'Eichmann in Jerusalem' - Seiten 069 - 133

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Ein Aspekt der Aufarbeitung von Nazi Vergangenheit hat mich immer bestürzt. Über Fritz Bauer wurde ja schon berichtet. Was ist wohl in Hessen nach ihm benannt? Eine Justizvollzugsanstalt. Eigentlich ein Hohn.


    Das ist es tatsächlich nicht, da Fritz Bauer sich im Amt jahrelang für einen humaneren Strafvollzug eingesetzt hat, der ihm ein wichtiges Anliegen war. Nichtsdestotrotz hätte dieser große Mann eine stärkere Würdigung verdient, nicht nur in Form einer nach ihm benannten Straße o.ä., sondern vor allem im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Ich beziehe mich da eindeutig mit ein, denn ich hatte eigentlich nichts von ihm gehört, bevor ich erst einen Film über Bauer im Fernsehen sah und dann von Voltaire die von ihm weiter oben erwähnte, ebenso interessante wie informative Biografie geschenkt bekam.


    Zitat

    Ohne die Strukturen dieses Staates wäre er ein Niemand geblieben. Das ändert gar nichts an seiner persönlichen Schuld, bedeutet für mich aber, dass man, um ihm auch nur irgendwie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, um eine Analyse seiner Stellung innerhalb der Hierarchie gar nicht drumrumkommt.


    Das ist absolut richtig, und diese Analyse wird im weiteren Verlauf des Buches von Hannah Arendt auch vorgenommen.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann


  • Das ist sehr gut auf den Punkt gebracht, Dieter. :wave

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Ich glaube nicht, dass es in solchen Fällen so etwas wie Wiedergutmachung gibt. Vieles kann man nicht wiedergutmachen. Mir fällt da eher der Begriff Sühne ein.


    Ja, er passt besser. Auch Hannah Arandt benutzt ihn.


    Zitat

    Vermutlich gehört zu einer wirklichen Aufarbeitung der NS Zeit ein gewisser zeitlicher Abstand. Wer in einer solchen Zeit gelebt hat oder aufgewachsen ist, ist so sehr in dieses Herrschaftssystem verstrickt gewesen, dass es eine gehörige Portion Selbsterkenntnis und Mut braucht, um sich über die eigenen Verfehlungen im Klaren zu werden und sie auch nur vor sich selber einzugestehen.
    Und genau diese Eigenschaften sind den Menschen schon im alten Kaiserreich systematisch ausgetrieben worden.


    Das ist richtig, wobei es erfahrungsgemäß auch Menschen, die in einem liberaleren Umfeld aufgewachsen sind, schwer fällt, Fehler einzusehen und für sie geradezustehen, insbesondere wenn es sich bei diesen "Fehlern" um Verbrechen, gar Mord oder zumindest die Mitwisserschaft daran handelt.


    [SIZE=7]Edith entfernt zwei überflüssige Kommaten.[/SIZE]

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    Andreas Altmann

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  • Wikipedia definiert den Begriff "Wiedergutmachung" so:
    "Wiedergutmachung ist die Kompensation eines Unrechts durch Beseitigung oder Abmilderung seiner Folgen oder Leistung eines Ausgleichs."


    Bei dieser "Wiedergutmachung" war es allen klar, dass man nichts an diesen Verbrechen wieder gutmachen konnte, es ging um Sühneleistungen, politischer und finanzieller Natur.


    Darum vermied man auch anfangs, diesen Begriff in den Titel eines Gesetzes zu übernehmen. Man nannte das Gesetz stattdessen "Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz - BEG).


    Erst 1970 nahm man den Begriff "Wiedergutmachung" in einen Gesetzestitel auf: "Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung".


    Allerdings existiert in Hamburg ein "Amt für Wiedergutmachung" - wobei diese Bezeichnung aber niemals Gegenstand öffentlicher Kritik war - warum auch immer.



    Es ist - leider - zutiefst menschlich, dass man sich diese Verbrechen nicht eingestehen wollte. Wie oft hört man noch heute, es solle endlich Schluß sein mit den Berichten über die Verbrechen der Nazizeit. Das sagen dieselben Menschen, die aber nach wie vor "Deutschland als das Land der Dichter und Denker" feiern; darüber durfte jederzeit gesprochen werden.


