'Eichmann in Jerusalem' - Seiten 069 - 133

  • Was mich an Hannah Arendts Bericht am meisten erschüttert in diesem Abschnitt, ist die Normalität, ja Banalität, die Eichmann auszustrahlen scheint. Ein Mitläufer, ein Bequemer, ein etwas schlichtes Gemüt, ein bei Beförderungen übergangener...ein durchschnittlicher Typ.
    Vor dem geschichtlichen Hintergrund und dem, was er auf seinem Posten, der ihm endlich mal die Möglichkeit bot, gehorsam und beflissen Anweisungen zu befolgen und sich mit Lösungen hervorzutun, angerichtet hat, kommt einem das kalte Grausen, auch noch nach so vielen Jahren. Ich stelle mir die Zuschauer/Richter/Staatsanwälte mit einem ungläubigen Kopfschütteln vor.


    Dass und wie die Juden in der ersten Phase des Vertreibung, die in Vernichtung gipfelte, mit eingebunden waren, war mir so nicht bekannt. Ich hatte allerdings auch einen anderen Geschichtsunterricht als die meisten von euch. Eichmann berichtet fast stolz von seinen Erfolgen, die er gemeinsam mit den Judenräten in die Wege leitete, von den Geldern und Besitztümern, die in die Kassen des Reiches flossen.


    Der Titel "Die Banalität des Bösen" trifft es schon erschreckend genau.


    Mich erstaunt immer wieder die (angebliche) Unwissenheit. Kann man wirklich nichts gewusst haben?
    Ich weiß es echt nicht.


  • Im Geschichtsunterricht wurde dieses Thema auch nicht ausführlich durchgenommen. Wir waren mit der Schule allerdings in Dachau und ich später bei einer Jugendreise in Plötzensee.


    Gestern kam ein Bericht auf BR2 über die Nürnberger Prozesse, da sagte einer der Angeklagten (leider weiß ich den Namen nicht mehr) aus, und ich war wirklich entsetzt, wie nüchtern und ja bürokratisch er über die Vernichtung in den KZs und anderswo gesprochen hat.

  • Zitat

    Er hatte keine Zeit und noch weniger Lust, sich wirklich zu informieren, er kannte nicht einmal das Parteiprogramm,...


    Erschreckend, wie aktuell das zu sein scheint. Das 2. Kapitel "Der Angeklagte" ist für mich schwer ertragbar. Wie schlicht Eichmann doch eigentlich ist, wie wenig schuldbewusst und so normal. Ich denke immer, wie irre er gewesen sein muss und dann folgt aber sofort die Erkenntnis, dass er genau das nicht war. Das ist ekelerregend.

  • Mich packt bei Eichmanns Aussagen eher ein kaltes Grausen. Er ist wie ein Buchhalter, der seine Firma gut führen will.
    Und kommt euch nicht manches bekannt vor? Es geht zwar meist um andere Dinge, und ich habe auch ein seltsames Gefühl, das als Beispiel zu bringen, aber nehmen wir mal so etwas Profanes wie manipulierte Abgasfilter.
    Da will doch auch keiner etwas gewusst haben.
    Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.


    Das ist es, was mich an diesem Buch, an diesen Aussagen zunehmend entsetzt. Dieter hat die Frage im ersten Thread schon angesprochen: Wie weit geht Verantwortung? Das Problem hat sich ja eher verschärft, da die Zusammenhänge immer komplexer werden.

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann


    Wen meinst du mit "man"?



    In diesem Fall das, was "man" aussagt: die Allgemeinheit, die Bevölkerung, jeden der weg oder nicht genau hin geguckt hat.
    Der Satz bezog sich nicht auf eine bestimmte Stelle des Textes, sondern entstammt meinem Nachdenken über das Thema.

