Bodo Kirchhoff - Widerfahrnis. Eine Novelle

  • Titel: Widerfahrnis. Eine Novelle
    Autor: Bodo Kirchhoff
    Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
    Erschienen: September 2016
    Seitenzahl: 224
    ISBN-10: 3627002288
    ISBN-13: 978-3627002282
    Preis: 21.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Reither, bis vor kurzem Kleinverleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist …


    Der Autor:
    Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt seine von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romane »Verlangen und Melancholie« (2014) sowie »Die Liebe in groben Zügen« (2012). Seine Novelle »Widerfahrnis« ist für den Deutschen Buchpreis 2016 nominiert.


    Meine Meinung:
    Ruhig, trotzdem aber emotional und engagiert – so breitet sich diese Novelle vor dem Leser aus. Bodo Kirchhoff ist ohne Frage ein großartiger Erzähler, er spielt nicht mit Wörtern, nein, er kommandiert die Wörter.
    Man könnte diese Novelle vielleicht auch als ein poetisches Roadmovie bezeichnen. Und der Autor zeigt, was man mit Wörtern alles anstellen kann. Seine handelnden Personen wirken irgendwie distanziert, ein wenig spröde vielleicht – aber sie handeln dabei sehr emotional, ohne die Geschichte zu überfordern.
    Bodo Kirchhoff lässt seinen handelnden Personen eine ziemlich lange Leine. Vielleicht hat er beim Schreiben gar nicht gewusst, wohin die Geschichte gehen würde und hat „einfach losgeschrieben“. Das Ergebnis kann sich in jedem Falle sehen lassen. Insofern gibt es da Parallelen zu der erzählten Geschichte, einfach mal losfahren – mal schauen wo man landet.
    Ein sehr lesenswertes Buch, ein Buch dass das „ruhige Erzählen“ wieder ein wenig in den Fokus rückt. 7 Eulenpunkte.
    Herrlich auch die Einlassung des Dummschwätzers Denis Scheck. Sagte dieser Mensch doch tatsächlich: „Kirchhoff ist ein großer Schriftsteller, vergleichbar mit John Updike.“
    Offenbar hat Scheck nie etwas von John Updike gelesen – wollte aber wohl nur mal zeigen, von welchen amerikanischen Autoren er schon mal was gehört hat.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Widerfahrnis


    Bodo Kirchhoff



    Inhalt und meine Meinung


    Kein Roman, eine Novelle. Keine Geschichte, sondern ein „Widerfahrnis“. Schon dieser Titel hat mich neugierig gemacht. Wem stoßen heute schon noch Widerfahrnisse zu?
    Reither hat sich in ein Dorf am Alpenrand zurückgezogen. Seinen Kleinverlag hat er aufgelöst, seine wenigen Freunde zurückgelassen. Jetzt lebt er allein mit sich und seinen Erinnerungen in einer Wohnanlage. Aus der Bücherwand des hauseigenen Kaminfoyers hat er sich ein Buch mitgenommen – ohne Titel, nur mit dem Namen der Autorin. Er kommt nicht dazu, in dem Buch zu lesen – jemand lungert vor seiner Wohnungstür herum und klingelt schließlich. Eine ihm unbekannte Frau steht vor ihm, Reither bittet sie herein.
    Wenig später sind die beiden unterwegs im Cabrio der Frau. Eigentlich sollte es nur bis zum nahen Achensee gehen, dem Sonnenaufgang entgegen. Doch sie fahren und fahren bis sie schließlich auf Sizilien landen.
    Eine Liebesgeschichte entwickelt sich, vorsichtig, ungeplant, immer wieder in Frage gestellt und immer im Schatten der Erinnerungen an alte Liebesgeschichten. Für mich schwebte über der gesamten Geschichte immerzu ein Hauch von Irrealität, ein Zweifel, ob die beiden, die da gemeinsam und irgendwie immer noch einsam unterwegs sind, sich tatsächlich näher kommen wollen.
    Es ist Reither, der die Geschichte erzählt, seine Sicht dieser Fahrt und gleichzeitig erlebt er diese Fahrt eher als ein Schriftsteller, der immer wieder seine Gefühle, seine Art diese Wirklichkeit zu erleben in Frage stellt und dann auch die Darstellung nochmals einer akribischen Prüfung unterzieht.
    Diese Distanz, die Reither durch dieses ständige Reflektieren herstellt, hat mich zu Beginn fasziniert, sie führt aber auch dazu, dass ich als Leserin immer weiter vom Erzähler wegrücke und seine Reaktionen immer weniger verstehe.
    Für mich ist es letztlich eine Geschichte über das Scheitern menschlicher Beziehungen.
    Gefallen haben mir die kleinen Beobachtungen, längst vergessene Alltäglichkeiten aus vergangenen Zeiten, die zu Bildern früherer Fehlern werden. So beschreibt Reither ausführlich, wie seine Beifahrerin eine zerstörte Kassette sorgsam repariert und sich dem “zu kleinen Locken geringelten Band“ widmet. Gleichzeitig werden, beiläufig, vergangene Beziehungen seziert.