    Und es ist auch gut, dass wer die Morde von Auschwitz öffentlich bestreitet sich strafbar macht.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Voltaire ()

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Die Menschen in Deutschland waren nach Beendigung des Ersten Weltkrieges noch nicht reif für die Demokratie.


    Den Menschen in Deutschland damals die Reife (oder wie Dieter meint, Bereitschaft) für die Demokratie abzusprechen, ist eine unzulässige Generalisierung und in diesem Sinne falsch. Es gab natürlich eine Menge Leute, die bereit waren, sich auf dieses "Experiment" einzulassen, nur saßen genau diese Leute eben nicht an den Hebeln der Macht und sind darum gescheitert.


    Dieter sagte es eigentlich sehr treffend, bevor er dann doch auf Voltaires Linie eingeschwenkt ist ;-):


    Zitat

    Original von Dieter Neumann
    Das sogenannte Bildungsbürgertum WOLLTE die Demokratie nicht, hat sie verächtlich abgelehnt, hat lieber die Diktatur billigend in Kauf genommen oder gar begeistert gefeiert. DAS ist der historische Sündenfall der Großvätergeneration gewesen.


    Neben dem Bildungsbürgertum haben sich allerdings auch andere, zum Teil ebenfalls einflußreiche Bevölkerungsgruppen an der zielgerichteten Unterhöhlung der Demokratie beteiligt, so das Großkapital und der Adel bis hinunter zu den zahllosen Landjunkern, aber auch ehemalige Frontkämpfer und andere Verlierer, aus deren Reihen sich schließlich viele wichtige Nazis rekrutierten.


    Es stimmt, dass Deutschland in Bezug auf Demokratie vergleichsweise wenig Tradition und Erfahrung besaß, aber das erging Franzosen und Engländern seinerzeit nicht anders, als sie die gekrönten Häupter ihrer Könige mittels scharfen Metalls von deren Körpern trennten. Mache Dinge lernt man eben nur, indem man sie einfach macht. Die Fähigkeit, sie auch richtig und gut zu machen, stellt sich bestenfalls ein, indem man aus Fehlern lernt. Diese Chance wurden den demokratischen Kräften der Weimarer Republik leider nicht gelassen.

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    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Außerdem liegt wohl dieser Kadavergehorsam den Deutschen im Blut.


    Das wäre eine sehr bequeme Erklärung, weil sie uns von jeder persönlichen Verantwortung freispräche. So einfach ist es aber nicht. "Spezifisch deutsche" Eigenschaften wie Pflichterfüllung, Gehorsam und Disziplin wurden uns gesamtgesellschaftlich und den meisten auch in der persönlichen Sozialierung über viele Generationen hinweg als weit über ihrem eigentlichen Wert stehende Tugenden vermittelt, woran sich ausgehend vom militaristischen Kaiserreich (Ja, Heinrich Manns Untertan ist wirklich ein großartiges Buch!) über den Nationalsozialismus bis heute nichts Entscheidendes geändert hat. Leider.

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    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann
    Auch dein Hinweis auf den für das Verständnis von einer gelebten Demokratie unabdingbaren Lernprozess ist natürlich absolut zutreffend. Gerade sehen wir ja am Beispiel der Menschen in der ehemaligen DDR, wie schwer es vielen von ihnen fällt, in der Demokratie anzukommen.


    Es ist wahr, dass die Entwicklung in den neuen Bundesländern zum Teil bedenklich stimmt, allerdings fällt es nicht nur ehemaligen Bürgern der DDR immer noch schwer, in der Demokratie anzukommen, wie du es ausdrückst. Auch im Westen, selbst diesseits von AfD und bierseligen Stammtischen, treten bei Otto Normalbürger häufig immer noch gruselige Einstellungen zutage, wenn man nur leicht an der demokratischen Haut kratzt.


    Zitat

    Und was deine letzte Bemerkung betrifft, so fürchte ich, dass auch diese zutrifft. Ich würde sie aber noch erweitern wollen, indem ich hinzufüge: Das Leben unter irgendeiner Obrigkeit fällt den Menschen überall offenbar leichter als das in einer Demokratie, die ihnen viel mehr Engagement und Bereitschaft zur Mitgestaltung (d. h. auch persönliche Verantwortungsübernahme) abverlangt.


