Franz Werfel - Die vierzig Tage des Musa Dagh


  • Mir geht es wie dir. Ich lese das Buch gern, finde es sprachlich unglaublich gut, aber ich bin angespannt beim Lesen. Dieses Unheil was über Gabriel und seiner Familie, seinen Freunden, dem armenischen Volk schwebt, ist fast greifbar. Das bereitet mir fast Magenschmerzen, denn ich ahne, dass Werfel die schrecklichen Details sprachlich ebenfalls so aufarbeitet.


    Da sich die Sicht der Türken auf ihn und seine Familie wandelt, verändert Gabriels Sicht sich auf sie, aber auch sein Volk und sich selbst ebenfalls. Ganz spannend finde ich die Momente der Selbstreflexion. Das wirkt sehr authentisch auf mich. Ich bin als Leserin hier nicht nur Beobachterin, sondern fühle mich als Begleiterin. Auch das erhöht bei mir die Anspannung im Hinblick auf das, was uns noch erwartet.


    Mehr als ein Kapitel schaffe ich nicht am Stück zu lesen. Ich brauche dann eine Pause.

  • Bereits die ersten Zeilen empfinde ich apokalyptisch: "Überall quillt das holde Blut aus den Weideflächen ... Ein unsichtbar goldenes Dröhnen ...".
    Auch wenn hier Blumen und Bienen bzw. Meeresrauschen gemeint sind, denke ich an die bevorstehende Katastrophe.

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    Sehr interessant fand ich, dass Gabriel mit seiner Familie in Frankreich lebt, Armenier ist und sich doch der türkischen Armee verpflichtet fühlt.


    Ich erkenne hier das aktuelle Problem vieler Migranten. Gabriel überlegt zeitweise, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ein "Missgefühl" hält ihn davon ab. Er hängt nach wie vor an seinem Vaterland.

  • Zitat

    Original von made
    Bereits die ersten Zeilen empfinde ich apokalyptisch: "Überall quillt das holde Blut aus den Weideflächen ... Ein unsichtbar goldenes Dröhnen ...".
    Auch wenn hier Blumen und Bienen bzw. Meeresrauschen gemeint sind, denke ich an die bevorstehende Katastrophe.


    So ist es.
    Das perfide bei der Sache ist, dass man (jedenfalls ich damals) wider besseres Wissen die ganze Zeit über hofft, die Katastrophe könnte irgendwie doch abgewendet werden :-(.


    Ich kann das Buch nicht noch mal lesen :-( und bewundere dich dafür, harimau :knuddel1.

  • Zitat

    Original von Regenfisch


    Erster Vorbote für das Unrecht ist der Einzug aller Pässe und Aufenthaltgenehmigungen. Die Stimmung kippt. Zunächst sind die Bewohner Yoghonuluks eher erstaunt als verängstigt.


    Für Inlandsreisen brauchte man ebenfalls Pässe, sonst durfte man nicht einmal das Dorf verlassen. Ist das vergleichbar mit einem Personalausweis? Ob das für alle Türken galt oder nur für die Armenier?

  • Zitat

    Original von Lumos
    Ich kann das Buch nicht noch mal lesen :-( und bewundere dich dafür, harimau :knuddel1.


    Meine Zweitlektüre liegt auch schon über zwanzig Jahre zurück, aber es hat mich beim ersten Lesen so gefesselt, schockiert, fasziniert, dass ich es mir mit einigem Abstand noch einmal "antun" musste. Ich wusste vorher praktisch nichts vom Völkermord an den Armeniern. :wow

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Ich habe es mir vorgestern für 89 cent auf mein ebook geladen. Angebot von amazon :grin


    Das erste Mal hatte ich es nur ausgeliehen.


    Jetzt habe ich doch wieder angefangen.


    Dass die Pässe weg sind bedeutet ja sowas wie Gefangenschaft, das macht Gabriel auch deutlich. Für eine Fahrt zum Markt braucht mein sowas wie eine Tagesgenehmigung.


    Die vorgeschobene Begründung zum Kampf gegen die Armenier, also die Überfälle, erinnern mich ja sehr an den Reichstagsbrand als Anlass zur Judenverfolgung.

  • Zitat

    Original von Saiya


    Da sich die Sicht der Türken auf ihn und seine Familie wandelt, verändert Gabriels Sicht sich auf sie, aber auch sein Volk und sich selbst ebenfalls. Ganz spannend finde ich die Momente der Selbstreflexion. Das wirkt sehr authentisch auf mich.


    Das finde ich auch sehr gut beschrieben. Nachdem Gabriel durch den Besuch beim Müdir sozusagen aus dem Schlaf des Gutgläubigen geweckt wurde, verspürt er im Basar Fremdheit. Er bezeichnet die Gesichter der armenischen Händler als verschlagen. (Bei diesem Wort frage ich mich, ob Werfel nicht europäische Vorurteile ausgerutscht sind.) Fast schämt er sich für seine Landsleute.
    Aber der Hass von außen lässt ihn mehr denn je als Armenier fühlen. Der Angriff von außen erzeugt ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sonst nicht da war.