  • Für mich war dieser Abschnitt sehr erhellend, denn ich muss zugeben, dass für mich persönlich Eichmann bisher vor allem ein Symbol für den bürokratischen Massenmord darstellte, und nun lerne ich den Menschen dahinter kennen, einen kriecherischen kleinen Karrieristen, der mir schon als Abteilungsleiter in einer Schraubenfabrtik höchst unsympathisch gewesen wäre. Nun war sein Geschäft aber die Organisation eines ungeheurlichen Verbrechens, was meine Antipathie in nackte Abscheu verwandelt. Seine komplette Unfähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle anderer hineinzuversetzen, geschweige denn daraus Einsichten zu gewinnen oder gar Konsequenzen zu ziehen, ist schier unglaublich. Sie macht nachvollziehbar, warum vor Gericht und in der Öffentlichkeit der Eindruck eines Lügners entstand, wo er in seiner Einfältigkeit und mangelnden Empathie doch in vielem einfach nur die erschütternde Wahrheit sagte.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von harimau
    Nun war sein Geschäft aber die Organisation eines ungeheurlichen Verbrechens, was meine Antipathie in nackte Abscheu verwandelt. Seine komplette Unfähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle anderer hineinzuversetzen, geschweige denn daraus Einsichten zu gewinnen oder gar Konsequenzen zu ziehen, ist schier unglaublich. Sie macht nachvollziehbar, warum vor Gericht und in der Öffentlichkeit der Eindruck eines Lügners entstand, wo er in seiner Einfältigkeit und mangelnden Empathie doch in vielem einfach nur die erschütternde Wahrheit sagte.


    Ja. Und wir nähern uns in diesem Kapitel so langsam den Kernfragen, die sich ab sofort wie ein roter Faden durch das Buch ziehen werden:
    Was muss geschehen - und wie kann es überhaupt geschehen -, dass (bis auf wenige Ausnahmen) ein ganzes Volk kollektiv allen Anstand, alles Mitleid, alle Empathie fahren lässt? Wie kann das jedem Menschen innewohnende Gefühl für Recht und Unrecht in derartig unbeschreiblichen Verfall abgleiten und dann in einer wahnsinnigen Bürokratie verwaltet und umgesetzt werden? Hannah Arendt versucht anhand ihrer Berichte über diesen Prozess ein paar vorsichtige (manchmal auch gewagte) Erklärungen dazu. Sie werden uns noch beschäftigen.

  • Zitat

    Original von Clare



    In diesem Fall das, was "man" aussagt: die Allgemeinheit, die Bevölkerung, jeden der weg oder nicht genau hin geguckt hat.
    Der Satz bezog sich nicht auf eine bestimmte Stelle des Textes, sondern entstammt meinem Nachdenken über das Thema.


    Danke für deine Erklärung, Clare.


    Meine Antwort lautet: NIEMAND hat GAR NICHTS gewusst! Alles Andere ist pure Lüge. Meistens aus Selbstschutzgründen.

  • Ich habe diesen Abschnitt noch nicht gelesen, möchte dazu aber trotzdem noch folgendes sagen:
    Es war den Menschen klar, was die Deporationen bedeuteten, wenn sicher auch nicht in allen Einzelheiten, aber es sehr viel ist durchgesickert.
    Man wusste, dass den deportierten Menschen in jedem Falle ein ganz schlimmes Schicksal drohte.
    Wenigstens erinnere ich mich daran, was mir mein Vater seinerzeit erzählt hat, das die Menschen eben wussten, dass Verbrechen begangen wurden.
    Und er hat mir eben auch erzählt, dass er es nicht nur wusste weil er Berufsoffizier war - sondern das auch ganz normale Menschen Bescheid wussten.
    Und wer sagte, er hätte nichts gewusst, der hat dann eben, aus welchen Gründen auch immer, einen auf "indischen Affen" gemacht.


    Womit wir langsam bei der Frage der Kollektivschuld angekommen sind.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire


    Womit wir langsam bei der Frage der Kollektivschuld angekommen sind.


    Deren Erörterung wir uns - wenn ich diesen Vorschlag machen darf - möglichst bis zum Ende des Buches aufheben sollten, da Hannah Arendt eine Fülle von Aspekten dazu bringt, die sich durch den gesamten Text ziehen. Am Ende kommt sie selbst auf diese Frage zurück, und das wäre dann - mit dem Hintergrundwissen aus dem vollständigen Text - m. E. der geeignete Moment, dass auch wir in diese Frage einsteigen. Wäre jedenfalls meine Idee dazu.

  • Ich habe mir erlaubt, diesen Beitrag von Dieter aus dem ersten Abschnitt hierher zu kopieren, da er meiner Meinung nach sinnvoller an dieser Stelle zu behandeln ist.