    So ist es, wie es sich gerade - aber nicht ausschließlich - in schwierigen Zeiten nicht nur bei uns zeigt. Die aktuellen Erfolge von, um nur einige aus einer erschreckend langen Liste zu nennen, Dutarte, Le Pen, Erdogan und auch Trump beweisen, dass es sich bei der Sehnsucht nach "starken" Führern und einfachen Lösungen komplexer Probleme um ein weit verbreitetes Phänomen handelt.

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    Andreas Altmann

  • Danke für deine Begriffsklärung zur Wiedergutmachung, Voltaire. :-)


    Zitat

    Original von Voltaire
    Es ist - leider - zutiefst menschlich, dass man sich diese Verbrechen nicht eingestehen wollte. Wie oft hört man noch heute, es solle endlich Schluß sein mit den Berichten über die Verbrechen der Nazizeit. Das sagen dieselben Menschen, die aber nach wie vor "Deutschland als das Land der Dichter und Denker" feiern; darüber durfte jederzeit gesprochen werden.


    Und es ist auch gut, dass wer die Morde von Auschwitz öffentlich bestreitet sich strafbar macht.


    Zu beiden Punkten: Ja.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Auf der Seite 80 wird die Frage gestellt "Warum habt ihr nicht Widerstand geleistet?".
    Diese Frage stellte der Staatsanwalt offensichtlich jedem der Zeugen.
    Warum habt ihr nicht rebelliert und euch auf sie gestürzt?
    Hannah Arendt meint, das klinge alles sehr schön und einleuchtend, war aber doch grundfalsch.
    Was absoluter Unsinn ist.
    Hier hätte ihr sicher die Lektüre des Buches von Hermann Langbein
    ".........nicht wie die Schafe zur Schlachtbank: Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern" weitergeholfen.


    Und zum Widerstand der Juden sei auch an den Aufstand 1943 im Warschauer Ghetto erinnert. Da erhoben sich die verbliebenen Juden gegen die SS-Einheiten; wohl wissend, dass ihr Widerstand nur in den Tod führen konnte.
    Literaturhinweis: Reuben Ainsztein - Revolte gegen die Vernichtung: Der Aufstand im Warschauer Ghetto


    Es ist mir auch schon früher, bei anderen Büchern und Publikationen von Hannah Arendt, aufgefallen: Vieles von dem was sie schreibt, hat für mich ein wenig den Geruch des "jüdischen Selbsthasses" in sich.
    Zu diesem Punkt erlaube ich mir folgende Sekundärliteraturempfehlung:
    Sander L. Gilman - Jüdischer Selbsthaß: Antisemitismus und verborgene Sprache der Juden


    Obwohl Hannah Arendt selbst Jüdin ist, spricht aus ihr ein gewisser Antisemitismus und Antizionismus, wobei sie da in guter Gesellschaft ist. Auch Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Grosser, Egon Friedell wird dieser Antisemitismus und Antizionismus, der sich in jüdischem Selbsthass äußerte, unterstellt.


    Auch wenn dieses Buch als "Bericht" deklariert wird, so ist es er doch meinungsdurchzogen, die Tendenz dieser Meinung ist klar ersichtlich.


    Interessant auch das Hannah Arendt die Übersetzungen ins Deutsche während der Verhandlung kritisiert. Das israelische Prozeßrecht sieht auch für ausländische Angeklagte kein Recht auf Übersetzung vor. Insofern ist hier die Zurverfügungstellung eines Übersetzers nichts weiter als ein "Goodwill" des Gerichtes. Damit ein ausländischer Angeklagter, der der Landessprache nicht mächtig ist, dem Prozeß folgen kann, steht es ihm frei auf eigene Kosten einen Übersetzer zu engagieren. Das deutsche Prozeßrecht macht hier andere Vorgaben, aber das ist in diesem Verfahren gegen Adolf Eichmann eben auch nicht maßgebend gewesen.