    Ich denke, diesen Effekt kann man zur Zeit auch bei den Türken und Türkischstämmigen sehen. Viele sehen sehr besorgt auf das, was in der Türkei passiert. Wenn aber Außenstehende unqualifizierte Halb- und Besserwisserei von sich geben, sehen sie das nicht nur als Angriff auf ihre Regierung, sondern auf das ganze Land und sie selbst.
    Ähnliches habe ich bei der Schuldenkrise in Griechenland erlebt.
    Leider bleibt dann oft die Objektivität auf der Strecke.


  • Ich finde auch, dass der Gewissenskonflikt sehr gut nachvollziehbar geschrieben ist.


    Zu dem Konflikt in der Türkei:
    Ich habe mit einigen Türken und auch Kurden über die Entwicklung in der Türkei gesprochen. Im Moment habe ich den Eindruck, dass kaum jemand wagt, offen seine Meinung zu sagen. Das war vor einem halben Jahr noch anders. Einige, die sehr gegen Erdogans Politik waren, drücken sich nur ausweichend und schwammig aus.
    Ich finde diese Entwicklung erschreckend, da wir immerhin noch in einem demokratischen Land leben, das Meinungsfreihat garantiert.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Diesen Streifzug durch die armensichen Dörfer habe ich sehr genossen.
    Auch die Beschreibung der Personen, die sich alle im Hause Bagradian versammelt haben, war vergnüglich und informativ zugleich.


    Mit Hochspannung habe ich gewartet, dass Gabriel seine Erkenntnisse und seine Sorgen mit der Abendgesellschaft teilt. Die aktuellen Geschenisse und die politische Entwicklung ist kein Thema.
    Ob das eine Frage der Mentalität ist oder ob die Leute meinen, dass weitere Einschränkungen nicht mehr kommen?


    Gabriels Angst drückt sich in dem Gespräch mit Juliette aus. Das muss ihn viel Überwindung gekostet haben. Juliette teilt seine Sorgen überhaupt nicht. Ihr ist die Tragweite, was das Einbehalten der Pässe bedeutet, überhaupt nicht klar.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Die Überschrift lässt schon Vermuten, dass es nun ins eingemachte geht.


    Sehr gegensätzlich verbringt das Ehepaar Bagradian seine Zeit und sehr unterschiedlich ist auch weiterhin ihe Wahrnehmung.
    Juliette blüht förmlich auf, während sie das Haus und den Garten in Schuss hält. Es scheint, als habe sie das erste Mal in ihrem Leben eine echte Aufgabe und dadurch fühlt sie sich ernstgenommen und genießt der Verantwortung.


    Gabriel higegen sucht nach seiner Identität. Die Streifzüge oder Erkundungsreisen sehe ich ambivalent. Zum einen nimmt er seine Umgebung unmittelbar wahr, beobachtet und testet sein armenisches Gefühl. Auf der anderen Seite sperrt er überall seine Ohren auf, um Kenntnisse über die neusten Entwicklungen zu erfahren. Er prägt sich alles genau ein. Es wirkt auf mich wie eine innere Karte, die er anlegt.


    Gabriel erfährt, dass angesehene Armenier bereits verhaftet wurden. Der Nachrichtenfluss ist komplett ins stocken geraten. Yoghonoluk wirkt auf mich wie eine Insel der Glückseligen, die von allem noch verschont bleiben.


    Mit Aram, Iskuhi und Sato wird das Dorf mit den Deportationen in seiner ganzen Brutalität konfrontiert. Das war furchtbar zu lesen. Ich bin gespannt, wie die Bewohner nun reagieren.


    Zeitun heißt heute übrigens Süleymanli, falls ihr auch auf der Karte gucken wollt. :wave


    Mit der Abesetzung Beys steht das Massaker den Bewohnern Yoghonoluks wohl unmittelbar bevor.


    Ich hoffe, ich habe das alles richtig verstanden.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • An diesem Kapitel fand ich sehr interessant, dass die Deportationen auch in Deustchland wahrgenommen werden. In der aktuellen Diskussion war ja immer von einer Mitschuld der Deutschen die Rede, jetzt verstehe ich auch, warum.


    Lepsius prallt mit seinem Anliegen an Enver Pascha ab. Der Weg zu weiteren Deportationen ist frei.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    Diesen Streifzug durch die armensichen Dörfer habe ich sehr genossen.


    Ja, Gabriels Rückkehr aus der Stadt war so schön beschrieben, seine Gedanken, die Landschaft, die Erinnerungen, sein schlafender Sohn, dass ich gar nicht weiterlesen wollte. Ich ahne ja, was kommt!


    Allerdings verstehe ich den Gute-Nacht-Wunsch seiner Mutter nicht: Möge ich für deine Seele zum Opfer werden.



