'Eichmann in Jerusalem' - Seiten 315 - 371

  • Ich muss etwas ausholen:


    Gegen Ende des XIV. Kapitels (S. 343-347) berichtet Hannah Arendt von Fällen, in denen Menschen Juden geholfen und dafür mit dem Leben bezahlt haben.
    Sie lässt es nicht gelten, dass solche Opfer "praktisch nutzlos sind", wie andere zur Rechtfertigung sagten.
    Sie sind eben auf längere Sicht nicht nutzlos. Denn diese Geschichten von Menschen, die halfen, sind wichtig "für eine Wiedererlangung des inneren Gleichgewichts ". Die Botschaft ist wichtig: die meisten haben sich gefügt, aber eben nicht alle.


    Sicher werden viele hier einwenden, dass es unzumutbar ist, sein Leben zu riskieren. Ich gehe gar nicht so weit. Ich versuche mir folgendes Szenario vorzustellen:
    Es sind Zeiten eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs und Unruhen. Ich komme gerade an einem Geschäft vorbei, in dem es Dinge gibt, die ich mir schon lange nicht mehr leisten kann. Im gleichen Augenblick kommt eine Schlägerbande vorbei, die den Laden kurz und klein schlägt, einsackt, was geht, und abhaut. Sofort sind Nachbarn und Passanten zur Stelle und räumen weiter ab. Schließlich braucht man die Polizei nicht fürchten, die schaut in solchen Fällen weg, da der Besitzer einer missliebigen Bevölkerungsgruppe angehört.
    Jetzt bräuchte ich nur die Hand auszustrecken und ein paar Sachen in meine Tasche zu stecken. Werde ich der Versuchung nachgeben mit der Ausrede: Wenn ich es nicht tue, dann tut es ein anderer. Der Besitzer hat nichts davon, wenn ich standhaft bleibe. Und außerdem wegen dem Bisschen, was kann das schon ausmachen! ...


    Ist mein anständiges Verhalten wichtig oder nutzlos? Ich denke, schon allein für mich wäre es nützlich, wenn ich widerstehe. Es würde mich innerlich stärken, ich würde nicht die Achtung vor mir verlieren. Vielleicht kann man es sogar als Training für andere Situationen sehen.
    Möglicherweise wäre es auch nützlich für andere, für solche, die ebenfalls widerstehen, oder solche, die noch Skrupel haben und unschlüssig sind, die eventuell mich in dieser Szene beobachten und sich in ihrer Haltung bestätigt sehen. Es gibt ihnen die Gewissheit, dass sie nicht allein sind.
    Und wenn ich mir vorstelle, der Ladenbesitzer schaut zu ...

  • Das ist jetzt eine Frage von Recht und Unrecht.
    Eine Frage von unmittelbarer Täterschaft und Mittäterschaft.


    Aber es ist auch eine moralisch-ethische Frage.
    Auch wenn es einem extrem leicht gemacht wird - und man vielleicht keine Folgen zu befürchten hat - Unrecht zu tun, so bleibt das Tun doch trotzdem Unrecht.


    Unrecht nicht nur im juristischen Sinne (Eigentum wird widerrechtlich entwendet) sondern eben auch Unrecht im moralisch-ethischen Sinne.


    Und wo stünden diese Welt heute, wenn es nicht immer wieder Menschen gegeben hätte, die für andere Menschen ihr Leben riskiert haben und die oftmals auch das eigene Leben dabei verloren haben.


    In diesem Zusammenhang kann ich dieses Buch empfehlen:


    Dietrich Bonhoeffer - Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Das ist jetzt eine Frage von Recht und Unrecht.
    Eine Frage von unmittelbarer Täterschaft und Mittäterschaft.


    Aber es ist auch eine moralisch-ethische Frage.
    Auch wenn es einem extrem leicht gemacht wird - und man vielleicht keine Folgen zu befürchten hat - Unrecht zu tun, so bleibt das Tun doch trotzdem Unrecht.


    Unrecht nicht nur im juristischen Sinne (Eigentum wird widerrechtlich entwendet) sondern eben auch Unrecht im moralisch-ethischen Sinne.


    Ich dachte hier weniger an juristisches Recht und Unrecht, eher schon an moralisches, in erster Linie aber an den inneren Schweinehund, der mir hier zuflüstert: "Greif zu, sonst bist du der Dumme! Wenn du es nicht tust, dann tut es ein anderer. Und es nützt niemandem, wenn du standhaft bleibst."
    Ich denke, diese vorgeschobene Nutzlosigkeit kann eine Verschiebung im moralischen Denken bewirken. Auch Eichmann versuchte sich darauf hinauszureden, dass andere seine Aufgabe übernommen hätten, wenn er es nicht getan hätte.



    Das Buch habe ich auch mal gelesen. Ein sehr beeindruckender Mensch. Besonders im Gedächtnis blieben mir die Frage, ob ein Christ einen Menschen (Diktator) töten darf, um einen Unrechtsstaat zu beseitigen, und die Gedanken zur Rolle der Dummheit, wenn sich Menschen zum Bösen verleiten lassen.