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  • In diesen Kontext passt sehr gut eine Buchbesprechung von Urs Bitterli, erschienen 2011 unter der Rubrik "Alte Bücher - neu besprochen" in einem Schweizer Literaturjournal. Ich zitiere den folgenden Abschnitt daraus, weil ich finde, dass er sehr informativ ist, was die von Voltaire aufgeworfene Problematik um Hannah Arendts Frage "Warum habt ihr nicht Widerstand geleistet" betrifft:


    Die heftigste Kritik erregte die im Tonfall des Vorwurfs gehaltene Feststellung Hannah Arendts, die Juden hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen, und die Judenräte, die zwischen den Tätern und den Opfern standen, hätten mit den Nazis kollaboriert. „Diese Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung des eigenen Volkes“, schreibt Arendt, „ist für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte.“ Dazu schreibt Hans Mommsen in seinem Vorwort: „Mit der lapidaren Feststellung dass ohne die Kooperation der jüdischen Funktionäre die ‚Endlösungs‘-Politik nicht in dem tatsächlichen Umfange hätte realisiert werden können, rührte Hannah Arendt an eine Tabu-Zone, die auch bis heute nicht voll aufgehellt und deren Erörterung von denjenigen, die die Katastrophe überlebt hatten, verständlicherweise als gefühllos und anmassend betrachtet worden ist.“


    Wir wissen heute auf Grund sozialpsychologischer Untersuchungen besser, als es damals Hannah Arendt wissen konnte, dass unter den furchtbaren Extrembedingungen menschlicher Existenz Vollstrecker und Opfer der Konzentrationslager in der Tat mental zusammenrückten. Und wir wissen, dass die Judenräte, wie es einer der besten Kenner, Raoul Hilberg, formuliert hat, ebenfalls in der Falle sassen und nicht selten im Selbstmord die einzige Möglichkeit sahen, dem grausamen Dilemma, in dem sie sich befanden, zu entkommen. Liest man die von unterkühlter Sachlichkeit geprägten Erörterungen von Hannah Arendt heute wieder, kann man nachvollziehen, dass einer ihrer Freunde, der Religionshistoriker Gerschom Scholem, der Autorin vorwarf, sie habe es an „Liebe zu den Juden“ fehlen lassen. In seiner Rezension von „Eichmann in Jerusalem“ liess der Historiker Golo Mann seiner Empörung freien Lauf. „Noch einen Schritt,“ schrieb er, „und die Juden haben sich selbst verfolgt und selber ausgemordet und nur zufällig waren noch ein paar Nazis mit dabei. Vielleicht werden wir dies demnächst in Deutschland zu hören bekommen.“

  • Manchmal habe ich schon meine Schwierigkeiten damit, Hannah Arendt zu verstehen.


    Eichmann antwortet auf die Frage, ob er schuldig sei:
    "Im Sinne der Anklage nicht schuldig."


    Hannah Arendt schreibt dazu:
    "In welchem Sinne meint er denn, schuldig zu sein?"


    Die Antwort auf die Schuldfrage hat Eichmann juristisch beantwortet. Mit seiner Antwort gibt er zu verstehen, dass er sich in juristischer Hinsicht als nicht schuldig ansieht - schließt mit seiner Antwort aber eine moralische Schuld eben nicht grundsätzlich aus.


    Und das ist das, was Hannah Arendt offensichtlich nicht zu trennen vermag.
    Eichmann steht vor einem Gericht, einer Institution des Rechts. Und vor einem Gericht geht es eben um juristische Fragen, also in einem Strafverfahren um juristische Schuld. Ein moralisches Fehlverhalten hat bei der Rechtsprechung nichts zu suchen - auch wenn es noch so verwerflich ist.


    Selbstverständlich ist, das Eichmann auch im juristischen Sinne schuldig ist - auch wenn er diese juristische Schuld offensichtlich von sich weist. Das ist sein gutes Recht - mehr aber auch nicht.


    Hannah Arendt wertet, berichtet weniger und scheint auch - wenigstens ist das mein Eindruck - gewisse Schwierigkeiten mit dem juristischen Verlauf eines Prozesses zu haben.

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    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


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  • Eure dankenswerten Links bieten Lesestoff für Jahre. Uff!


    Danke Harimau für den Hinweis auf Bauers Wirken in Sachen Strafvollzug. Das wusste ich nicht.


