Klappentext (kopiert von Amazon):
Nach einem schweren Unfall und dem Verlust ihres Geliebten ist Sayoko nicht mehr sie selbst. Sie hat das Zwischenreich der Geister betreten und Geheimnisse der unsichtbaren Welt erfahren. In der Tempelstadt Kyoto lernt sie allmählich das Leben so zu akzeptieren, wie es ist: voller Ungewissheiten und Rätsel, dem Tod immer nahe, ob man jung ist oder alt. Aber sie begreift auch, wie einmalig und geheimnisvoll das Diesseits ist.
Meine Bewertung: Die Vertrautheit mit dem Tod und der Verlust des Nabels
„Als ich die Eisenstange bemerkte, wie sie da in meinem Bauch steckte, dachte ich: Verdammt, das sieht nicht gut aus…Ich werde sterben.“ S. 9 Die junge Sayoko genannt Sayo und ihr Freund Yoichi haben schuldlos einen schweren Autounfall. Sie überlebt. Yoichi nicht. Sie erfährt ein Nahtoderlebnis, muss eine lange Rehabilitationsphase durchmachen – und lernen, mit den Folgen zu leben. Körperlich bleibt ihr von der tiefen Schnittwunde am Kopf eine Wulst, auf der keine Haare nachwachsen – also trägt sie sie kurzgeschoren. „Mein Körper war jedoch nicht mehr derselbe wie früher, er fühlte sich an wie geraspelt; und mir war ein neues Aussehen verpasst worden.“ S. 19 Doch schlimmer ist der Verlust des Geliebten, für dessen Hinterlassenschaft als bildender Künstler er sie als Erbe bestimmt hatte: „Er fehlte mir, meine Trauer war unbeschreiblich. Doch als ich das Schlimmste überstanden hatte, merkte ich auf einmal, wie sich die Welt um mich herum lichtete und durchsichtig wurde – eine verblüffende Erfahrung.“ S. 31 Um sich herum sieht sie die titelgebenden „Lebensgeister“, die Geister derer, die nach ihrem Tod noch herumstreifen. Sie kreist um sich selbst, analysiert alternative Verläufe des Geschehenen, begegnet in Träumen den geliebten Verstorbenen ihres Lebens.
Autorin Banana Yoshimoto hatte bereits mit ihrem Debüt „Kitchen“ gleich einen Hit gelandet und einen wahren Hype ausgelöst, die „Bananamania“ (der Nom de Plume ist eine Art Kosename für die von ihr geliebten Blüten der Roten Bananen-Blume, ihr eigentlicher Vorname ist Mahoko). Wenn man über sie in den Feuilletons recherchiert, so scheint es, als hassten oder liebten die Kritiker sie, lauwarm gibt es nicht bei der Rezeption. Den einen bewegt sie sich zu nah am Rande von Kitsch und Trivialroman, den anderen erfasst sie treffsicher gesellschaftliche Phänomene. Die Popart spielt eine Rolle auch in diesem Buch, so werden Mangas herangezogen zur Erläuterung oder Songs.
Mir gefiel die Lektüre des Buches mit seinem federleichten Durchschweben der Trauerphase, ohne in Melancholie zu verfallen. Es ist mehr so mit dieser besonderen Phase der Trauer nach dem Erstarren, wie es einst ein Lehrer vor langem zu uns über Liebeskummer gesagt hatte: man empfindet sich selten so intensiv. „Die Vertrautheit mit dem Tod ähnelt stark dem Gefühl, das dich nachts in einer Herberge überfällt, am Ziel deiner Reise, mutterseelenallein, und du hast vergessen, woher du eigentlich gekommen bist.“ S. 105 Dass der Wirt in Sayokos Stammkneipe ihr erklärt, sie habe bei dem Unfall ihren Nabel verloren, als Sinnbild für ihre Seele, mag programmatisch klingen: Die Suche nach ihrem Nabel, ihrer Seele, ihrer inneren Mitte birgt die Gefahr, zur Nabelschau zu werden im Kreisen um sich selbst. Viele der Sätze im Buch mochte ich notieren, grenzwertig dazu, eine reine Aphorismensammlung zu werden. Für mich passt es jedoch zu der typischen Ich-Bezogenheit von Trauerverarbeitung (nicht Trauer! es ist KEIN trauriges Buch – der Originaltitel lautet „Sweet Hereafter“). So folgt die Protagonistin dem Rat, mit dem ihr toter Opa zu ihr kommt: „Wenn du zu weit nach vorne schaust, stolperst du. Verweile lieber im Moment, und geh Schritt für Schritt deinen Weg.“ S. 111 Und irgendwann deutet sich zart eine mögliche Zukunft an…
Anmerkung: Ich bin begeistert vom Übersetzer Thomas Eggenberg – der deutsche Text ist poetisch; aber darüber hinaus half er mir, die ich fast nichts über Japan weiß, mit seinen vielen Fußnoten zu Landestypischem. Ihm gelingt das Kunststück, dass ich mich verschämt wundere, dass die japanischen Protagonisten, die ich so fremd gewähnt hatte, uns so gleich sind, während gleichzeitig viele Begriffe ohne die Erläuterung gar nicht nachvollziehbar gewesen wären.
http://www.nzz.ch/gesellschaft…weizer-aus-japan-ld.87859