    Zitat

    Original von Dieter Neumann
    (Hannah Arendt)... weist ... in ihrem Buch schlüssig nach (ohne geahnt zu haben, dass ihr ein deutscher Historiker 20 Jahre später darin zustimmen würde), dass die Staatsanwaltschaft massiv unter der Beeinflussung der Ben-Gurion-Regierung gestanden hat und oftmals schlimme Versuche zur Rechtsbeugung unternommen hat, die den gesamten Prozess in eine gefährliche Nähe zu einer Schauveranstaltung gebracht hätte, wäre da nicht jener ungeheuer souveräne und äußerst kluge Richter gewesen, der dies weitgehend zu vermeiden wusste. Ben Gurion hingegen hat kaum eine Gelegenheit ausgelassen, den Prozess zu einer Shoa-Abrechnung zu verwandeln (was ich übrigens voll verstehe und was auch allzu naheliegend ist), wo es doch einzig um die Schuld oder Unschuld dieses einen Mannes hätte gehen müssen. Dass dies angesichts der Ungeheuerlichkeit des Holocausts vermutlich gar nicht möglich war, ist mir natürlich voll bewusst.


    Ob im Verlauf des Prozesses Rechtsbeugung unternommen wurde, wie du behauptest und Voltaire bestreitet, vermag ich nicht zu beurteilen, aber Hannah Arendt macht durchaus auf einige Aspekte aufmerksam, die das Prozedere in Richtung eines Schauprozesses abgleiten lassen. Es beginnt mit dem Veranstaltungsort, einem Theater, in dem Richter, Anklage, Angeklagter und Verteidigung vor den in Logen und im Parkett platzierten Beobachtern wie auf einer Bühne auftreten. Wichtiger allerdings scheinen mir die Rollen sowie deren Interpretation seitens des Anklägers und der Richter. Wie du schreibst, lobt HA ausdrücklich die drei Richter, insbesondere den Vorsitzenden Landau, für ihre "korrekte und humane" Haltung, während sie dem Chefankläger Hausner sehr kritisch gegenübersteht. HAs Meinung nach macht er sich zum Sprachrohr Ben Gurions und versucht, statt sich auf den Angeklagten zu konzentrieren, den Prozess als Generalabrechnung mit dem Naziregime und der Shoah zu gestalten. Wie auch du habe ich Verständnis für diesen Ansatz; ob er richtig und angemessen war, ist eine andere Frage. HA scheint sich jedenfalls massiv daran gestört zu haben, wie ihre harsche Wortwahl verrät, wenn sie ihn "Die Stimme seines Herren" (Ben Gurion) nennt.


    In diesem Zusammenhang ein Wort zu Voltaire:


    Zitat

    Original von Voltaire
    Nach den israelischen Gesetzen – und nur die sind hier heranzuziehen – ist alles nach Recht und Gesetz verlaufen.


    Das mag richtig sein, aber trotzdem hätte man den Prozess wohl auch ganz anders führen können, ohne Recht und Gesetz zu verletzen. Der mögliche Unterschied läge in der politischen Absicht dahinter, nicht der rechtlichen Durchführung. HA bemängelt, dass nicht nur Eichmann, sondern dem ganzen Naziregime und seiner Geschichte der Prozess gemacht werden sollte. In diesem Licht mokiert sie sich auch darüber, dass die Anklage jede Menge Beweismaterial und Zeugen heranzog, die mit der Person Eichmanns selbst nur wenig bis gar nichts zu tun hatten, wie z.B. die Tagebücher Hans Franks, in denen sein Name nie erwähnt wird (Seite 77 oben). Hintergrund für HAs kritische Haltung dürfte nicht zuletzt ihr angespanntes Verhältnis zu den zionistischen Kräften innerhalb des Judentums gewesen sein.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann
    Und wir nähern uns in diesem Kapitel so langsam den Kernfragen, die sich ab sofort wie ein roter Faden durch das Buch ziehen werden:
    Was muss geschehen - und wie kann es überhaupt geschehen -, dass (bis auf wenige Ausnahmen) ein ganzes Volk kollektiv allen Anstand, alles Mitleid, alle Empathie fahren lässt? Wie kann das jedem Menschen innewohnende Gefühl für Recht und Unrecht in derartig unbeschreiblichen Verfall abgleiten und dann in einer wahnsinnigen Bürokratie verwaltet und umgesetzt werden? Hannah Arendt versucht anhand ihrer Berichte über diesen Prozess ein paar vorsichtige (manchmal auch gewagte) Erklärungen dazu. Sie werden uns noch beschäftigen.