    Voltaire, es ist nicht nur HA, die in ihrem Prozessbericht nicht sauber zwischen dem moralischen und juristischen Urteil trennt.
    Es scheint sich um ein Phänomen zu handeln, das bereits den gesamten Prozess durchzieht. Für viele behandelte Themen und einige Fragen des Staatsanwalts gibt es keinerlei Vebindung mit dem, was Eichmann getan hat. Er soll - nach meinem Eindruck - eben auch nicht nur juristisch verurteilt werden.
    Da man in Israel damals nur ihn zu fassen gekriegt hatte, musste er eben stellvertretend für viele andere abgeurteilt werden. Auch und gerade in moralischer Hinsicht.

  • Genau da liegt ja der Knackpunkt dieses Prozesses: in seiner fraglos gigantischen politischen Bedeutung. Und die ging von allem Anfang an weit über die rein juristischen Fragen hinaus. Ich hatte bereits an anderer Stelle dazu etwas gesagt. Voltaire hat völlig recht - und ist damit auch gar nicht weit vom grundsätzlichen Standpunkt der Hannah Arendt entfernt -, dass die Seriosität eines Gerichtsprozesses allein in seiner juristischen Korrektheit begründet ist. Es hätte also auch im Eichmannprozess allein um die individuelle Schuld des Angeklagten gehen müssen.


    Das war jedoch von vornherein unmöglich. Hannah Arendt trägt nach meiner Beurteilung keinen latenten Judenhass in sich, allenfalls eine innere Verzweiflung an der Passivität von Teilen ihres Volkes. Sie prangert völlig zu Recht die Tendenzen dieses Prozesses zu einem "Aufarbeitungstribunal" an. Auch sehe ich keine antizionistischen Züge darin, dass sie darauf verweist, wie juristisch unzulässig - wenn auch politisch und ethisch vollkommen verständlich - der Versuch der Regierung Ben Gurion gewesen ist, diesen Prozess zu einem Tribunal des jüdischen Volkes, zu einer Generalabrechnung mit den Antisemiten zu machen. Diese ständige Einflussnahme von außen lässt sich an den Ausführungen und dem Verhalten des Staatsanwaltes leicht nachweisen - und das tut Hannah Arendt ja auch.


    Da saß eben "nur" dieser Eichmann, stellvertretend für alle, die die ungeheuerlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu verantworten oder sie billigend in Kauf genommen hatten. Er war schuldig - und wie. Und sein Todesurteil geht sowohl nach juristischen als auch nach moralischen Maßstäben in Ordnung. Aber er war weder Hitler noch Himmler, weder Kaltenbrunner noch Heydrich. Und es war eben juristisch nicht sauber, ihn zu mehr machen zu wollen, als er war. Daher ja auch dieser Untertitel von der Banalität des Bösen, den Hannah Arendt überaus treffend gewählt hat.


    Dennoch war dies ein wichtiger Prozess, ein ganz und gar unverzichtbarer sogar. Denn mehr noch als die Frage "Warum habt ihr euch nicht gewehrt?" brennt ja eine andere unter den Nägeln: "Wie konnte es überhaupt so weit kommen?" Ein Satz von Hannah Arendt dazu: „Im Dritten Reich“, schreibt sie, „hatte das Böse die Eigenschaft verloren, an der die meisten Menschen es erkennen – es trat nicht mehr als Versuchung an den Menschen heran.“
    Ein Schlüsselsatz des Buches zur scheinbaren Normalität des Verbrechens - anders ausgedrückt: von der Banalität des Bösen.

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann
    ... die Frage "Warum habt ihr euch nicht gewehrt?"


    Die Frage hat aber auch schon was Zynisches, oder? Die Entrüstung in dem oben aufgeführten Zitat von Golo Mann („Noch einen Schritt und ...“) kann ich sehr gut nachvollziehen.



    Zitat

    Original von Dieter Neumann
    "Wie konnte es überhaupt so weit kommen?" Ein Satz von Hannah Arendt dazu: „Im Dritten Reich“, schreibt sie, „hatte das Böse die Eigenschaft verloren, an der die meisten Menschen es erkennen – es trat nicht mehr als Versuchung an den Menschen heran.“
    Ein Schlüsselsatz des Buches zur scheinbaren Normalität des Verbrechens - anders ausgedrückt: von der Banalität des Bösen.


