'Eichmann in Jerusalem' - Seiten 069 - 133

  • Zitat

    Original von xexos
    Da scheine ich bei euch beiden ja noch ein bedeutsames Thema angesprochen zu haben. ;-)


    Dieter, was meinst Du genau mit dem Bezug auf die neuen Bundesländer? Die DDR rühmte sich doch eigentlich immer damit, in ihren Reihen eine intensivere Entnazifizierung durchgeführt zu haben.


    Nun, die offizielle Politik der DDR war stets, dass es in ihrer sozialistisch-antifaschistischen Gesellschaft keine Nazis gab. Die waren angeblich alle im Westen gelandet und saßen dort (was durchaus oft zutraf) an wichtigen Schlüsselstellen in Staat und Gesellschaft. Dass viele Altnazis sich auch unter den Schutz der SED geflüchtet und dort Karriere gemacht hatten, wurde konsequent verschwiegen. Gerichtsprozesse zur Aufarbeitung der deutschen Verstrickung in den Naziterror haben in der DDR nicht stattgefunden - kein einziger.


    Auch die Berührungsängste mit dem alten Wehrmachtsgeist zum Beispiel waren erstaunlich gering. So bleiben die alten Uniformen und Dienstgrade nahezu unverändert auch in der NVA erhalten. Ebenso wie der gesamte militaristische Ungeist wie z. B. fehlende Rechte von Untergebenen, was im anachronistischen altpreußischen Stechschritt seinen äußeren Ausdruck fand. Gerade das, also die quasi stillschweigende Übernahme alter deutscher (nicht nur Militär-) Traditionen und deren Übertragung von der Nazidiktatur in die sog. Diktatur des Proletariats ließen kaum Raum für eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte. Man war ja auch gar nicht daran interessiert: Die Faschisten und Kriegstreiber waren im Westen, die kommunistischen Friedenstauben unter Führung des großen Bruders UdSSR im Osten.


    Und damit war die Sache ideologisch auch schon erledigt. Wen hat jemals in einer Diktatur irgendwo auf der Welt die Wahrheit gekümmert?

  • Ich kann Voltaire nur zustimmen, dass sicher alle Menschen eine Vorstellung davon hatten, dass allen Deportieren und sonstwie Abgeholten ein schlimmes Schicksal drohte.
    Das ist fast meine einzige Erinnerung an die Erzählungen meines Großvaters, dass jeder, der "das Maul aufmachte" damit rechnen musste, abgeholt zu werden und womöglich nie wiederkam.


    Ein Aspekt der Aufarbeitung von Nazi Vergangenheit hat mich immer bestürzt. Über Fritz Bauer wurde ja schon berichtet. Was ist wohl in Hessen nach ihm benannt? Eine Justizvollzugsanstalt. Eigentlich ein Hohn.


    Ob es überhaupt möglich gewesen wäre, ausschließlich über die Person Otto Adolf Eichmann ein gerechtes Verfahren zu führen? Ich kann mir das gar nicht vorstellen, weil er ohne das Terrorregime der Nazis noch nicht einmal Abteilungsleiter einer Schraubenfabrik geworden wäre.
    Ohne die Strukturen dieses Staates wäre er ein Niemand geblieben. Das ändert gar nichts an seiner persönlichen Schuld, bedeutet für mich aber, dass man, um ihm auch nur irgendwie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, um eine Analyse seiner Stellung innerhalb der Hierarchie gar nicht drumrumkommt.


    Erschreckend für mich ist, Dieter, dass es nicht nur die Diktaturen auf der Welt sind, die sich um die Wahrheit und die Aufarbeitung von früheren Verbrechen nicht scheren.
    Nur in wenigen unserer Nachbarländer ist man begierig gewesen, die eigene Verwicklung in die Nazi-Verbrechen zu bearbeiten und zu verfolgen.
    Ohne eifrige Kollaborateure wären viele Verbrechen in dem Ausmaß nicht möglich gewesen. Viele dieser Kollaborateure sind nach der deutschen Niederlage von ihren Nachbaren schlicht umgebracht worden.
    Eine juristische Aufarbeitung ist überall eher die Ausnahme gewesen.
    Gerade da galt sehr oft: Die Kleinen hängt man auf, die Großen lässt man laufen.

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann
    ... Dass viele Altnazis sich auch unter den Schutz der SED geflüchtet und dort Karriere gemacht hatten, wurde konsequent verschwiegen. ...


