Einige Beobachtungen, durch die im Rezensionsthread zu diesem Buch angeregt wurde. (Aus diesem sind auch die Zitate)
ZitatOriginal von PMelittaM
Der Autor hat gut recherchiert und wie es sich für einen guten historischen Roman gehört, finden sich auch hier Karten, Stammbäume und ein Personenregister (in dem aber leider nicht kenntlich gemacht wurde, wer historisch belegte und wer fiktive Person ist), zudem hat Conn Iggulden ein umfangreiches Nachwort geschrieben, in dem er auf Fakten und Fiktion eingeht und auch auf seine Gründe, warum er hin und wieder von den Fakten abgewichen ist.
Also löblich, alles heute wohl auch der Standard, der von einem/r Autor/in gefordert wird, wobei wir nicht übersehen dürfen, dass letztlich der Verlag entscheidet, ob Autor/in diese Extras zugestanden werden. Leider aber schon wieder ein Nachwort, das ich für bedenklich halte, denn was die historischen Fakten betrifft, so wird auch dieses Nachwort nur genutzt (oder ist der Ausdruck "missbraucht" hier zutreffender), um in Wirklichkeit die eigene Fiktion zur einzig "wahren" Geschichte zu erklären.
Dazu ein Beispiel:
Die Heirat von Henry VI. mit Margaret wird im Roman als Coup dargestellt, um Henrys problematische Friedenspläne doch verwirklichen zu können. Im Nachwort werden vom Autor die (historischen) Hintergrunde für diese Idee verraten. Nach ihm ist das Zustandekommen dieser Heirat ein historisch "weißer" Fleck, hinter dem eine perfekte Vermittlung stecken muss, der es gelang, für Henry doch noch eine Ehe mit französischen Prinzessin zu arrangieren. Wie im Roman wird auch im Nachwort behauptet, dass eine Heirat mit einer Tochter des französischen Königs nicht möglich war, da dieser es aus politischen Gründen nicht wollte. Dieses Problem konnte durch die Heirat mit einer unwichtigen Nichte, die aber durch zweifelhafte Umstände den Rang einer Königstochter hatte, sozusagen gelöst werden.
Zur Durchführung wird im Roman mit Derry Brewer eine fiktive Figur geschaffen, die sozusagen genial im Hintergrund die Fäden ziehen darf.
Nach Igguldens Nachwort ist dieser Coup Faktum, bei dem aber die Drahtzieher nicht überliefert sind, womit Iggulden gleich die Verwendung einer von ihm erfundenen Figur dazu rechtfertigt.
Nun, bereits in Shakespeares Trilogie "Henry VIII." (16. Jh.) findet sich eine etwas andere Version. Hier ist es der Herzog von Gloster, der für seinen Neffen Henry den Frieden mit Frankreich durch eine als äußerst vorteilhaft beschriebene Eheschließung mit einer französischen Prinzessin (Verwandtschaft mit den Valois-Königen, hohes Ansehen dieser Familie - Garantie zum Erhalt des Friedens, gute Mitgift) in die Wege geleitet hat. Die von Iggulden behauptete Notwendigkeit, dass für ein solches Projekt nur eine Königstochter in Frage kommt, findet sich bei Shakespeare nicht.
Dann aber lernt der Graf von Suffolk Margaret kennen, in die er sich sofort verliebt. Da er verheiratet ist und sie daher nicht selbst heiraten kann, und aus egoistisch-machtpolitischen Erwägungen verleitet er Henry VI. dazu, sie zu heiraten und vereitelt Glosters Pläne, die bei Shakespeare positiv besetzt sind. Suffolk will über Margaret, die er zu seiner Geliebten macht, über Henry und somit auch England herrschen.
Anzumerken ist, dass anders als bei Iggulden Margaret und Suffolk bei Shakespeare negative Figuren sind, denen er allerdings Format zugesteht.