    Ich hätte zu dieser Frage einige (vorschnelle?) Antworten zu bieten, werde sie mir aber aufheben, um der Diskussion nicht vorzugreifen. Ganz in diesem Sinne:


    Zitat

    Original von Dieter Neumann


    Deren Erörterung wir uns - wenn ich diesen Vorschlag machen darf - möglichst bis zum Ende des Buches aufheben sollten, da Hannah Arendt eine Fülle von Aspekten dazu bringt, die sich durch den gesamten Text ziehen. Am Ende kommt sie selbst auf diese Frage zurück, und das wäre dann - mit dem Hintergrundwissen aus dem vollständigen Text - m. E. der geeignete Moment, dass auch wir in diese Frage einsteigen. Wäre jedenfalls meine Idee dazu.


    Meine auch. :wave

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von harimau


    Ob im Verlauf des Prozesses Rechtsbeugung unternommen wurde, wie du behauptest (...)


    Nur kurz zur Genauigkeit: Habe ich NICHT behauptet! Habe gesagt, es wurde aus Sicht der Berichterstatterin (HA) seitens der Staatsanwaltschaft der Versuch der Rechtsbeugung unternommen.


    Eine wichtige Beobachtung in diesem Zusammenhang bleibt ja, dass selbst der Anklage im Verlaufe des Prozesses zu dämmern begann, dass sie mit Eichmann keineswegs den Initiator des Holocausts, die Inkarnation des Bösen, den fanatischen Naziverbrecher schlechthin vor sich hatte. Das hatte sich Ben Gurion ganz anders vorgestellt. Für ihn und die Zionisten sollte dieser Prozess vor der Welt die Fähigkeit des ersten jüdischen Staates beweisen, mit Recht und Gesetz über die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte - und dann noch an dem Volk, das da nun zu Gericht saß - zu urteilen. Statt dessen hatte man da einen ganz anderen Mann entführt, der nie in seinem Leben etwas von großer Tragweite selbst entschieden hatte und der ... aber das ginge hier zu weit, denn in die Diskussion um die Psychiografie des AE werden wir später sicher noch vehement eintreten, wenn wir weiter im Buch sind. Nur so viel: Die Enttäuschung der Staatsanwaltschaft darüber, nicht Himmler, Kaltenbrunner, Müller oder Heydrich dort sitzen zu haben, sondern nur deren willfähriges Werkzeug (was ihn nicht ein Jota entschuldigt - nur, damit wir uns da nicht falsch verstehen!) spricht aus allen Anträgen der Anklage.

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann


    Nur kurz zur Genauigkeit: Habe ich NICHT behauptet! Habe gesagt, es wurde aus Sicht der Berichterstatterin (HA) seitens der Staatsanwaltschaft der Versuch der Rechtsbeugung unternommen.


    Sorry, mein Fehler. Danke für die Klarstellung. :-)

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Mir fehlt noch das dritte Kapitel dieses Abschnitts, aber im ersten war ich ja schon entsetzt darüber, wie lasch die Aufklärung und Verurteilung in den Nachkriegsjahren lief. Nazis durften über Nazis richten und die verhängten Strafen fielen alle mehr oder weniger minimal aus. Verhandlungen wurden verschleppt, Verjährungsfristen genutzt usw. Alles das bildet dann mit den Nährboden, aus dem die RAF erwachsen ist.

  • Zitat

    Original von xexos
    Mir fehlt noch das dritte Kapitel dieses Abschnitts, aber im ersten war ich ja schon entsetzt darüber, wie lasch die Aufklärung und Verurteilung in den Nachkriegsjahren lief. Nazis durften über Nazis richten und die verhängten Strafen fielen alle mehr oder weniger minimal aus. Verhandlungen wurden verschleppt, Verjährungsfristen genutzt usw. Alles das bildet dann mit den Nährboden, aus dem die RAF erwachsen ist.


    Sicher ist auch die verbrecherische RAF aus diesem Nährboden entstanden. Wir sehen ja (nicht erst seit heute) in den neuen Bundesländern, wohin die konsequente Verweigerung der Aufarbeitung eigener Verstrickungen in den Nationalsozialismus (gefolgt von einer ähnlichen Haltung gegenüber der dort dann nachfolgenden Diktatur) führt.