    Ich behaupte nicht, dass das nicht so war, denn ich weiß es nicht, aber woher weißt du das?
    Gibt es Beispiele, die belegt sind? Das interessiert mich.
    Nenn mich blauäugig, aber ich habe immer angenommen, dass die Kommunisten, die für ihre Überzeugungen im Lager oder Gefängnis waren und den neuen Staat aufbauen wollten, keine Nazis in ihren Reihen geduldet hätten.

  • Zitat

    Original von Clare
    ...
    Dass und wie die Juden in der ersten Phase des Vertreibung, die in Vernichtung gipfelte, mit eingebunden waren, war mir so nicht bekannt. Ich hatte allerdings auch einen anderen Geschichtsunterricht als die meisten von euch. Eichmann berichtet fast stolz von seinen Erfolgen, die er gemeinsam mit den Judenräten in die Wege leitete, von den Geldern und Besitztümern, die in die Kassen des Reiches flossen.
    ...


    In meinem Geschichtsunterricht wurde über das Dritte Reich kaum gesprochen. Schon gar nicht über eine Beteiligung der Juden. Vielleicht hätte ich in Geschichte besser aufgepasst, wenn nicht nur über das Mittelalter gesprochen worden wäre.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • In meiner Schulzeit wurde das Dritte Reich dreimal ausführlich behandelt (Fünfte und neunte Klasse, Oberstufe), das Mittelalter dagegen fast gar nicht. Es hat mich nicht davon abgehalten, ein Geschichtstudium zu beginnen. ;-)

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Die Schuld-Frage und die damit verbundene Frage der Aufarbeitung beschäftigt mich seit vielen Jahren sehr.
    In den letzten Wochen seines Lebens hat mein Großvater mit mir viele Gespräche geführt, die dieses Thema betreffen. Er war überzeugter Nazi und hat das später sehr bereut. Da ich meinen Großvater über alles geliebt habe, waren diese Geständnisse für mich kaum zu ertragen, zumal er in dem Lebensabschnitt, in dem ich ihn kannte, sehr viel Gutes getan hat. Er hat u.a. mehrere Stiftungen gegründet, die bis heute bestehen. Und das natürlich auch aus einem schlechten Gewissen heraus und ein kleiner Versuch der Wiedergutmachung (was natürlich nicht geht).
    Beruflich gesehen hat er ein noch heute bedeutendes Unternehmen mit Erfindungen beliefert, die zu einigem Erfolg geführt haben, so dass das Unternehmen heute noch 50.000 Mitarbeiter hat.
    Jetzt meine, vielleicht sehr naive Frage, die mich seit 20 Jahren umtreibt: Wäre mein Großvater für seine Taten im 2. Weltkrieg verurteilt worden, was unbestreitbar richtig gewesen wäre, hätte es seine persönliche Form der Wiedergutmachung auch nicht gegeben. Wäre ein Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland in der Form möglich gewesen, wenn man alle Nazis aus dem Verkehr gezogen und den Taten angemessen bestraft hätte?
    Versteht mich bitte nicht falsch, ich will gar kein Verbrechen entschuldigen, schon gar nicht das der Judenvernichtung, zumal da der andere Teil meiner Familie ausgerottet wurde, aber diese Frage stelle ich mir schon viele Jahre.
    Übrigens ähnlich wie nach der Wiedervereinigung mit den Stasi-Angehörigen.


    Ich habe euch die Geschichte meines Großvaters erzählt, die natürlich stellvertretend für viele steht.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    (...) Wäre mein Großvater für seine Taten im 2. Weltkrieg verurteilt worden, was unbestreitbar richtig gewesen wäre, hätte es seine persönliche Form der Wiedergutmachung auch nicht gegeben. Wäre ein Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland in der Form möglich gewesen, wenn man alle Nazis aus dem Verkehr gezogen und den Taten angemessen bestraft hätte?(...)


    Liebe Regenfisch, wer könnte sich anmaßen, diese Frage zu beantworten? Es ist die berühmte qualvolle Frage nach dem "was wäre, wenn ...".


    Unzweifelhaft gründet sich der sog. Wiederaufbau incl. des "Wirtschaftswunders" auch auf die Mitwirkung ehemaliger Nazis. Ohne sie in Schlüsselstellungen von Wirtschaft und Verwaltung wäre es sicher nicht so schnell wieder aufwärts gegangen. Schließlich waren nach dem verlorenen Krieg nicht mehr allzu viele gänzlich unbelastete Leute übrig oder standen zur Verfügung, um wichtige Funktionen zu besetzen. Somit ist deine Frage wohl eine, die auf Abwägungen zwischen Wohlstand und Moral hinausläuft.