    Zitat

    Original von Regenfisch
    Auch die Beschreibung der Personen, die sich alle im Hause Bagradian versammelt haben, war vergnüglich und informativ zugleich.


    Vor allem der Apotheker! Diese Formulierung über sein "Wissen": "half ihm der schöpferische Mut über alle Lücken hinweg". :lache


    Zitat

    Original von Regenfisch
    Gabriels Angst drückt sich in dem Gespräch mit Juliette aus. Das muss ihn viel Überwindung gekostet haben. Juliette teilt seine Sorgen überhaupt nicht. Ihr ist die Tragweite, was das Einbehalten der Pässe bedeutet, überhaupt nicht klar.


    Diese nächtliche Szene drückt sehr gut ihre Liebe zueinander aus. Dass sich Juliette keine Sorgen um ihren Sohn macht, zeigt, wie sehr sie die Gefahr unterschätzt.
    Ich denke, Gabriel fühlt die Gefahr mehr, als dass er sie versteht. Und dieses Gefühl kann er schwer weitergeben.
    Aber das "morgenschrille Durcheinander" der Vögel verheißt nichts Gutes.

  • Eins kann ich schon mal sagen: Die Sprache gefällt mir total gut! Von Anfang an ist die Stimmung im Buch sehr düster und man kann spätestens bei Einzug der Pässe erahnen, worauf es hinaus laufen kann.


    Ich habe mich - wie immer mit den Namen der Orte und der Menschen schwer getan und hoffe, dass es sich im Laufe der Zeit legt. Da ich nur am Rande mal von dem Völkermord an den Armeniern was mitbekommen habe, fallen mir mal wieder die geschichtlichen Informationen schwer. Aber auch das wird sich legen.


    Zitat

    Original von made


    Ich erkenne hier das aktuelle Problem vieler Migranten. Gabriel überlegt zeitweise, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ein "Missgefühl" hält ihn davon ab. Er hängt nach wie vor an seinem Vaterland.


    Ich kann das total verstehen. Ich denke, dass die meisten Menschen sich ihrem Vaterland zugehörig fühlen, egal aus welchen Gründen sie auswandern oder flüchten.
    Und dass er seine Familie nicht zurück nach Frankreich bringt, ist ja seine Frau irgendwie Schuld. Sie scheint sich ja dort sehr wohl zu fühlen.


    In meinem Buch fehlen ab und an mal Worte :wow Ist das bei euch auch so? Ich habe eine BoD Ausgabe, allerdings dachte ich nicht, dass die abweicht. Naja, den Inhalt verstehe ich ja ;-) Wenn es mich zu sehr nervt, dann werde ich das "richtige" kaufen.


    Ich habe vorhin als ich ein paar Sachen gegoogelt habe, eine Seite gefunden, in der einer aufgrund des Buches zum Musa Dagh gereist ist. Vielleicht habt ihr ja Lust euch das anzusehen? Klick.

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    Diesen Streifzug durch die armensichen Dörfer habe ich sehr genossen.
    Auch die Beschreibung der Personen, die sich alle im Hause Bagradian versammelt haben, war vergnüglich und informativ zugleich.


    Mit Hochspannung habe ich gewartet, dass Gabriel seine Erkenntnisse und seine Sorgen mit der Abendgesellschaft teilt. Die aktuellen Geschenisse und die politische Entwicklung ist kein Thema.
    Ob das eine Frage der Mentalität ist oder ob die Leute meinen, dass weitere Einschränkungen nicht mehr kommen?


    Gabriels Angst drückt sich in dem Gespräch mit Juliette aus. Das muss ihn viel Überwindung gekostet haben. Juliette teilt seine Sorgen überhaupt nicht. Ihr ist die Tragweite, was das Einbehalten der Pässe bedeutet, überhaupt nicht klar.


    Ich habe immer noch das Gefühl, dass wir Gabriel begleiten, ihm quasi über die Schulter schauen (ich kann das nicht anders ausdrücken). In den Beschreibungen der Menschen und dem Land steckt so viel Wehmut dabei. Und über allem hängt diese dunkle Bedrohung. Werfel spiegelt dies hier sehr gut in Gabriels Stimmungen.


    Gabriel scheint das, was auf sein Volk zukommt ja zu erahnen. Warum erzählt er dann nichts davon? Ich denke, dass er einerseits immer noch die Hoffnung hat, dass er sich irrt und er die Menschen andererseits beschützen möchte. Ich halte das für sehr menschlich.


    Juliette fehlt einfach die Erfahrung und die Kenntnis der armenischen Geschichte und wohl auch das nötige Interesse an Politik, dass man haben müsste, um all das zu verstehen. Auch das finde ich sehr authentisch und menschlich.


    Ich stecke mitten im 4. Kapitel. Leider habe ich im Moment nicht so viel Zeit für das Buch, wie ich es gerne hätte. Aber ich bleibe natürlich dran.