    Zu erwähnen sind jedoch vor allem die Auswirkungen dieser vollkommenen Verweigerung von Verantwortungsübernahme zweier ganzer Generationen (nämlich der meiner Eltern und Großeltern) auf die Nachkriegsgeneration. Wir sahen uns plötzlich in den 60er Jahren (in meinem Falle geweckt durch den von Bauer erkämpften Ausschwitz-Prozess in Frankfurt, von dem die meisten Deutschen nichts wissen wollten) mit der Erkenntnis konfrontiert, dass unsere sogenannten Erziehungsberechtigten ganz persönlich mehr oder weniger intensiv in den Faschismus verwickelt waren. Diejenigen also, die uns sagen wollten, was Gut und was Böse ist, was man tun soll und was man lassen muss, waren wenige Jahre zuvor zum Beispiel durch die Gassen gezogen und hatten gegrölt, welche Freude es sei, "wenn das Judenblut vom Messer spritzt", hatten in unserem Nachbarland Niederlande (ohne jede Kriegserklärung) von der Straße aus durch die Fensterscheiben die Lampen über den Esstischen der dort Sitzenden ausgeschossen, ihre Nachbarn denunziert, beim Abtransport ihres jüdischen Hausarztes einfach weggeschaut oder als stramme Jungmädel dem Führer mit feuchten, sagen wir mal: Augen ihre ewige Liebe geschworen.


    Diese Menschen, unsere Eltern, wollten sich mehrheitlich mit ihrer eigenen Schuld nicht auseinandersetzen. Nicht zuletzt deswegen war dies die große Zeit eines Adenauer, der ja selbst nicht Nazi-belastet war und der dennoch alles unterlassen hat, was zur Aufarbeitung der deutschen Schuld hätte beitragen können. Schlimmer noch: Er hat nicht einmal davor zurückgeschreckt, mit Globke einen mit schwerer Nazi-Verantwortung belasteten Juristen (Stichwort: Nürnberger Rassengesetze) als eigenen Staatssekretär ins Kanzleramt zu holen und immer an ihm festzuhalten.


    Zu diesem Themenfeld, also den Folgen einer entweder gar nicht oder viel zu spät oder auch halbherzig vorgenommenen Aufarbeitung der eigenen Geschichte, gäbe es noch viel mehr zu sagen. Es ist dies DAS Trauma der Nachkriegsgeneration, das ihren Lebensweg und ihre Einstellung zu politischer Ethik maßgeblich beeinflusst und ihre Haltung (meine auf jeden Fall) zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat geprägt hat. Aber das war ein weiter Weg, den wir GEGEN die Lügen, das Schweigen und, ja, gar die Feindseligkeit unserer Eltern und Großeltern gehen mussten.

  • In diesem Zusammenhang sei auch an die sogenannte Verjährungsdebatte vom 10. März 1965 im Deutschen Bundestag erinnert. Ursprünglich verjährte seinerzeit Mord nach 20 Jahren. So verschob man dann den Beginn der Verjährungsfrist auf 1949. Aber auch damals war schon absehbar, das die Zeit bis 1969 nicht reichen würde die NS-Morde zu verfolgen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Verjährungsdebatten vom 26. Juni 1969 und vom 29. März 1979 erinnert.


    Dr. Ernst Benda (CDU), der spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte in der Debatte von 1965 eine grandiose Rede gegen die Verjährung gehalten.


    In diesem Zusammenhang verweise ich auf den nachstehenden Link:


    Verjährungsdebatte von 1965


    Diese Debatte gehörte ohne Frage zu den Sternstunden des bundesdeutschen Parlamentarismus.


    Das entschuldigte aber nicht das mehr als halbherzige Vorgehen der bundesdeutschen Justiz gegen die Nazi-Verbrecher. Es war u.a. der Generalstaatsanwalt des Landes Hessen, Ernst Bauer, der gegen unglaubliche Widerstände den Auschwitz-Prozeß 1963 in Frankfurt/Main initiierte.


    Irmtrud Wojak - Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie


    In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass kein Richter der während des Dritten Reiches an einem Todesurteil mitgewirkt hatte, dafür angeklagt wurde - das galt auch für die Richter des berüchtigten Volksgerichtshofes.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Da scheine ich bei euch beiden ja noch ein bedeutsames Thema angesprochen zu haben. ;-)


    Dieter, was meinst Du genau mit dem Bezug auf die neuen Bundesländer? Die DDR rühmte sich doch eigentlich immer damit, in ihren Reihen eine intensivere Entnazifizierung durchgeführt zu haben.