    Wahrscheinlich stand aber hinter der Ablehnung einer rückhaltlosen Aufklärung wohl eher nicht die Überlegung, dass der Wiederaufbau nicht funktioniert hätte, wenn man die Täter zur Rechenschaft gezogen hätte. Es war dies also keine rationale Entscheidung zugunsten des Wiederaufbaus - jedenfalls in den meisten Fällen nicht.
    Vielmehr war im gesamten deutschen Volk eine tiefe Scheu (bei manchen auch Scham), vor allem aber eine kollektive Angst vor einer ehrlichen Aufarbeitung der jüngsten Geschichte und damit der vielfältigen individuellen Verstrickungen in die Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorhanden. Und genau diese hat unsere Eltern und Großeltern dazu verführt, lieber zu verschweigen, zu bagatellisieren oder gar - und das nicht zu wenig - zu lügen. Nicht wenige, die noch am Leben sind, tun dies starrsinnig noch heute. Es ist ekelhaft, aber menschlich.


    Zwei andere Gruppen von Nachkriegsdeutschen gab es über diese große Mehrheit hinaus aber auch noch: Die wenigen, die die Größe hatten, sich zu ihrer Verstrickung zu bekennen, die also ihre Schuld bekannten (wie zum Beispiel dein verehrter Großvater), und die andere, deutlich größere Gruppe, die offen an den Stammtischen oder zumindest insgeheim nach wie vor Nazis waren. Und es bis heute sind.


    Was deine Frage bezüglich des Großvaters angeht, so maße ich mir hier als Nutznießer der Gnade des gerade eben noch Spätgeborenen keinerlei moralische Wertungen an.


    Ich werde aber immer sagen, dass es vollkommen unerträglich war, dass ein alter Nazi (Mitglied der SS und Napola-Zögling) mich eine Zeit lang am Gymnasium in Geschichte unterrichten durfte. Was haben sich unsere Eltern eigentlich eingebildet, uns Kinder und Jugendliche von solchen elenden Faschisten unterrichten zu lassen? Als mein Geist so langsam erwachte und ich merkte, was der Kerl uns da mitgeben wollte, habe ich mich bei meinen Eltern beschwert. Die haben mir gesagt, ich solle gefälligst mehr Respekt vor einem Manne haben, der im Krieg für Deutschland ein Bein verloren habe. Auf meine Einlassung, diese Sache habe mehr mit dem zu tun, was in des Lehrers Kopf passiere, als mit dem, was an seinem Rumpf noch hänge, erklärten meine Eltern, zu so etwas wie mir hätte man noch wenige Jahre zuvor "vaterlandsloser Geselle" gesagt.


    Noch eine kleine Reminiszenz, die mir - ich gebe es eitel zu - noch heute gut tut: Zwei Jahre danach war ich alt genug, um in einem Artikel in der Schülerzeitung (den wir an der Zensur durch den Direktor vorbeischmuggeln mussten) ein paar höchst brisante Fragen zum Wirken jenes Nazilehrers im sog. Dritten Reich zu stellen, die nach relativ kurzer Zeit zu dessen sang- und klangloser Frühpensionierung und damit Entfernung aus dem Schuldienst geführt haben.

  • Ich finde die Frage übrigens gar nicht naiv. Für mich gehört sie zu einer Reihe von Fragen, die sich die nachfolgende Generation immer wieder stellt und auch gegen das Vergessen stellen sollte und vielleicht sogar jemanden hat, dem sie sie stellen kann. Beantworten kann ich sie auch nicht. Das kann niemand. Da bin ich mit Dieter einer Meinung.


    Ich hatte übrigens in der Grundschule auch einen Lehrer, der im Krieg bei der Marine war. Ich konnte das dortige Liedgut auswendig und er lies uns damals auch noch alle drei Strophen des Deutschlandliedes auswendig lernen, mit der Begründung, dass das Lied ja überhaupt nicht so gemeint gewesen sei. Warum die ersten beiden Strophen nicht gesungen werden, hat er uns nicht erklärt.


    Das sind die Dinge, bei der ich mir eine bessere Aufarbeitung gewünscht hätte oder eine "angemessenere" Bestrafung der Angeklagten, die in diversen Prozessen viel zu lasch behandelt wurden und natürlich auch ein sensiblerer Umgang mit allen Opfern. Mein Großvater hätte jetzt wohl noch auf die Wegnahme des Heldenstatus von Stauffenberg und seinen Mitverschwörern bestanden. Da war er ganz empfindlich. In Bezug auf den Wiederaufbau hat er auf unsere Fragen immer ähnlich geantwortet, wie Dieter es jetzt tut.

