Maria Dermout: Die zehntausend Dinge. Roman, OT: Tienduizend dingen, aus dem Niederländischen von Bettina Bach, München 2016, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3423280914, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 263 Seiten, Format: 13,9 x 3 x 21,6 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle Edition: EUR 15,99.
„Sie war wirklich nicht überspannt und erst recht nicht sentimental, trotzdem würde sie immer dieses tiefe, brennende Mitleid mit ermordeten Menschen empfinden, sie lehnte sich gegen Morde auf, konnte sie nicht akzeptieren, bei ihrem Sohn nicht, bei anderen nicht, damals nicht und jetzt nicht und in alle Ewigkeit nicht.“ (Seite 239)
Die (niederländische) Familie der kleinen Felicia lebt auf einer der Molukken-Inseln, auf der ehemaligen Gewürzplantage der verwitweten Großmutter. Nach einem Familienstreit geht die junge Familie nach Europa, die Oma bleibt allein mit den einheimischen Dienstboten zurück. Doch sie ist überzeugt davon, dass die Enkeltochter eines Tages wieder zurückkehren wird und gibt der Siebenjährigen diesen Satz mit auf den Weg: „Meine Großmutter wartet im Kleinen Garten an der Binnenbucht auf mich.“ (Seite 45)
Rückkehr auf die Molukken-Insel
So kommt es auch. Als Felicia 25 ist und ihr attraktiver aber nichtsnutziger Ehemann sie bestohlen und verlassen hat, kommt sie vollkommen pleite mit Söhnchen Willem zurück zur Großmutter auf die Insel. Um zu überleben, müssen die beiden Frauen „Handel treiben“, was der Großmutter zunächst widerstrebt. Aber Stolz kann sie sich jetzt nicht leisten. Also verkaufen die Frauen Milch, Eier, Obst und Gemüse, Omas selbstgemachte Muschelsauce und mehr oder weniger dubiose Heilmittel. Die Stadtwohnung wird vermietet, und so haben sie ihr Auskommen.
Nach dem Tod der Großmutter bewirtschaftet Felicia den „Kleinen Garten“, wie das Anwesen heißt, allein. Willem, dessen Vornamen die Dienstboten zu „Himpies“ verhunzt haben, wird zum Studieren in die Niederlande geschickt. Schnell merkt er, dass das Medizinstudium nicht sein Ding ist und geht stattdessen zum Militär. Eine verhängnisvolle Entscheidung ...
Felicia bleibt mit den Geistern allein
In dem einsamen, entlegenen „Kleinen Garten“, in dem seit Jahrzehnten drei kleine Mädchen spuken sollen, wird Felicia mit der Zeit ein bisschen sonderbar. Einen Tag und eine Nacht im Jahr widmet sie denen, die in den vergangenen 12 Monaten auf der Insel ermordet worden sind. Es ist eine friedliche Insel, und lange Zeit passiert dort nichts. Aber in einem Jahr sind es drei – oder gar vier? – Morde. Und von diesen Insel-Mordgeschichten handelt der größte Teil dieses Buchs.
Wenn’s nach Felicia ginge, wären die drei toten Mädchen – ihre Großtanten –, und ihr Sohn Himpies Dauergäste auf dieser Totenfeier. Dabei ist gar nicht klar, ob Elsbet, Keetje und Marregie tatsächlich vergiftet worden sind. Und Himpies wurde, genau genommen, nicht ermordet, sondern ist gefallen.
Und ob der Regierungskommissar, der sich nach seiner Pensionierung eine Gewürzplantage an der Außenbucht der Insel bekauft hat, tatsächlich von seiner jungen Geliebten umgebracht wurde oder einem Unfall zum Opfer fiel, ist auch nie abschließend geklärt worden. Sein ganzer Haushalt hat extrem zurückgezogen gelebt, was natürlich die Gerüchteküche zum Brodeln brachte.
Definitiv ein Mordopfer ist die schöne Köchin Constance. Aber wer hat sie erstochen? Ihr Liebhaber, ihr Ex-Ehemann oder ihre durchgeknallte Kollegin? Und wer hat 2 Monate nach Constances Tod den jungen Matrosen ermordet?
Und noch eine unheimliche Geschichte gibt es: Zusammen mit seinem Assistenten, dem javanischen Prinzen Ramen Mas Suprapto, kommt der exzentrische schottische Botanikprofessor McNeill auf die Insel. Ein bisschen naiv zieht er durch die Gegend und belohnt Kinder, die ihm zeigen, wo bestimmte pflanzen wachsen, mit Silbermünzen. Das weckt Begehrlichkeiten ...
Eine Feier für die Toten
An Allerseelen treffen sich dann all die Mordopfer in Felicias Haus. Es ist davon auszugehen, dass die Party nur in Felicias Kopf stattfindet, Aber es ist ein guter, tröstlicher Gedanke, dass jemand sich mit den Toten befasst, sich an sie erinnert und sie noch einmal zu Wort kommen lässt. Felicia verarbeitet so Verluste und Ungerechtigkeiten. Von beidem hat sie mehr als genug erlebt.