Der französische König hat bei Shakespeare mit dieser Eheanbahnung nichts zu tun, während er bei Iggulden diese indirekt notwendig macht. (Nur weil er die Ehe mit einer seiner Töchter ablehnt, muss sozusagen mit der armen, unbedeutenden Nichte, die immerhin auch "Königstochter" ist, die "Ersatzbraut" für Henry gefunden werden.)
Jedenfalls wären die Pläne, die Igguldens Henry hat, bei Shakespeare problemlos mit einer anderen Heirat aus dem Umfeld des französischen Königs durchführbar, es besteht keineswegs die Notwendigkeit, dafür eine Königstochter zu nehmen.
Sowohl bei Shakespeare als auch bei Iggulden wird Margaret, die letztlich mit Henry verheiratet wird, als zweifelhafte Partie gezeigt. Bei beiden ist die Ehe politisch ein schwerer Fehler, wenn gleich bei Iggulden dieses Manko durch die positiv besetzte Persönlichkeit seiner Margaret letztlich gemildert ist.
Als Vergleich nun noch ein Blick auf einen weiteren Roman, dessen Darstellung dieser Eheschließung von Shakespeare und Iggulden eindeutig abweicht. Für diesen Roman dürfte die Autorin, obwohl sie keine Französin war, vermutlich eher französische Quellen oder Sekundärliteratur als britische verwendet haben. Bei Shakespeare und Iggulden können wir davon ausgehen, dass sie beide wohl britische Quellen (bzw. Iggulden britische Sekundärliteratur) genutzt haben.
"Wald der Erwartung" (publ. um 1957), ein Roman der niederländische Schriftstellerin Hella S. Haasse (1918-2011) erzählt die Lebensgeschichte des Dichters und Fürsten Charles d'Orléans. Die Heirat zwischen Henry und Margaret wird hier kurz erwähnt, da sie in der erzählten Zeit geschah. Für die Haupthandlung selbst ist diese Heirat dramaturgisch nicht relevant, daraus folgt, dass Haase im Unterschied zu Shakespeare oder Iggulden keinen (dramaturgischen) Grund hatte, hier Fakten zu bearbeiten oder zu verändern, da die Details für ihre eigenen Geschichte eben nicht wichtig sind.
Auch bei Haasse findet sich, wie eben bei Shakespeare, eine für Henry geplante Ehe mit einer Verwandten des französischen Königs aus dem Lager von dessen Gegnern. Allerdings ist es in ihrem Roman dann der französische König persönlich, der dafür sorgt, dass letztlich nicht dieser Eheplan verwirklicht wird, sondern Henry Margaret heiratet. Ausschlaggebend für sein Handeln ist, dass es sich bei Margarets Vater um seinen eigenen Schwager und, was wohl noch wichtiger ist, einen seiner loyalen Verbündeten handelt.
Wie bei Shakespeare ist es somit auch bei Haasse keineswegs der französische König, der mit der Ehe Henry - Margaret ausgetrickst wird. Bei beiden findet sich aber auch das Motiv, dass für Henry ursprünglich eine Ehe mit einer Verwandten des französischen Königs geplant ist, die zum Lager der Gegner dieses französischen Königs gehört. Bei Haasse ist Margaret übrigens keine zweifelhafte oder fragwürdige Partie, sondern sie ist eine für Henry in jeder Hinsicht angemessene Partie und auch über die Figur ihres Vaters erfahren wir nichts, was gegen ihn sprechen würde.
Ganz anders da Iggulden, der seine Margaret in einem wahren Lotterhaushalt (falls es diesen Ausdruck im 16. Jahrhundert schon gegeben hat) hausen lässt, wo die Pfandleiher täglich ein- und ausgehen und das Mobilar wegschaffen, wo es kein eigenes Frauenzimmer, wie damals an Höfen üblich, gibt, so dass sie von ihren Brüdern nach Lust und Laune misshandelt werden kann, der Vater durch fragwürdige Abwesenheiten glänzt und die Mutter offensichtlich nicht imstande ist, sich irgendwie Autorität zu verschaffen. (Das passt übrigens keineswegs zu den historischen Fakten, die über die Mutter bekannt sind, musste die Dame doch immer wieder für ihren Mann die Stellung halten, wenn er wieder einmal in Gefangenschaft geraten war, und dies gelang ihr offensichtlich recht erfolgreich.)