  • Wir kommen auf diese Fragen sicher im weiteren Verlauf des Buchs zurück. Für mich gibt es zur Frage der persönlichen Schuld gar keine allgemeingültigen Antworten. Mit seiner Schuld muss jeder leben und ich halte es selbst nach so vielen Jahren für aussichtslos, in jedem Fall gerechte Urteile zu fällen.
    Ich glaube nicht, dass es in solchen Fällen so etwas wie Wiedergutmachung gibt. Vieles kann man nicht wiedergutmachen. Mir fällt da eher der Begriff Sühne ein.


    Vermutlich gehört zu einer wirklichen Aufarbeitung der NS Zeit ein gewisser zeitlicher Abstand. Wer in einer solchen Zeit gelebt hat oder aufgewachsen ist, ist so sehr in dieses Herrschaftssystem verstrickt gewesen, dass es eine gehörige Portion Selbsterkenntnis und Mut braucht, um sich über die eigenen Verfehlungen im Klaren zu werden und sie auch nur vor sich selber einzugestehen.
    Und genau diese Eigenschaften sind den Menschen schon im alten Kaiserreich systematisch ausgetrieben worden.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Und genau diese Eigenschaften sind den Menschen schon im alten Kaiserreich systematisch ausgetrieben worden.


    Das ist ein ganz wichtiger Hinweis, liebes Rumpelstilzchen. Die Verachtung weiter Kreise des sogenannten Bürgertums gegenüber der Demokratie im Allgemeinen und der Weimarer Republik im Besonderen war in gleichem Maße der Nährboden für die Nazis wie der tief in der Bevölkerung verwurzelte Militarismus, der überall vorhandene Antisemitismus und eine völlig unkritische Monarchieschwärmerei - von der unseligen Dolchstoßlegende, mit der die Niederlage im Ersten Weltkrieg geschichtsverfälschend erklärt werden sollte, mal ganz abgesehen.


    Die jungen Menschen, die in der Hitlerzeit aufgewachsen sind - und wir sprechen hier von der Generation meiner Eltern - haben nur sehr selten zu Hause moralische Hilfestellungen erhalten, die ihnen etwa eine Stütze geboten hätten, eine kritische Position gegenüber dem Nationalsozialismus zu entwickeln. Über dieses Thema - das völlige moralische Versagen der Großvätergeneration - sind viele Bücher geschrieben worden, auch sehr gute Romane. Mit unserem Thema, mit Hannah Arendts Buch über den Prozess gegen einen willfährigen Bürokraten, der unsägliche Menscheitsverbrechen ermöglicht hat, hat das nur scheinbar nichts zu tun. Tatsächlich nämlich ist auch Adolf Eichmann in genau diesem Umfeld aufgewachsen, in dem sich so gut wie niemand laut und klar gegen den Ungeist von Rassismus und Diktatur aufgelehnt hat, bevor es zu spät war. Das aber wäre die Aufgabe der damaligen "Erziehungsberechtigten" gewesen. Sie haben auf ganzer Linie versagt und im Ergebnis nichts anderes getan, als monumentale Täter zu schaffen oder aber auch "nur" ihre Kinder zu opfern.

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann
    Über dieses Thema - das völlige moralische Versagen der Großvätergeneration - sind viele Bücher geschrieben worden, auch sehr gute Romane.


    So etwas darfst Du in einem Bücherforum aber nur schreiben, wenn Du anschließend auch ein paar Beispiele und Lesetipps lieferst. :wave

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Und genau diese Eigenschaften sind den Menschen schon im alten Kaiserreich systematisch ausgetrieben worden.


    Ich glaube nicht, dass den Menschen etwas "ausgetrieben" wurde. Sie kannten es schlichtweg nicht anders. Die Mentalität der Menschen im Kaiserreich hat Heinrich Mann in seinem großartigen Roman "Der Untertan" wunderbar beschrieben. Mein Großvater väterlicherseits war in Teilen auch vom Schlage des Diederich Hessling. Major im Kaiserlichen Heer und kaisertreu bis zur Selbstaufgabe. Ich habe es sicher schon mal erzählt, aber mein Vater wurde enterbt, weil er am 28.1.1916 geboren wurde und nicht am 27.1.1916, Kaisers Geburtstag.


