Todesarie: Ein Baden-Württemberg-Krimi - Sibylle Luise Binder

  • Sibylle Luise Binder: Todesarie: Ein Baden-Württemberg-Krimi, Tübingen 2016, Silberburg-Verlag, ISBN 978-3-8425-1484-3, Softcover, 379 Seiten, Format: 11,8 x 3,2 x 19 cm, Buch: EUR 12,90, Kindle Edition: EUR 9,99.


    „Ihnen ist klar, dass ich Sie wegen Behinderung von Ermittlungsarbeit durch den Wolf drehen könnte? Aber was mich, ehrlich gesagt, noch mehr aufregt: Sind Sie eigentlich lebensmüde? In diesem verdammten Fall hat es schon zwei Tote gegeben – wollen Sie unbedingt die dritte Leiche werden? Bitte spielen Sie nicht länger auf eigene Faust Detektiv – es ist gefährlich!“ (Seite 254)


    Nur ungern geht Dr. Juliane Pfeiffer, 43, Musikredakteurin bei der Stuttgarter Allgemeinen, dienstlich zu einer Premiere ins Große Haus des Stuttgarter Staatstheaters. Wie sieht denn das aus, wenn sie eine Rezension über die Rigoletto-Aufführung schreibt, in der ihre Studienfreundin Blandine Keller die Gilda singt und, schlimmer noch, ihr Ex-Lebensgefährte Philipp Boch (59) Regie führt! Von Boch ist Juliane zwar schon seit 16 Jahren getrennt, aber die Klassik-Szene ist überschaubar, naseweis und vergisst nichts. Doch alles Jammern ist vergebens. Ihr Ressortleiter Gerhard Forster hat niemand anderen, und die Ex-Fagottistin und Musikwissenschaftlerin muss für ihre Zeitung in die Oper.


    Sopranistin ermordet. War’s der Regisseur?
    Aus der geplanten Rezension wird nichts. Die Vorstellung wird abgebrochen – Gildas Bühnentod war nicht nur gespielt. Die Sängerin ist tatsächlich erdrosselt worden! Verdächtige gibt’s eine ganze Menge. Blandine Keller war keine einfache Persönlichkeit. Kurz vor ihrem Tod hatte sie lautstark mit ihrem deutlich älteren Ehemann Armin Müller-Rehling, dem Dirigenten der Produktion, gestritten. Ferner gab’s heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Gesangslehrer, ihrer Garderobiere und dem Regisseur Philipp Boch. Wen sie darüber hinaus noch gegen sich aufgebracht hat, ist schwer zu sagen. Ihr außereheliches Liebesleben war etwas, nun ja, unübersichtlich.


    Auch wenn seit der Trennung von Juliane Pfeiffer und Philipp Boch schon viele Jahre ins Land gegangen sind, er inzwischen die zweite Ehe versenkt und sie verschiedene Beziehungen gehabt hat – die schrecklichen Ereignisse dieses Premierenabends bringen die beiden wieder zusammen. So ganz erloschen war die Liebe wohl nie. Es war auch eher der Altersunterschied und die verschiedenen Lebensentwürfe, die das Paar damals scheitern ließen. Doch das wiedergefundene Glück können sie nicht lange genießen – ein anonymer Brief an die Polizei beschuldigt Philipp Boch des Mordes an Blandine Keller, und tatsächlich deuten ein paar Indizien auf seine Täterschaft hin. Zufall, glaubt Juliane, oder geschickt platzierte Hinweise. Doch sie kann nicht verhindern, dass ihr Liebster verhaftet wird und in der Justizvollzugsanstalt Stammheim landet: Fluchtgefahr, weil er durch Ehefrau Nr. 2 über mehrere Wohnsitze im Ausland verfügt.


    Musikredakteurin Juliane ermittelt
    Für die Polizei ist die Sache damit erledigt. Doch Juliane kann das nicht akzeptieren. Mit Hilfe von Philipps Anwälten und ihren Musikerfreunden ermittelt sie selbst. Als Journalistin weiß sie schließlich, wie man recherchiert. Sie verdächtigt Blandines Ehemann. Irgendwas muss seine Frau gegen ihn in der Hand gehabt haben. Er sucht verzweifelt etwas in Blandines Nachlass, und es ist wahrscheinlich klein genug, dass es sich in einem Schmucketui verstecken lässt. Oder warum sonst sollte er mit einer fadenscheinigen Ausrede hinter einer nicht besonders wertvollen Kette her sein, die Blandine ihr vermacht hat?


    Dass der Täter langsam nervös wird, merkt Juliane, als ein Unbekannter sie auf dem Heimweg von einer Veranstaltung mit dem Auto von der Straße zu drängen versucht. Zwar kümmert sich die Polizei um diesen Vorfall, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass der Mörder der Sopranistin noch immer frei herumläuft. Und er hat womöglich noch weitere Opfer auf dem Zettel.


    Wer von all denen, die ein Motiv und kein Alibi haben, kennt sich gut genug in den Räumlichkeiten und Abläufen der Oper aus, um die Tat begangen haben zu können? Schon allein die Herstellung der Tatwaffe setzt Insiderwissen voraus. Juliane kehrt in der Oper das unterste zuoberst. Ein überraschendes Fundstück lässt sie in eine ganz neue Richtung denken ...