Margarets Vater ist bei Iggulden nicht nur ein Bankrotteur und Schuldenmacher, der ständig in fragwürdige Pläne verwickelt ist, sondern auch noch übler Antisemit und Judenfeind. (In diesem Zusammenhang wäre natürlich auch interessant, einmal zu überprüfen, inwieweit die Darstellung von Igguldens René d'Anjou und seines Hofes, die ich mit Blick auf mir bekannte historische Fakten für eine Verfälschung halte, ein Ergebnis der Zeitgeist-Mode des 21. Jahrhunderts ist. Oder haben wir es hier nur mit einer parteiischen, da nationalen englischen Geschichtssicht zu tun.)
Was den tatsächlichen Wert von Margaret auf dem damaligen "Heiratsmarkt" betrifft:
Dazu habe ich vor einiger Zeit zufällig in einer ungedruckten Dissertation eine Information zur historischen Margaret entdeckt. Sie gehörte angeblich zu den Ehekandidatinnen, die für Kaiser Friedrich III. (HRR) in Betracht gezogen wurden. Zwar scheint es sich keineswegs um ein Heiratsprojekt zu handeln, das sehr weit fortgeschritten war, als es doch nicht zustande gekommen ist, doch zeigt diese Information jedenfalls, dass die historische Margaret einen recht guten "Marktwert" auf dem "Heiratsmarkt" gehabt haben muss und sie keineswegs der "Notnagel" war, wie Iggulden es uns weismachen will.
Werfen wir noch einen Blick auf die Töchter des französischen Königs Charles VII. des Siegreichen, von denen er lt. Iggulden keine mit Henry VI. verheiraten wollte. Von seinen Töchtern überlebten mindestens 6 das Kleinkindalter. So scheint es auch auf den ersten Blick, dass Iggulden mit seiner Idee, dass er keine mit Henry VI. verheiraten wollte, recht haben könnte.
Sehr wir uns aber einmal die Lage etwas genauer an. Die Ehe zwischen Henry VI. und Margaret wurde 1444 vertraglich vereinbart und 1445 tatsächlich geschlossen. Wie war es zu diesem Zeitpunkt um heiratsfähige Töchter von Charles VII. tatsächlich bestellt?
Zu diesem Zeitpunkt waren nur zwei seiner Töchter im Heiratsalter, eine gerade erst geboren, bei drei weiteren hätte Henry noch mehrere Jahre warten müssen, bis eine Heirat mit Ehevollzug möglich gewesen wäre. Die beiden heiratsfährigen Töchter des französischen Königs waren beide zu diesem Zeitpunkt aber bereits verlobt, und zwar schon seit mehreren Jahren.
Nicht übersehen werden darf, dass die Auflösung einer Verlobung im Spätmittelalter keineswegs ein Kavalierdelikt war, und dies vor allem dann nicht, wenn sie schon seit Jahren eine beschlossene Sache war. Eine wieder aufgelöste Verlobung galt für die Braut bzw. den Bräutigam und deren Familie als Schande. Es gibt einige Fälle, wo verstoßene Bräute in der Folge nicht mehr verheiratet werden konnten. Andererseits konnte es auch ziemlich teuer werden, wenn eine Verlobung gelöst wurde. So musste z. B. im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts das Haus Württemburg einem Herzog von Bayern Entschädigung zahlen, weil die für ihn vorgesehene Verlobte mit einem anderen Mann durchgebrannt war.
Es ist also davon auszugehen, dass Verlobungen gewöhnlich nur dann gelöst wurden, wenn die neue Verlobung einfach wirklich umso vieles vorteilhafter war, dass es sich lohnte, Schwierigkeiten mit der anderen Familie in Kauf zu nehmen oder wenn man mächtig genug war, so dass man es sich leisten konnte, die andere Familie vor den Kopf zu stoßen.