    Das Ganze zog sich ja über ca. 20 Jahre. Es begann im Kleinen mit Wirtshausschlägereien und Pöbeleien, die Sitten wurden immer roher. Die Schrauben wurden von der NSDAP immer weiter perfide angezogen bis Gewalt und Mord alltäglich wurden. Ähnlich wie der Prozess des eigenen Alterns. Beim täglichen Blick in den Spiegel sehen wir immer gleich aus. Welche Entwicklung aber eigentlich stattgefunden hat sehen wir nur, wenn wir größere Abstände miteinander vergleichen.
    Und dann kam noch eine Menge Gruppendynamik hinzu. Mit Blick auf die aktuellen Ereignisse sollten wir uns nicht allzu sicher fühlen. :rolleyes

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Auf der Seite 80 wird die Frage gestellt "Warum habt ihr nicht Widerstand geleistet?".
    Diese Frage stellte der Staatsanwalt offensichtlich jedem der Zeugen.
    Warum habt ihr nicht rebelliert und euch auf sie gestürzt?
    Hannah Arendt meint, das klinge alles sehr schön und einleuchtend, war aber doch grundfalsch.
    Was absoluter Unsinn ist.


    Hier bin ich nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe. :gruebel War es deiner Ansicht nach Unsinn, dass der Staatsanwalt diese Frage gestellt hat, oder findest du ihre Erklärung, warum diese Frage unangebracht war, unsinnig?


    Zitat

    Und zum Widerstand der Juden sei auch an den Aufstand 1943 im Warschauer Ghetto erinnert. Da erhoben sich die verbliebenen Juden gegen die SS-Einheiten; wohl wissend, dass ihr Widerstand nur in den Tod führen konnte.
    Literaturhinweis: Reuben Ainsztein - Revolte gegen die Vernichtung: Der Aufstand im Warschauer Ghetto


    Hannah Arendt erwähnt diesen Widerstand sehr wohl, neben Warschau nennt sie zum Beispiel die jungen Holländer, die zur Bestrafung später in einem KZ qualvoll zu Tode gefoltert wurden. So wie ich HA verstehe, respektiert sie diesen Widerstand sehr, weist nur darauf hin, von wie wenigen er im Verhältnis zur unfassbaren Zahl der Opfer geleistet wurde - wofür sie Verständnis zeigt und ausführliche Erklärungsversuche liefert. Ich erinnere eine Stelle, an der sie einen Zeugen zitiert, der dem jüdischen Volk angesichts seiner physischen Vernichtung insgesamt eine großartige Haltung bescheinigt.


    Zitat

    Es ist mir auch schon früher, bei anderen Büchern und Publikationen von Hannah Arendt, aufgefallen: Vieles von dem was sie schreibt, hat für mich ein wenig den Geruch des "jüdischen Selbsthasses" in sich.


    Obwohl Hannah Arendt selbst Jüdin ist, spricht aus ihr ein gewisser Antisemitismus und Antizionismus, wobei sie da in guter Gesellschaft ist. Auch Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Grosser, Egon Friedell wird dieser Antisemitismus und Antizionismus, der sich in jüdischem Selbsthass äußerte, unterstellt.


    Ich denke, wir sollten vorsichtig sein und keine Begrifflichkeiten vermischen. Wenn jemand, zumal eine Jüdin wie HA, dem Zionismus kritisch gegenübersteht, macht es sie noch lange nicht zur Antisemitin. Der Zionismus stellt eine, insbesondere seit der Gründung des Staates Israel, starke Strömung innerhalb des Judentums dar, dem HA allerdings das Recht auf einen "Allgemeinvertretungsanspruch" für alle Juden abspricht. Für sie bleibt das Leben in der Diaspora weiterhin eine legitime Möglichkeit, ohne der Zusammengehörigkeit zu ihrem Volk abzuschwören.


    Zitat

    Auch wenn dieses Buch als "Bericht" deklariert wird, so ist es er doch meinungsdurchzogen, die Tendenz dieser Meinung ist klar ersichtlich.