    Die Menschen in Deutschland waren nach Beendigung des Ersten Weltkrieges noch nicht reif für die Demokratie. Zudem waren die Bestimmungen der Weimarer Reichtsverfassung nicht einklagbar. Und durch die überhöhten Reparationsforderungen war die deutsche Wirtschaft kaum noch funktionsfähig. Ein fruchtbarer Bodensatz für radikale Ideen. Und die NSDAP hat das für sich genutzt. Dr. Joseph Goebbels, ein kluger Kopf, hat wohl als Erster die Möglichkeiten und die Macht der Medien erkannt und für seine Partei genutzt.


    Aus diesem Bodensatz konnte auch ein Adolf Eichmann und sein Denken entstehen.
    Eichmann war die Personifizierung einer perversen Bürokratie.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von xexos


    So etwas darfst Du in einem Bücherforum aber nur schreiben, wenn Du anschließend auch ein paar Beispiele und Lesetipps lieferst. :wave


    Das bei Weitem eindrucksvollste und wichtigste Buch dazu hat Voltaire gerade verlinkt. Muss man gelesen haben. Danach können wir über weitere reden, wenn nötig.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Die Menschen in Deutschland waren nach Beendigung des Ersten Weltkrieges noch nicht reif für die Demokratie.


    Ich ahne, was du meinst, Voltaire, aber das ist eine problematische Formulierung. Mir gefällt sie nicht. Wann ist man denn "reif" für die Demokratie? Ist das eine Frage des Alters oder der Prägung oder der Geschichtserfahrung oder der Intelligenz oder ... oder?


    Hättest du gesagt, sie waren nicht bereit zur Demokratie, wäre ich eher damit einverstanden. Denn genau darum hat es sich m. E. gehandelt. Demokratie war durchaus eine politische Ordnung, die den Deutschen bekannt war. Und schon Generationen vorher waren sie durchaus "reif" genug dafür gewesen. Demokratie war ihnen ein Begriff nicht nur aus dem Geschichtsunterricht über das antike Griechenland, sondern relativ zeitnah durch die 1848 konstituierte Frankfurter Nationalversammlung, der ersten frei gewählten Volksvertretung der Deutschen. Die Paulskirche und das Hambacher Schloss sind den Bürgern als Symbol der demokratischen Bewegung in Deutschland bekannt gewesen. Und die Weimarer Republik hatten sie ja selbst miterlebt, ohne ihr jemals eine Chance zu geben.


    Das sogenannte Bildungsbürgertum WOLLTE die Demokratie nicht, hat sie verächtlich abgelehnt, hat lieber die Diktatur billigend in Kauf genommen oder gar begeistert gefeiert. DAS ist der historische Sündenfall der Großvätergeneration gewesen.

  • Dieter
    Ich will mich jetzt hier nicht um Begrifflichkeiten streiten, aber die Vokabel "reif" habe ich bewusst gewählt. Ich denke, man ist eh erst dann "reif" für eine Sache, wenn man auch "bereit" dafür ist. Und diese Reife fehlte den Menschen einfach.
    Zudem glaube ich nicht, dass der damalige Geschichtsunterricht vermittelt hat, was Demokratie überhaupt ist. Trotz Paulskirche, Hambacher Fest und dem antiken Griechenland.
    Selbst als die Menschen - sehr eingeschränkt natürlich - ihre Abgeordneten für den Reichstag wählen konnten, so war ihnen das Wesen der Demokratie trotzdem wohl noch eher fremd.
    Über allem stand der Kaiser.
    "Ich kenne keine Parteien mehr - ich kenne nur noch Deutsche."


    Und dieser Kadavergehorsam dürfte auch zum Teil "in den Genen" von Eichmann gewesen sein. Denn das Leben in einer Demokratie setzt einen langen Lernprozeß voraus. Man denke da nur an die Erfahrungen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.


    Außerdem liegt wohl dieser Kadavergehorsam den Deutschen im Blut.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Dieter
    Ich will mich jetzt hier nicht um Begrifflichkeiten streiten, aber die Vokabel "reif" habe ich bewusst gewählt. Ich denke, man ist eh erst dann "reif" für eine Sache, wenn man auch "bereit" dafür ist. Und diese Reife fehlte den Menschen einfach.


    Und dieser Kadavergehorsam dürfte auch zum Teil "in den Genen" von Eichmann gewesen sein. Denn das Leben in einer Demokratie setzt einen langen Lernprozeß voraus. Man denke da nur an die Erfahrungen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.


