Geronimo - Leon de Winter

  • Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
    Verlag: Diogenes, 2016


    Übersetzt von Hanni Ehlers


    Kurzbeschreibung:
    »Geronimo« lautete das Codewort, das die Männer vom Seals Team 6 durchgeben sollten, wenn sie Osama bin Laden gefunden hatten. Doch ist die spektakuläre Jagd nach dem meistgesuchten Mann der Welt wirklich so verlaufen, wie man uns glauben macht? Ein atemberaubender Roman über geniale Heldentaten und tragisches Scheitern, über die Vollkommenheit der Musik und die Unvollkommenheit der Welt, über Liebe und Verlust.


    Über den Autor:
    Leon de Winter, geboren 1954 in 's-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, begann als Teenager, nach dem Tod seines Vaters, zu schreiben. Er arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher in Holland und den USA. Seine Romane erzielen nicht nur in den Niederlanden überwältigende Erfolge; einige wurden für Kino und Fernsehen verfilmt, so ›Der Himmel von Hollywood‹ unter der Regie von Sönke Wortmann. Der Roman ›SuperTex‹ wurde verfilmt von Jan Schütte. 2002 erhielt de Winter den Welt-Literaturpreis für sein Gesamtwerk, und 2006 wurde er mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet.


    Über die Übersetzerin:
    Hanni Ehlers, geb. 1954 in Ostholstein, studierte Niederländisch, Englisch und Spanisch am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg und ist die Übersetzerin von u.a. Joke van Leeuwen, Connie Palmen und Leon de Winter.


    Mein Eindruck:
    Leon de Winter ist ein Autor der Skandalthemen, die er gerne mit viel Ironie provozierend umsetzt. Dabei entsteht irgendwann das Problem, dass er sich immer mehr steigern muss. Aber ist das dann noch glaubwürdig?
    So eine Satire auf Bin Laden ist schwer zu schlucken. Es ist nicht einfach, in Zeiten der allgegenwärtigen Terrorgefahr, sich über das Thema unbeschwert zu amüsieren.


    Aber lebhaft geht es zu, wie schon in Leon de Winters letzten Roman Ein gutes Herz.


    Als 2011 die Seals-Einheit Osama Bin Ladens Aufenthaltsort in Pakistan identifiziert, ist ihnen unklar, ob die Botschaft Kill or Capture heißt.
    Bekanntermaßen überlebte Bin Laden das nicht. Aber was, wenn der Tote ein Doppelgänger war und Bin Laden sich in Gefangenschaft befindet? Eine Verschwörungstheorie wie von Oliver Stone.


    Der Ich-Erzähler des Romans, der aber nur abschnittsweise eingesetzt wird, ist ein Ex-Navy-Seal und Ex-CIA-Agent, der aufgrund seiner Kontakte von der Sache hört. Doch sein Interesse ist ein anderes. Er sucht ein Mädchen, dass einst wie er die Musik von Bach liebte, doch von den Taliban entführt und verstümmelt wurde. Und sie traf auf Osama Bin laden, der sich versteckt gehalten hatte. Eine Verbindung mit Auswirkungen.


    Viele Passagen erweisen, wie gut Leon de Winter formulieren kann und wie vielfältig sein Stil ist.

  • Blindgänger


    Was hat Leon de Winter früher für Romane geschrieben - "Hoffmanns Hunger", "Solokows Universum" oder "Malibu", selbst das unglücklich betitelte "SuperTex": Gute, kluge, einfallsreiche, melodiöse Texte, fein skizzierte Figuren, Dramaturgie und Dramatik ganz ohne Effekthascherei. Der niederländische Autor schaffte es zwar nie, die Fußstapfen großer Kollegen wie beispielsweise Cees Nooteboom oder Harry Mulisch auszufüllen, etablierte sich aber literarisch in deren unmittelbarer Nähe. Dann, so um das Jahr 2008 herum, erfolgte eine etwas irritierende thematische Fokussierung: Leon de Winter begann damit, ausschließlich Romane über den Terror zu schreiben, angefangen mit "Das Recht auf Rückkehr" (2009) über "Ein gutes Herz" (2013) bis hin zum aktuellen "Geronimo". Um es kurz zu machen: Diese Entscheidung war keine glückliche. Das Thema mag ihn sehr bewegen (wem ginge das nicht so?), die künstlerische Aufarbeitung jedoch scheitert gründlich. Die Romane sind mäßig provokant, kaum erhellend, intellektuell fragwürdig und erzählerisch lupenreine Niederlagen. Wenn man so will, gehört de Winters Kunst zu den Opfern des Terrorismus'.