    Klar ist er das, sonst hätte er auch nicht den Wert, den wir ihm zumessen. Zu berichten, ohne zu deuten, hilft den Abwesenden nicht weiter, wenn sie verstehen wollen, was vor sich geht. Die einzige Alternative wäre, die gesamten Gerichtsprotokolle darzulegen, was angesichts des Umfangs für potenzielle Leser nicht zu bewältigen wäre. Objektivität in Berichterstattung ist und bleibt ganz allgemein eine Illusion, denn auch das Weglassen von Informationen, wie zum Beispiel eine Nichterwähnung des politischen Hintergrundes des Prozesses, wäre Parteinahme. Ebenso muss HA zwangsläufig werten, indem sie sich entscheidet, über welche Punkte, also Akten, Zeugen, schriftliche Aussagen usw. sie berichtet und über welche nicht. Lücken sind unvermeidlich, tragen aber ebenso unvermeidlich dazu bei, Tendenzen zu schaffen.


    Ich persönlich halte ihre Deutungen für legitim (und hochinteressant!), weil sie sich nicht hinter Gewäsch versteckt und auch keinen Hehl daraus macht, welchem Denken und welcher Haltung ihre Ansichten entspringen. Damit kann ich mich auseinandersetzen.


    Zitat

    Interessant auch das Hannah Arendt die Übersetzungen ins Deutsche während der Verhandlung kritisiert.


    Du meinst hier ihr Urteil zur schlechten Qualität, oder?


    Zitat

    Das israelische Prozeßrecht sieht auch für ausländische Angeklagte kein Recht auf Übersetzung vor. Insofern ist hier die Zurverfügungstellung eines Übersetzers nichts weiter als ein "Goodwill" des Gerichtes.


    Ich denke, dass sie zum einen von der Übersetzung für die Berichterstatter sprach, es andererseits aber durchaus im Interesse des Gerichts lag, Eichmann sprachlich voll in den Prozess einzubinden. Es wollte seine Kooperation erreichen, um nicht nur zu einer Verurteilung zu kommen, an der es keinen Zweifel geben konnte, sondern gleichzeitig so viel wie möglich betreffend der Funktionsweise der abscheulichen Mordmaschine sowie Eichmanns Anteil daran aufdecken. Eine andere Rolle mag gespielt haben, dass das Gericht aufgrund der riesigen internationalen Aufmerksamkeit nicht den geringsten Anschein von "Unfairness" aufkommen lassen wollte, was wohl gut gelungen ist. HA lobt, wie schon erwähnt, die vorbildliche Haltung der Richter ausdrücklich.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann
    ... Liest man die von unterkühlter Sachlichkeit geprägten Erörterungen von Hannah Arendt heute wieder, kann man nachvollziehen, dass einer ihrer Freunde, der Religionshistoriker Gerschom Scholem, der Autorin vorwarf, sie habe es an „Liebe zu den Juden“ fehlen lassen.


    Diesen Vorwurf finde ich aus menschlicher Sicht sehr verständlich, zumal von direkt Betroffenen, aber man darf nicht vergessen, dass HA bemüht war, den heiklen Sachverhalt rein intellektuell und nicht gefühlsmäßig zu analysieren. Ihr wurde wohl häufig vorgeworfen, einer eher unterkühlter Mensch zu sein, aber die Unterstellung fehlender Betroffenheit angesichts der Shoah dürfte sie doch schwer verletzt haben. Da ich nicht das Privileg hatte, sie persönlich kennenzulernen, kann ich mir dazu natürlich keine eigene Meinung bilden.


    Zitat

    In seiner Rezension von „Eichmann in Jerusalem“ liess der Historiker Golo Mann seiner Empörung freien Lauf. „Noch einen Schritt,“ schrieb er, „und die Juden haben sich selbst verfolgt und selber ausgemordet und nur zufällig waren noch ein paar Nazis mit dabei. Vielleicht werden wir dies demnächst in Deutschland zu hören bekommen.“[/I]