    Außerdem liegt wohl dieser Kadavergehorsam den Deutschen im Blut.


    Du hast recht - im Grunde meinen wir dasselbe, vor allem, wenn du den Begriff "reif" so interpretierst.


    Auch dein Hinweis auf den für das Verständnis von einer gelebten Demokratie unabdingbaren Lernprozess ist natürlich absolut zutreffend. Gerade sehen wir ja am Beispiel der Menschen in der ehemaligen DDR, wie schwer es vielen von ihnen fällt, in der Demokratie anzukommen. Das ist kein Wunder, wenn man über Generationen von einer Diktatur in die nächste geraten ist und sein Leben darin einzurichten hatte.


    Und was deine letzte Bemerkung betrifft, so fürchte ich, dass auch diese zutrifft. Ich würde sie aber noch erweitern wollen, indem ich hinzufüge: Das Leben unter irgendeiner Obrigkeit fällt den Menschen überall offenbar leichter als das in einer Demokratie, die ihnen viel mehr Engagement und Bereitschaft zur Mitgestaltung (d. h. auch persönliche Verantwortungsübernahme) abverlangt.

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann



    Und was deine letzte Bemerkung betrifft, so fürchte ich, dass auch diese zutrifft. Ich würde sie aber noch erweitern wollen, indem ich hinzufüge: Das Leben unter irgendeiner Obrigkeit fällt den Menschen überall offenbar leichter als das in einer Demokratie, die ihnen viel mehr Engagement und Bereitschaft zur Mitgestaltung (d. h. auch persönliche Verantwortungsübernahme) abverlangt.


    Das trifft es - leider - punktgenau. Wenn einem das Denken abgenommen wird, dann lebt es sich eben "einfacher und problemloser". Gelebte Demokratie ist eben auch anstrengend. Und wer will sich schon noch anstrengen - bis auf die paar Doofen die auch ihre Freizeit in den Dienst der Allgemeinheit stellen und sich engagieren.


    Manchmal kann man nur noch zynisch und sarkastisch reagieren, Dieter. :-(


    Es ist genauso, wie du es beschrieben hast.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Im Zusammenhang mit dem Untertitel des Buches "Ein Bericht von der Banalität des Bösen", aber auch in manch anderer Hinsicht für ein besseres Verständnis dessen, was Hannah Arendt hier aufgeschrieben hat, empfehle ich wärmstens die hervorragende Dokumentation von ZDF-History zum 70. Jahrestag der Nürnberger Prozesse - diesmal aus der Sicht der Prozessbeobachter.


    Hannah Arendt hebt ja häufig auf Vergleiche mit dem Nürnberger Tribunal ab, wenn sie dagegen die Besonderheiten des deutlich später in Jerusalem stattgefundenen Prozess gegen Eichmann herausarbeitet. Gestern nun sah ich diese Doku im TV, und weil wir uns gerade so intensiv mit diesem Buch beschäftigen, sind mir viele Dinge sofort aufgefallen, die hervorragend dazu dienen können, unser Bild von der Zeit, von der Atmosphäre, von den juristischen Fallstricken etc. zu schärfen. Da gibt es zum Beispiel einen Prozessbeobachter (unter diesen befanden sich übrigens Leute wie Erika Mann, Erich Kästner, Willy Brandt und auch Markus Wolf, der spätere Geheimdienstchef der DDR), der mit Grauen darüber schreibt, dass er an einem Verhandlungstag im Treppenhaus mit einem unscheinbaren kleinen Mann in blauem Anzug zusammengestoßen sei, den er von seiner Haltung und Physiognomie her für einen der vielen Justizangestellten im Hause gehalten hatte, um dann eine Stunde später denselben völlig durchschnittlichen Mann vor den Richtern sitzend wiederzuerkennen, wo er mit heller Stimme erklärte, er habe das alles nicht gern getan, aber er hätte seine Befehle "direkt vom Reichsführer SS, also Himmler" erhalten und diese selbstverständlich befolgt.
    Es handelte sich bei diesem Männlein um Rudolf Höss, den Lagerkommandanten von Auschwitz, der buchstäblich Hunderttausende von Menschen ermordet hat.


    So viel zur "Banalität des Bösen".


    Auch ansonsten ist die Dokumentation wirklich absolut sehenswert, gerade im Zusammenhang mit dieser Leserunde. Sie wird noch mehrfach zu sehr später Stunde auf ZDF Info wiederholt - einfacher ist es, sie sich als Podcast anzusehen:


    Der Nürnberger Prozess