Hundert Dinge soll man laut einem malaiischen Volkslied einen Verstorbenen fragen, sie ihm erzählen und ihn an sie erinnern, damit er sie nicht auf seiner Totenreise vergisst. Das tut Felicia an Allerseelen. „Sie blieb ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, es waren auch keine hundert Dinge, sondern mehr als hundert und nicht nur ihre Dinge, hundert mal hundert Dinge, nebeneinander, lose, einander berührend, hier und da ineinander übergehend – ohne jede feste Verbindung und gleichzeitig für immer miteinander verflochten.“ (Seite 252) Und das beschreibt auch den Roman selbst ganz gut. Er erzählt nur bedingt eine zusammenhängende, chronologisch fortschreitende Geschichte, aber die Ereignisse haben doch alle miteinander, mit der Insel, mit Felicia oder dem Kleinen Garten zu tun.
Eine Sammlung von Mordfällen
Ob Landschaft, Wohnräume, Rituale oder Gefühle – das wird alles sehr bildhaft und poetisch beschrieben. Man muss aber aufpassen, dass man vor lauter Bemühen, sich den Gewürzgarten mit seiner üppigen Vegetation, den Geistern der Vergangenheit und den verfallenden Gebäuden vorzustellen, nicht den Faden der Geschichte verliert. Es sind so viele Figuren und Handlungsstränge! Wer im ersten Kapitel den Hinweis überliest, dass es sich hier um eine Sammlung verschiedener Mordfälle handelt, wird sich verwundert fragen, warum in fast jedem Kapitel komplett neue Personen eingeführt werden und was die alle mit Felicia zu tun haben. Das ist keine Lektüre zum Drüberhuschen.
Wenn ich vorab mehr über das Buch gewusst hätte, hätte mir das einiges Kopfzerbrechen erspart. Der Roman wurde 1955 geschrieben und spielt zu einer Zeit, da die indonesische Inselgruppe der Molukken noch eine niederländische Kolonie war. Zeit und Ort bringen naturgemäß eine Menge unbekannter Vokabeln mit sich. Nach knapp 100 gelesenen Seiten bin ich dann mal auf die Idee gekommen, hinten im Buch nachzusehen, ob es nicht vielleicht ein Glossar gibt, das die Begriffe erklärt. Und tatsächlich! Auf 5 Seiten wird, vorbildlich nach Kapiteln sortiert, all das erläutert und beschrieben, was man als Laie nicht wissen kann.
In der Tradition des mündlichen Erzählens
Auch die ungewöhnliche Zeichensetzung, die vielen merkwürdigen Einschübe sowie Sätze, die im Nirgendwo versanden, haben ihren Grund, der sich erst ganz am Schluss offenbart: „Maria Dermout fühlt sich der oralen Erzähltradition verbunden. Um diese zu kennzeichnen, entschied sie sich für einen ungewöhnlichen Umgang mit der Interpunktion: Zur Kennzeichnung des Rhythmus, zur Sichtbarmachung von Pausen griff sie häufiger als üblich auf Gedankenstriche und Auslassungspunkte zurück.“ (Seite 263) Ach so! Wenn man mir das gleich gesagt hätte, hätte ich nicht ganze Passagen wieder und wieder gelesen, weil ich dachte, ich hätte ein entscheidendes Wort übersehen.
Wie gesagt: DIE ZEHNTAUSEND DINGE sind nichts, was man so nebenbei konsumiert. Wer das Buch häppchenweise und unkonzentriert liest, dem entgeht hier zu viel. Auf die Sprache und Stimmung der Geschichte – düster, melancholisch, exotisch und ein bisschen gespenstisch – muss man sich einlassen können, dann lohnt sich die Lektüre.
Die Autorin
Helena Anthonia Maria Elisabeth Dermoût-Ingerman (1888-1962) wurde auf einer javanischen Zuckerplantage geboren, absolvierte ihre Schulausbildung jedoch in den Niederlanden. Mit ihrem Mann, einem Juristen, kehrte sie nach Niederländisch-Indien zurück und lebte 30 Jahre lang in »jeder Stadt und jeder Wildnis auf Java, Celebes und den Molukken«, wie sie später schrieb. 1951, im Alter von 63 Jahren, veröffentlichte sie ihre Erinnerungen unter dem Titel ›Erst gestern noch‹. Ihr vielgerühmter Roman ›Die zehntausend Dinge‹ erschien 1955. Daneben verfasste sie fünf Bände mit Erzählungen. In der niederländischen Gegenwartsliteratur ist Maria Dermoût eine Ausnahmeerscheinung. Gleich nach Erscheinen des Buches 1955 wurden ›Die zehntausend Dinge‹ dank dem Zauber, den der Text verströmt, als einzigartig wahrgenommen. In englischer Übersetzung erschien das Buch erstmals 1958 bei Simon & Schuster. Dem ›Time Magazine‹ galt der Roman als einer der besten des Jahres, neben Boris Pasternaks ›Doktor Schiwago‹, Truman Capotes ›Frühstück bei Tiffany‹ und Vladimir Nabokovs ›Lolita‹.
Die Übersetzerin
Bettina Bach, geboren 1965 in Heilbronn, wuchs in Deutschland und Frankreich auf. Sie studierte in Berlin und Amsterdam und übersetzt aus dem Niederländischen, Französischen und Englischen. Zu den von ihr ins Deutsche übertragenen Autoren gehören Jan Siebelink, Tommy Wieringa, Arjan Visser und Diane Brasseur. Bettina Bach lebt in Jena.