    Das ist meiner Meinung nach polemisch und maßlos überzogen. Ich habe keine einzige Stelle gelesen, an der HA die Nazis entschuldet oder ihre Schuld auch nur im Geringsten relativiert. Die Gefahr, dass irgendwelche gehirnlosen Arschlöcher ihre Worte möglicherweise verdrehen und aberwitzige Schlüsse daraus ziehen, sollte und darf sie nicht hindern, ihre (subjektiven) Erkenntnisse darzulegen.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Und das ist das, was Hannah Arendt offensichtlich nicht zu trennen vermag.
    Eichmann steht vor einem Gericht, einer Institution des Rechts. Und vor einem Gericht geht es eben um juristische Fragen, also in einem Strafverfahren um juristische Schuld. Ein moralisches Fehlverhalten hat bei der Rechtsprechung nichts zu suchen - auch wenn es noch so verwerflich ist.


    Das stimmt, aber ist es nicht vielmehr die Staatsanwaltschaft, die Eichmanns moralisches Versagen immer wieder thematisiert und von den Richtern "zurückgepfiffen" wird? :gruebel


    Zitat

    Selbstverständlich ist, das Eichmann auch im juristischen Sinne schuldig ist - auch wenn er diese juristische Schuld offensichtlich von sich weist. Das ist sein gutes Recht - mehr aber auch nicht.


    Beides ist zweifelsohne richtig.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von xexos


    Die Frage hat aber auch schon was Zynisches, oder? Die Entrüstung in dem oben aufgeführten Zitat von Golo Mann („Noch einen Schritt und ...“) kann ich sehr gut nachvollziehen.


    Sorry, aber ich denke, hier verwechselst du etwas. Manns Entrüstung bezog sich auf HAs Auslassungen über die Mitarbeit der Judenräte an der Shoah, während die oben zitierte Frage von Seiten des Staatsanwalts gestellt wurde. Der wiederum hatte ganz sicher kein Interesse daran, eine solche Verbindung zu ziehen. Dahinter dürfte sich eher die unterschwellige Botschaft verbergen, dass der Staat Irael niemals ohne Gegenwehr eine weitere Vernichtung von Juden zulassen würde - was im Übrigen sowohl zutreffend als auch richtig ist.


    Zitat

    Original von Dieter Neumann
    "Wie konnte es überhaupt so weit kommen?" ...


    Zitat

    Das Ganze zog sich ja über ca. 20 Jahre. Es begann im Kleinen mit Wirtshausschlägereien und Pöbeleien, die Sitten wurden immer roher. Die Schrauben wurden von der NSDAP immer weiter perfide angezogen bis Gewalt und Mord alltäglich wurden. Ähnlich wie der Prozess des eigenen Alterns. Beim täglichen Blick in den Spiegel sehen wir immer gleich aus. Welche Entwicklung aber eigentlich stattgefunden hat sehen wir nur, wenn wir größere Abstände miteinander vergleichen.
    Und dann kam noch eine Menge Gruppendynamik hinzu. Mit Blick auf die aktuellen Ereignisse sollten wir uns nicht allzu sicher fühlen. :rolleyes


    Das ist alles richtig, greift aber als Erklärung deutlich zu kurz. Wie von Dieter an anderer Stelle vorgeschlagen, würde ich die eminent wichtige Diskussion "Wie es dazu kommen konnte" auch gern bis in den letzten Abschnitt der LR verschieben, wenn wir alle das Buch beendet haben. Ist natürlich nur meine Meinung, ich will hier nichts unterdrücken. :-)

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von harimau


    Ich denke, wir sollten vorsichtig sein und keine Begrifflichkeiten vermischen. Wenn jemand, zumal eine Jüdin wie HA, dem Zionismus kritisch gegenübersteht, macht es sie noch lange nicht zur Antisemitin. Der Zionismus stellt eine, insbesondere seit der Gründung des Staates Israel, starke Strömung innerhalb des Judentums dar, dem HA allerdings das Recht auf einen "Allgemeinvertretungsanspruch" für alle Juden abspricht. Für sie bleibt das Leben in der Diaspora weiterhin eine legitime Möglichkeit, ohne der Zusammengehörigkeit zu ihrem Volk abzuschwören.


    Das ist m. E. eine sehr präzise Richtigstellung, was die Gesinnung der Autorin ihrem eigenen Volk gegenüber anbetrifft, der ich ausdrücklich zustimme.