Katharina (1428-1446), die eine der beiden um 1444 heiratsfähigen Töchter, war mit Herzog Karl den Kühnen von Burgund, den sie auch heiratete, verlobt. Dieses Eheprojekt war im Zusammenhang mit dem Vertrag ausgehandelt worden, als die Herzöge von Burgund gegen Ende des Hundertjährigen Krieges (in den 1430er Jahren) die englische Seite verließen und mit dem Charles VII. Frieden schlossen, womit sie ihn auch als französischen König anerkannten. Da scheint es doch recht unrealistisch und es wäre politisch höchst unklug gewesen, wenn Charles VII., selbst wenn er persönlich diesen Henry VI. gerne als Schwiegersohn gehabt hätte, dafür eine neuerliche Auseinandersetzung mit den Herzögen von Burgund riskiert hätte.
Ähnlich verhält es sich auch mit der anderen Tochter. Radegunde (um 1427 - 1445) war mit einem deutschen Reichsfürsten verlobt. Auch hier gibt es eindeutige Indizien dafür, dass Charles VII. sich einiges von diesem Eheprojekt versprochen hat. Nach dem die Ehe durch den Tod seiner Tochter nicht zustandekam, war er es, der ihrem Verlobten eine andere Braut vermittelte.)
Ob nun Charles VII. eine eheliche Verbindung zwischen seinem Neffen Henry VI. und einer seiner Töchter ablehnte (was zumindest nach dem Roman von Haasse nicht der Fall gewesen sein dürfte) oder nicht, Fakt ist jedenfalls, dass er zum Zeitpunkt der Eheverhandlungen von Henry VI. und Margaret über keine eigene Tochter "verfügte", die er mit Henry VI. hätte sofort verheiraten können.
Fazit dieser Beobachtungen: Die Idee, die Iggulden in seinem Roman gestaltet hat, ist wohl Erfindung von ihm und nicht historisch belegt.
Ähnlich verhält es sich wohl auch mit seiner Geschichte, dass Henry VI. nicht zur Hochzeit persönlich gereist ist, weil die Franzosen nicht wissen durften, dass er schwachsinnig war. Auch hier habe ich den Eindruck, dass das eine eigene Erfindung von Iggulden ist, obwohl er es im Nachwort zur Tatsache macht. Denn auffallend ist schon, dass solche "Stellvertreter"-Ehen vor Ort, bei denen die tatsächliche Eheschließung erst am Hof des Bräutigams stattfand, vom 13. bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts üblich waren, und zwar auch in Fällen, wo der Bräutigam einen wesentlich kürzeren Weg zurückzulegen hatte, als dies bei Henry VI. der Fall gewesen wäre, der immerhin dazu den Ärmelkanal hätte überqueren müssen. (Den Tunnel gab es damals noch nicht.)
Es ist auch nichts dagegen einzuwenden (meine Meinung), wenn Fakten wesentlich verändert werden, solange das eine gute Geschichte ergibt (die sich nicht besser macht, als sie tatsächlich ist) und wenn das nicht schnell noch im Nachwort als wahre (oder sogar die einzig wahre) Auslegung der historischen Fakten "verkauft" wird. Zumindest das Letztere ist bei Conn Iggulden und seinem Nachwort eindeutig der Fall.
Und was ergibt sich daraus: dass er, der britische "Star-Autor" wohl auch nur ein "Märchenonkel" ist, der mehr sein will. (Aber da sind mir halt doch "Märchentanten" und "Märchenonkel" lieber, die auch dazu stehen können.)
Und da Nachwörter (wie auch andere Extras) inzwischen nicht nur bei der Bewertung eines Romans einbezogen werden (kein Nachwort und auch keine Extras führt bei Rezensenten/innen heute dazu, dass bei einem Buch Punkte abgezogen werden), sondern sogar als notwendige Ergänzung zum Roman zwingend gefordert und von Lesern/innen als seriöse Information gewertet werden, kann es im 21. Jahrhundert wohl nicht mehr gelten, dass Autoren/innen im Nachwort Dinge zu historischen Fakten machen, die unrichtig sind oder überhaupt nicht stimmen.