diese Einstellung im Privaten sein mag, steht sie doch den Anforderungen des Arbeitsmarktes entgegen. „Der Frosch muss aus dem Brunnen, weil das, was er darin sieht, für ihn die Welt ist“, bringt ein Gesprächspartner das Problem des südkoreanischen Bildungssystems auf den Punkt. Ein bunter Strauß an Themen umfasst die Situation von jungen Leuten auf Partnersuche, die alter Menschen in einer überalterten Gesellschaft, deutsch-koreanische Ehen, aus Südkorea adoptierte Kinder, wie koreanische Bergarbeiter und Krankenschwestern als Arbeitsemigranten, die aus der Erinnerung in Deutschland fast wieder verschwunden waren.
Fazit
Kittels Reportagen sind erstaunlich emotional und zeugen von tiefem Verständnis für sein Gastland. Die Trauer um den Riss, der durch das Land und durch betroffene Familien geht, kann wohl nur jemand nachvollziehen, der das in ähnlicher Form erlebt hat. Eine klug zusammengestellte Reise aus dem Jahr 2013, die den Lesern Türen öffnet und mit Sicherheit dem Nutzen bringt, der in einem internationalen Team eng mit Süd-Koreanern zusammen arbeitet.
10 von 10 Punkten