Das Geheimnis der verlorenen Zeit
Autor: John Wray
Übersetzer: Bernhard Robben
Rowohlt Verlag
ISBN: 3498073648
736 Seiten, 26,95 Euro
Über den Autor: John Wray wurde 1971 in Washington, D.C., als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin «Granta» unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt. Auf Deutsch liegen von ihm die Romane «Retter der Welt» und «Die rechte Hand des Schlafes» vor.
Waldemar Tolliver, so heißt der Erzähler, befindet sich in einer prekären Situation; er ist gefangen in einer Zeitblase und kann ihr nicht entfliehen. Was für andere befremdlich klingt, ist für Waldemar und seine Familie gar nicht so ungewöhnlich, denn seit Waldemars Urgroßvater im Jahre 1903 angeblich dem Geheimnis der Zeit auf die Spur kam und kurz darauf verschied, suchen die nachfolgenden Generationen nach den verschwundenen Unterlagen. Waldemar nun, sitzt in dieser Zeitblase in der Messie-Wohnung seiner verstorbenen Tanten und schreibt die ganze Familiengeschichte auf.
Schon der Beginn ist spektakulär, denn der Urgroßvater, ein Fabrikant von eingelegten Gurken, kommt ausgerechnet über die Krümmung einer Gurke auf die Krümmung der Zeit und damit zu der Theorie, dass Zeitreisen möglich sein könnten. Er macht sich Notizen und hat den Kopf noch so voll mit seiner Entdeckung, dass er von einem „nahezu bewegungslosen“ Automobil erfasst und getötet wird. Ein Teil der Notizen wird von seinen Söhnen Kaspar und Waldemar gefunden. Die Beschäftigung mit der Zeit und diversen physikalischen Theorien wird in den nächsten Jahrzehnten für einige Familienmitglieder zur Besessenheit.
Man kann diesen grandiosen Roman kaum beschreiben, so viel hat John Wray in sein Werk hinein gepackt. Neben interessanten Gedanken zu verschiedenen Zeitreise-Theorien, finden sich unzählige verschrobene Figuren, Verlierer und Träumer in der Ahnenreihe der „Tollivers“, aber auch ironische Anspielungen auf zeitgeschichtliche Personen kommen nicht zu kurz. Waldemars Vater Orson beispielsweise, ist ein mittelmäßiger SciFi-Autor, dessen Bücher oft als „Sternenpornos“ bezeichnet werden. Eines Tages erhält er Besuch von seinen größten Fans, die das Buch als Grundlage einer wissenschaftlichen Religion verwenden und ihn als Oberhaupt ihrer neu gegründeten Sekte sehen.
Der Erzählstil ist beeindruckend dicht und auch recht ausschweifend, was sicherlich eine Herausforderung für den Übersetzer darstellte. Tolliver erzählt seine Familiengeschichte in Tagebuchnotizen (immer zu derselben Zeit, da sie für ihn ja nicht vergeht) und spricht damit seine große Liebe Mrs. Haven an, in der Hoffnung, dass sie ihn versteht, und wieder zu ihm zurück kommt. Mrs. Haven ist ausgerechnet die Frau des charismatischen Sektengründers der, ebenso wie die Familie von Waldemar, auf der Suche nach dem Geheimnis der verlorenen Zeit ist.
Tolliver springt in seinen Berichten zwischen den Zeiten hin und her, wechselt zwischen den verschiedenen Personen und bekommt ab und zu Besuch aus der Vergangenheit, was einen großen Reiz der Geschichte ausmacht.
John Wray ist mit seinem Roman ein furioses Werk gelungen, das den Leser in eine ganz eigene „Chronosphäre“ entführt. Die Zeit vergeht unbemerkt beim Lesen, doch die Lesezeit für dieses Buch ist zu keiner Sekunde verlorene Zeit. Absolut lesenswert und schon jetzt eines meiner Jahreshighlights.
P.S.: Mit etwas Verständnis und Liebe zur Physik macht das Buch noch mehr Spaß.