    Eine Sache beschäftigt mich noch immer: Wer ist wohl auf die Idee gekommen, einem Buch, dessen Protagonist sich mehr als einmal darüber beklagt, dass es mehr Schreiber als Leser gibt (Wussten Sie, dass der immer verbreitetere Wunsch, den eigenen Namen nicht bloß am Türschild, sondern auch auf einem Buchumschlag zu sehen, der Tod des guten Buchs ist?“), eine Broschüre beizulegen, die unter anderem Werbung für die Schreibkurse des Autors macht?


    7 Punkte

  • Meine Meinung


    Sprachlich macht man Kirchhoff einfach nichts vor, der ein Meister der Worte und dichten Atmosphäre ist.
    Mit Worten führte, leitete, drängte er mich durch seine Geschichte, die ich an sich von den Konstellationen her schon interessant fand, diese späte, absolut durch Zufall und ohne Absprache entstandene Liebe, sehr reif und leise.
    Zum Schluss hin hat mich der Autor ein bisschen verloren, weil, und das kann ich jetzt nicht näher ausführen, ohne zu weit im Inhalt vorzugreifen, ich nicht mehr alle Entwicklungen der Handlung nachvollziehen konnte, so als hätte der Autor zu viel an Ideen hinein gepackt oder, wie Voltaire es in seiner Rezi schrieb, "seinen handelnden Personen eine ziemlich lange Leine" gelassen hat, vielleicht eine etwas zu lange.


    Trotzdem ein wirklich lesenswertes Buch, das ich mir mit Sicherheit in ein paar Monaten noch einmal vornehmen werde. Sprachlich ein Genuss, angenehm unaufgeregt!


    8 Eulenpunkte von mir

  • Eines der wenigen Bücher in diesem Jahr, die ich abgebrochen habe. Oder sogar das einzige? Gut möglich. Ich hatte mit der Lektüre kurz vor der Shortlist-Bekanntgabe begonnen und war im frühen zweiten Drittel, als Kirchhoff den DBP für dieses ... Ding bekam. Kurz danach habe ich das Projekt aufgegeben und das Exemplar verschenkt.


    Es ist, wie jemand irgendwo schrieb, lupenreine Altherrenprosa. Insofern ist der Updike-Vergleich so falsch nicht, obwohl ich ihn nur metaphorisch anwenden würde, jedenfalls irgendwie indirekt und auf einer übergeordneten Ebene: Alte Herren hier wie dort, ganz wertfrei. Updike, dessen Schreibe ich sehr vermisse, war allerdings ein großer Erzähler und Chronist, manchmal auch ein Stilist und in jedem Fall ein Moralist - aber Updike würde heute nicht mehr so schreiben, wie er das bei "Hasenherz" (1960) getan hat, er hat später in "Landleben" (2004) ganz andere Töne angeschlagen. Kirchhoff hat nach meinem Dafürhalten keinen Halbschritt voran gemacht, kommt mir ungeheuer selbstverliebt und larmoyant und selbstgefällig-schwergängig vor. Ich mochte schon seine vorigen Bücher nicht, vor allem "Schundroman" (2002) empfand ich als unerträglich. Der Mann will viel und unbedingt was ganz doll Literarisches (während Handlung und Glaubwürdigkeit nicht so seins sind), aber diese Fünfziger-Jahre-Denke, dieser starre, rotweinselige Wertekonservatismus, diese überzogene Wortverliebtheit und literarische Prahlerei quillen aus jedem Absatz. Kirchhoff will unbedingt bei den großen alten Herren sein, bei Walser, Lenz, Grass, aber das schafft er nicht. Seine Schreibe lahmt und lähmt und macht einfach ganz und gar keinen Spaß. Jedenfalls mir nicht.


    Okay, ich habe auch aufgehört, weil dieses sehr mäßige und altbackene Buch, dem ich übrigens höchstens 3 Eulenpunkte geben würde, "Die Welt im Rücken" von Thomas Melle bei der Schlussabstimmung abgehängt hat. Ich mag Thomas und schätze ihn sehr. Und er hat nicht nur einen sehr viel glaubwürdigeren (weil authentischen) und interessanteren Text vorgelegt, sondern markiert vor allem stilistisch eine ganz andere Welt. Eine, die sich weitergedreht hat.

  • Ich war am Samstag in einer Buchhandlung, habe reingeguckt und festgestellt, dass mir der Schreibstil nicht behagt. So etwas kommt vor, Shit happens, deshalb habe ich das gute Stück wieder ins Regal gestellt. Aber vielleicht ändere ich meine Meinung noch - ich bin hin- und hergerissen, ganz besonders nach dem Studium der Meinungen hier.