    Im Mai 2011 verkündeten US-Soldaten "Geronimo - EKIA". Geronimo, eigentlich der Name eines legendären Indianerhäuptlings, war der Codename des Al-Qaida-Chefs Osama bin Laden, EKIA die Abkürzung für "Enemey killed in action" - Feind im Kampf getötet. Es ging um die "Operation Neptune's Spear", im Rahmen derer Spezialeinheiten ein Haus im pakistanischen Abbottabad stürmten und den darin befindlichen bin Laden töteten, was anschließend von der Welt und vor allem der US-Regierung gefeiert wurde. Soweit die offizielle Version.


    Leon de Winter erzählt die inoffizielle - aus der Sicht des ehemaligen US-Agenten Tom, der bei einer bierseligen Grillparty Wind von der bevorstehenden Aktion bekommt und sozusagen daran beteiligt ist, die Spezialtruppe dazu zu überreden, statt des von der US-Regierung gewünschten "kill or capture" (töten oder fangen) nur ein "capture" zu versuchen, was auch tatsächlich gelingt. Im Gegensatz zur offiziellen Darstellung wird bin Laden gefangengenommen und heimlich verschleppt. Ein kleiner Christenjunge, der in unmittelbarer Nähe des Anwesens wohnt, klaut gleich im Anschluss als Souvenir einen Hocker aus dem Haus, außerdem freundet er sich mit einem Bettlermädchen an, das von bin Laden regelmäßig auf dessen Mopedtouren durch das nächtliche Abbottabad mitgenommen wurde, weil der Terroristenführer nikotinsüchtig war und es im beengten Haus nicht aushielt. Die Bettlerin kennt einen Teil jenes Geheimnisses, das sich in Osamas Besitz befand und angeblich geeignet war, den amerikanischen Präsidenten in äußerste Schwierigkeiten zu bringen. Ohne es zu wissen, ist der kleine Christenjunge nun im Besitz dieses Geheimnisses. Und das Bettlermädchen wohnte früher für eine gewisse Zeit auf einem Stützpunkt, auf dem auch der US-Agent Tom stationiert war, der seine zwei Jahre alte Tochter bei den Madrider Anschlägen 2004 verloren hat, weshalb er sich um die kleine, talentierte Muslimin kümmerte.


    Jede Menge Zufälle, ein ganzer Haufen Verschwörungstheorien, ein gerüttelt Maß an Islam-Bashing und eine offenkundige Zuneigung fürs Militär (und - leider - auch für ... Aktivitäten, die keiner Menschenrechtscharta entsprechen) prägen diesen Roman, der aber vor allem strukturell ein Blindgänger ist. Eingeklammert zwischen zwei lange Telefondialoge, die der Erzähler Tom mit seiner Exfrau führt, die wie er selbst durch den Tod der Tochter traumatisiert ist, springt de Winter in kurzen Abschnitten zwischen seinen Figuren, findet keine stilistische Linie und ertränkt den zwar unglaublich detail- und informationsreichen, aber sehr sterilen Text in einem wirren, äußerst unlogischen Durcheinander, in dem Briten, Amerikaner, Niederländer, Israelis, Afghanen, Pakistaner, Tadschiken und Saudi-Arabier einander die Klinke in die Hand geben, ohne auch nur einen Schritt voranzukommen. Am Ende sind ziemlich viele Figuren tot, ein Erkenntnisgewinn ist nicht auszumachen - und spannend war's auch eher nicht. Dafür ein bisschen peinlich, irgendwie unangenehm (wer will schon Privates über einen Menschenfeind und Massenmörder erfahren, und sei es auch nur erfunden?) und sehr, sehr tendentiös. De Winter übt sich in lauter Disziplinen, die andere besser beherrschen: Thriller, Provokation, Religionsvergleich. Schade, denn das andere, das er leider aufgegeben hat, beherrschte er fast meisterlich.