    Ehrgeiz, Neid und Tratsch an der Oper
    Es ist schon ein ganz besonderes Biotop, in dem Frau Dr. Juliane Pfeiffer hier inoffiziell ermittelt: exzentrische Künstler mit großen Egos und gebrochenen Lebensläufen ... eine Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt und viele eine Jahrzehntelange Geschichte verbindet ... eine Atmosphäre voller Ehrgeiz, Neid und Tratsch – und so manch einer, der gefährlich nahe am Rand der psychischen Störung wandelt. Um da durchzublicken, braucht man mehr Hintergrundwissen als die ermittelnden Kripo-Beamten haben können. Doch als AmateurdetektivIn hat man dafür wieder andere Defizite. Juliane bringt sich mit ihren eigenmächtigen Nachforschungen in tödliche Gefahr.


    Nicht nur der Kriminalfall ist spannend, sondern auch die Möglichkeit, im Schlepptau der Heldin hinter den Kulissen der Oper herumzuwuseln. Dazu hat man ja, wenn man nicht gerade beruflich dort zu tun hat, sonst nie die Gelegenheit.


    Dr. Juliane Pfeiffer ist eine kluge, bodenständige Frau, die ihre Hochs und Tiefs im Leben hatte. Ihr ist nichts Menschliches fremd. Sie ist resolut, mutig, humorvoll und schlagfertig. Wenn ihre Freunde Hilfe brauchen, legt sie sich mächtig für sie ins Zeug. Und sie versucht, selbst Menschen, die ihr zuwider sind, mit Respekt zu behandeln und das Gute in ihnen zu sehen. Dieses Bemühen um Fairness sollte man aber tunlichst nicht mit naiver Gutmütigkeit verwechseln. Juliane weiß ganz genau, was sie will und was nicht und lässt sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen. Das weiß niemand besser als ihr Lebensgefährte Philipp Boch. Damit ist sie eine typische Sibylle-Luise-Binder-Heldin. Vom Temperament und Charakter her könnte Juliane eine Schwester der Tierärztin Dr. Friederike Abele sein, der Heldin aus S. Binders Krimis TIERISCH GIFTIG und ROSSTÄUSCHER. (Auch die ist mit einem deutlich älteren Musiker liiert.) Wer also die Abele-Krimis mochte, wird auch TODESARIE mit Vergnügen lesen.


    Ungehemmt lästernde Romanfiguren
    Die Autorin hat nicht nur Ahnung von Musik und dem Kulturbetrieb sondern auch ein Auge für die kleinen Schwächen und Unzulänglichkeiten ihrer Mitmenschen. Die beschreibt sie mit einem nachsichtigen Augenzwinkern. Manchmal lässt sie ihre Romanfiguren auch ungezügelt übereinander ablästern, und dann ahnt man, dass sie auch ganz anders könnte:
    „Vergiss es, Juliane. Er hat ein Alibi für die Nacht. Er hat da eine Dame beglückt.“
    Mischa rutschte in die Mitte der hinteren Bank im Auto und sagte: „Wer oder was schläft denn mit dem?“
    (Seite 92)
    Wenn die Herrschaften so vom Leder ziehen, kann’s passieren, dass man trotz all der tragischen Ereignisse auf einmal laut loslacht.


    Bei den Krimis von Sibylle Luise Binder hab ich immer ein Gefühl der heimlichen Komplizenschaft. Ob’s daran liegt, dass insbesondere dieser Regionalkrimi bei mir ums Eck spielt? Fällt der Name einer Straße oder eines markanten Gebäudes, habe ich sofort ein Bild vor Augen. Und der Klappentext birgt das Versprechen, dass die Autorin – respektive ihre Heldin – weiß, was dort hinter den verschlossenen Türen vorgeht. „Dann erzähl mal, was wir eigentlich nicht wissen dürfen“, hab ich gedacht, als ich das Buch aufschlug. Und ich wurde nicht enttäuscht. Genau so fühlt sich die Lektüre an: wie wenn eine Insiderin frank und frei aus dem Nähkästchen plaudert und dabei ein paar liederliche und mörderische Geheimnisse aufdeckt.


    Der Kriminalfall und dessen Aufklärung funktioniert auch ohne Stuttgarter Ortskenntnisse. Das menschliche Verhalten, Verlangen und Versagen ist nicht abhängig von der Stadt, in der die Geschichte spielt.


    Die Autorin
    Sibylle Luise Binder, Jahrgang 1960 und in Stuttgart zuhause, ist seit einem Vierteljahrhundert als Journalistin und Autorin tätig. Neben einer ganzen Reihe von Sachbüchern über Pferde und Reiten hat sie Mädchenbücher und Krimis geschrieben. Tiere faszinieren sie schon seit ihrer Kindheit – und daher hat die Reiterin und Züchterin von Warmblutpferden neben Hunde- und Katzen- auch Zirkuserfahrung. Wenn sie nicht mit Tieren befasst ist, beschäftigt sie sich gerne und ausführlich mit Oper und Geschichte.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner