Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

  • Elena Ferrante: Meine geniale Freundin
    Suhrkamp Verlag 2016. 422 Seiten
    ISBN-13: 978-3518425534. 22€
    Originaltitel: L'amica geniale
    Übersetzerin: Karin Krieger


    Verlagstext
    Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen. - Im Neapel der fünfziger Jahre wachsen sie auf, in einem armen, überbordenden, volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Schustertochter Lila und die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater seine noch junge Tochter zwingt, dauerhaft in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich ihrer Freundin zugestanden hätte. - Ihre Wege trennen sich, die eine geht fort und studiert und wird Schriftstellerin, die andere wird Neapel nie verlassen, und trotzdem bleiben Elena und Lila sich nahe, sie begleiten einander durch erste Liebesaffären, Ehen, die Erfahrung von Mutterschaft, durch Jahre der Arbeit und Episoden politischer Bewusstwerdung, zwei eigensinnige, unnachgiebige Frauen, die sich nicht zuletzt gegen die Zumutungen einer brutalen, von Männern beherrschten Welt behaupten müssen. - Sie bleiben einander nahe, aber es ist stets eine zwiespältige Nähe: aus Befremden und Zuneigung, aus Rivalität und Innigkeit, aus Missgunst und etwas, das größer und stiller ist als Lieben. Liegt hier das Geheimnis von Lilas Verschwinden?
    Elena Ferrante hat ein literarisches Meisterwerk von unermesslicher Strahlkraft geschrieben, ein von hinreißenden Figuren bevölkertes Sittengemälde und ein zupackend aufrichtiges Epos – über die rettende und zerstörerische, die weltverändernde Kraft einer Freundschaft, die ein ganzes langes Leben währt.


    Die Autorin
    Elena Ferrante ist die große Unbekannte der Gegenwartsliteratur. In Neapel geboren, hat sie sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre Neapolitanische Saga trägt, wie der erste Band daraus, den Titel „Meine geniale Freundin“ und ist ein weltweiter Bestseller. Die vier Bände – „Meine geniale Freundin“, „Die Geschichte eines neuen Namens“, „Die Geschichte der getrennten Wege“ und „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ – werden bis zum Herbst 2017 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Anschließend erscheinen, im suhrkamp taschenbuch Ferrantes frühere Romane „Lästige Liebe“, „Tage des Verlassenwerdens“ und „Frau im Dunkeln“.


    Inhalt
    Eine Frau ist verschwunden, hat ihr Leben förmlich ausradiert und einen lebensuntüchtigen erwachsenen Sohn zurückgelassen. Raffaella Cerullos Verschwinden ist der Anlass für ihre beste Freundin Elena, die Geschichte ihrer Freundschaft zu erzählen. Die Mädchen sind 1944 in einem Arme-Leute-Viertel Neapels geboren und kennen sich seit der ersten Klasse. Elenas Vater arbeitet als Pförtner, Lilas Vater als Schuhmacher. Typisch für eine Kindheit in den 50ern beschränkt sich die Vorstellung der Mädchen von der Welt auf das Haus und die Straße, in der sie leben. Das Meer haben manche noch nie gesehen. Zuhause wird Dialekt gesprochen und Konflikte um die Ehre von Schwestern und Töchtern werden mit Gewalt ausgetragen. Menschen sterben im Krieg, bei Unfällen oder an banalen Krankheiten. Konkrete wie abstrakte Ängste liegen wie eine dunkle Wolke über dieser Kindheit; Angst vor Leitungswasser, vor dem Verschlucken von Kirschkernen und vor dem unheimlichen Don Achille im vierten Stockwerk. Ängste werden Ferrantes Figuren ihr Leben lang begleiten.


    Raffaella, „Lila“, ragt schon als Kind aus den vom Alltag gebeugten Figuren heraus durch ihre Entschlossenheit und Furchtlosigkeit. Lila konnte schon vor der Schule lesen und schreiben, ihr scheint alles zuzufliegen, anders als Elena, die sich im Unterricht anstrengen muss. Wenn sie nicht fleißig ist, werden die Eltern sie aus der Schule nehmen, haben die Grecos gedroht. Elena hat das abschreckende Beispiel von Lilas Bruder Rino vor Augen, der für Kost und Unterkunft für den Vater arbeiten muss - und gegen den Willen des Vaters im Betrieb keinen Stich selbstständig tun darf. Dass eine Tochter aus dieser Familie überhaupt länger als unbedingt nötig zur Schule gehen darf, ist ungewöhnlich fortschrittlich. Der alte Cerullo befürchtet offenbar, dass sein Sohn sich ihm entfremden wird, wenn er ihn beruflich eigene Wege gehen lässt, während er seine Tochter loslassen kann und sie fördert. Das Bewusstsein, dass vor ihnen selbst schon Menschen gelebt haben, das Wissen über die „Sünden der Väter“ unterscheidet die Mädchen von der Generation ihrer Eltern – und dieses Bewusstsein öffnet ihnen die Tür zu Bildung. Aus dem Kellerloch des „Früher“ will Stefano Carracci unbedingt ausbrechen – mit Lilas Hilfe.


    Selbst als sich die Wege der Mädchen trennen und Elena allein zum Gymnasium geht, bleibt Lila die „geniale Freundin“. Lila als Mentorin und Antreiberin ist ihrer Freundin stets einen Schritt voraus. Ohne Lila hätte Elena das Gymnasium sicher nicht geschafft. Lila lebt praktisch ein fremdes Leben, indem sie Elena durch ihr Vorbild einen Weg aus dem Viertel aufzeigt.


    Neben der ungewöhnlichen Beziehung der beiden Mädchen lässt sich intensiv das Verhältnis zwischen Rino und seinem Vater Fernando verfolgen. Rino und Lila wollen im Geschäft des Vaters Maßschuhe anfertigen. Dessen Fantasie reicht jedoch nicht aus, um im Konkurrenzkampf gegen billige Fabrikware neue Wege zu wagen, und er ist nicht in der Lage, seine Kinder eigene Wege gehen zu lassen. Rino ist dem Willen des Vaters auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, der von der Idee nicht viel hält. Für den Sohn scheint es keinen Weg heraus aus dem Viertel und der ewigen Armut zu geben. Mädchen dagegen können durch Heirat gesellschaftlich aufsteigen – oder durch Bildung, wie Elena. Als Lila mit 16 Jahren den Sohn des Lebensmittelhändlers heiratet, ist sich Elena noch sehr unsicher, ob Reichtum durch Bildung wirklich das ist, was sie sich vom Leben erträumt hat.


    Fazit
    Elena Ferrante beschränkt sich in ihrer Erzählung in der Ichform auf die Fakten und schränkt ihre Schilderungen mit der Bemerkung ein, sie sei sich im Rückblick ihrer Gefühle in beschriebenen Situationen nicht mehr sicher. Diese Relativierung lässt den ersten Band ihres schon 1991 verfassten vierteiligen Romans sehr aufrichtig und glaubwürdig wirken. Die Entscheidung zwischen Aufstieg durch Bildung oder durch Heirat, wie auch der Vater-Sohn-Konflikt der Cerullos sind universelle Konflikte, die von Lesern auf der ganzen Welt verstanden werden. Als großartiger Roman einer Freundschaft und Sittenbild der 50er Jahre hat „Meine geniale Freundin“ mich nicht allein mit seiner nur vordergründig einfachen Sprache beeindruckt, sondern ebenso mit wichtigen und starken Nebenfiguren wie Elenas Grundschullehrerin oder deren Cousine Nella.


    °°°°
    Zitat
    Erst heute, da ich dies schreibe, wird mir bewusst, dass Fernando damals nicht älter als fünfundvierzig gewesen sein dürfte, Nunzia war sicherlich noch einige Jahre jünger. Die beiden zusammen sahen an jenem Morgen phantastisch aus, er im weißen Hemd, im dunklen Anzug und mit seinem Randolph-Scott-Gesicht und sie ganz in Blau, mit einem blauen Hütchen und einem blauen Schleier.“ (Seite 401)


    9 von 10 Punkten


    [edit: Fehler]


    -> hier findet eine Mini-Leserunde statt
    -> hier eine Mini-Leserunde zum Hörbuch
    -> hier wandert ein Leseexemplar

  • Das Buch „Meine geniale Freundin“ beginnt mit dem Verschwinden einer alten Dame. Der Sohn sucht seine Mutter und bittet deren liebste Freundin seit Kindheitstagen, um Hilfe. Elena glaubt, dass Lila ein altes Versprechen wahr gemacht hat und erinnert sich an ihre gemeinsame Vergangenheit in Neapel. Und schon steht man mitten in einem fulminant erzählten Roman, der sich liest, als wäre er direkt im Vesuv entsprungen, um sich in das Herz des Lesers zu fressen. Denn zweifellos hat der Erzählstrom etwas von glühend heißer Lava, die sich in Richtung Meer bewegt. Raffaella Cerullo, genannt Lila ist ein äußerst begabtes Mädchen, dem Wissen nur so zuzufliegen scheint, während sich ihre Freundin Elena alles hart in der Schule erarbeiten muss. Was jedoch keineswegs zur Verstimmung zwischen den Beiden untereinander führt. Im Gegenteil! Hier haben sich zwei junge Mädchen gesucht und gefunden.


    Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ist eine Zeit des Aufbruchs, der großen Maulhelden und Messerstechern, aus einem kleinbürgerlichen Milieu entsprungen. Ein Ort der Spieler, Engherzigen, Verlierer, Schläger und Fantasten, deren natürliche Grenze das Meer und windschiefe Klassenlehrerin ist, jedenfalls solange man noch zur Schule geht. Lila ist anders. Sie geht wie so viele überdurchschnittlich Begabte einen sehr eigenen Weg. Sie wirft die Möglichkeiten ihrer Intelligenz und Lernfähigkeit fort, weil sie kein blinder Denkapparat werden will, um es gegen Glück einzutauschen, was zu dieser Zeit dummerweise immer irgendwie mit Männern zu tun haben muss. Als könnten Frauen Glücklich sein nicht alleine! Aber das ist ein anderes Thema. Elena bleibt zunächst einmal auf der Einbahnstraße Schule, Hochzeit, Kinder. Sie übertrifft mit ihren schulischen Leistungen sogar ihre Freundin, einfach weil sie hart an sich arbeiten muss, um andere und sich selbst nicht zu enttäuschen.


    Und die Überraschung passiert. Dieses im Grunde ja relativ simple Romankonstrukt wird zu Glühen gebracht. Allein dafür gehört der Autorin schon meine Bewunderung. Das ist alles so Lebensprall erzählt, dass ich nur ins Schwärmen geraten kann. Das Italien der damaligen Zeit erscheint dem Leser vor Augen, die Menschen bekommen ein Gesicht und das Geschehen berührt den Leser. Einziges Manko: ich hätte gerne ein bisschen mehr Drama gehabt. Womit wir wieder beim Vesuv wären! Man kann nur hoffen, das der zweite Teil ähnlich gut abgeht. Auf ein neues!

  • Die Autorin zieht es vor, unerkannt zu bleiben und ich sehe das als einen sehr berechtigten Wunsch an. Welche Gründe sie im Einzelnen dafür hat, geht mich als Leserin tatsächlich nichts an und ist für mich auch nicht wichtig.



    Inhalt und meine Meinung


    Dieser Roman ist eine Art Zeitreise. Eine Reise in eine Gesellschaft, die heute kaum mehr vorstellbar ist. Im Rückblick erzählt von der älter gewordenen Elena anlässlich des spurlosen Verschwindens ihrer Freundin Lila. Es ist nicht nur Lila, die verschwunden ist, sondern ihr gesamter persönlicher Besitz. Nichts ist von ihr geblieben.
    So lebt sie nur noch in der Erinnerung der Freundin fort.
    Es sind zwei ungewöhnlich Mädchen, die da in einem Arme-Leute Viertel im Neapel der 1950er Jahre Freundschaft schließen. Eine Freundschaft, die zu einem Teil auch aus Konkurrenz und einer Prise Eifersucht besteht. Beide sind sie ungewöhnlich klug und wissbegierig, doch während Elena ein stilles und schüchtenes Mädchen ist, ist Lila ein eigensinniges und dickköpfiges Wesen. Sie ist nicht nur intelligent, sie ist regelrecht brilliant.
    Das Drama der beiden Mädchen beginnt, als Lila nach dem Abschluss der Grundschule nicht weiter zur Schule gehen darf, sondern ihrem Vater, wie schon der ältere Bruder, in der Schusterwerkstatt helfen muss. Elena erhält die Erlaubnis, weiter zur Schule zu gehen.
    Es ist jedoch nicht nur die Geschichte dieser beiden Mädchen, die hier erzählt wird, sondern die einer ganzen Gesellschaft, die die Begabungen von Kindern armer Eltern in keiner Weise fördert, sondern es zulässt, dass sie in Armut und Resignation verharren.
    Die Chancen für die Jungen sind nicht wesentlich besser als die der Mädchen. Kaum einem steht die Möglichkeit von Bildung und Ausbildung offen. Die meisten tun, was schon die Väter taten. Entwicklung, Verbesserung steht dabei für keinen auf der Tagesordnung, es sei denn, man lässt sich mit der Camorra ein. Besonders Lilas Bruder Rino leidet unter dem despotischen Vater, der ihm keine Chance gibt, eigene Vorstellungen einzubringen.
    Mädchen bleibt nur eine hoffentlich vorteilhafte Heirat. So fügt sich Lila in die Erwartungen der Familie und heiratet früh.


    Schockierend ist die ganz selbstverständliche Schilderung der allgegenwärtigen Gewalt. Väter misshandeln Frauen und Kinder, die Männer untereinander lösen Probleme bevorzugt mit Gewalt.
    Immer bleibt der Ton eher nüchtern und lässt die Leserin dennoch hautnah am Leben Elenas teilnehmen.


    Es ist ein Buch, das mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat und ich bin schon neugierig, wie es mit dieser Freundschaft weitergeht.


    9 Punkte bekommt dieses Buch von mir.

  • Titel: Meine geniale Freundin
    OT: L'amica geniale
    Autorin: Elena Ferrante
    Übersetzt aus dem Italienischen von: Karin Krieger
    Verlag: Suhrkamp Erschienen: August 2016
    Seitenzahl: 422
    ISBN-10: 3518425536
    ISBN-13: 978-3518425534
    Preis: 22.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen.


    Die Autorin:
    Über die Autorin ist nichts bekannt. Sie wird vom Verlag als „die große Unbekannte“ hingestellt.


    Meine Meinung:
    Welch ein Roman – welch eine Enttäuschung. Nach dem Hype um dieses Buch habe ich offengestanden mehr erwartet – viel mehr.
    Munter geben sich in diesem Buch Anonymus und Pseudonymus die Klinke in die Hand – und das scheint mir dann auch Grund für den Erfolg dieses Buch zu sein. Da wird um die Autorin ein Geheimnis gemacht um so den Verkauf anzuheizen. Und natürlich habe auch ich mich davon einwickeln lassen. Geht ja auch nicht anders, muss ja schließlich dabei sein.
    Wäre die Autorin bekannt, dieses Buch wäre wahrscheinlich nur eines unter vielen und würde nirgend hervorstechen. Denn es ist nicht besonders originell. Die Geschichte ist in meinen Augen nicht die Geschichte einer Freundschaft, sondern eher die Geschichte einer Obsession – ziemlich dick aufgetragen und die Botschaft wird mit der Plattschaufel serviert.
    Vielleicht sollte man einfach nicht auf jeden Hype reagieren und vor allen Dingen nicht darauf reinfallen.
    Die Story ist relativ platt, vorhersehbar und vieles wird überzeichnet. Klischee reiht sich an Klischee und als Leser war ich relativ schnell genervt.
    Ich verstehe offengestanden auch das Feuilleton nicht, dass um dieses Buch einen derartigen Aufriss gemacht hat. Aber was von Suhrkamp kommt, muss einfach gut sein und ist beste Literatur. Denkste! Das trifft in diesem Fall ganz sicher nicht zu.
    Und ein offenes Wort an Suhrkamp: Die Folgebände könnt ihr euch in die Haare schmieren – mit mir nicht. Eine Elena-Ferrante-Enttäuschung reicht.
    Auch sprachlich hat mich das Buch nicht überzeugt, das mag aber auch an der Übersetzung liegen, deren Qualität ich natürlich nicht beurteilen kann.
    4 Eulenpunkte für eine echte Leseenttäuschung.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Sitten- und Zeitgemälde Neapels nach dem Zweiten Weltkrieg UND Bild einer lebenslangen Freundschaft, Teil 1


    Für die beiden gleichaltrigen Mädchen Elena, die Ich-Erzählerin, und ihre beste Freundin „Lila“ ist Armut ein ständiger Begleiter, während wir sie als Kinder und Heranwachsende begleiten. Es ist das Leben der „kleinen Leute“ in einem Viertel, einem sogenannten Rione, in Neapel. Die Sprache ist derb, Dialekt, auch der Umgang miteinander ist derb, Gewalt ist allgegenwärtig: Ehemänner schlagen ihre Frauen, beide die gemeinsamen Kinder, diese prügeln sich untereinander. Männer prügeln für ihr Ehrgefühl, einander, ihre Schwestern, deren Verehrer; der Ruf eines Mädchens wird zerstört mit Gerüchten in einem wenig aufgeklärten, meist verklemmt wirkenden Umfeld der gegenseitigen Missgunst. „Der Pöbel, das waren wir. Der Pöbel, das war das Gezanke ums Essen und um den Wein, war das Gestreite darum, war zuerst und besser bedient wurde, war dieser dreckige Fußboden, auf dem die Kellner hin und her liefen, und die immer vulgärer werdenden Trinksprüche.“ S. 421

    Das soll auf keinen Fall jemanden abschrecken; im Buch wirkt das alles, so seltsam sich das jetzt lesen mag, natürlich, folgerichtig: so ist halt das Leben in diesem Viertel, in dieser Zeit. Der Autorin Elena Ferrante gelingt es, ein Sittengemälde der einfacheren Leute in Neapel darzustellen anhand des Aufwachsens dieser beiden Mädchen nach dem Zweiten Weltkrieg (1980 sind sie 36 Jahre alt, also geboren 1944). Schuldbildung spielt keine wichtige Rolle für die Eltern in diesem Umfeld, besonders ein Mädchen findet mehr Anerkennung für eine „gute Partie“. Lila und Elena sind gut in der Schule, besonders Elena fühlt sich durch Lila herausgefordert, die immer einen Hauch mutiger ist als sie, kompromissloser, als Charakter ungewöhnlich fokussiert. Doch Lilas Vater erlaubt nicht den Übergang seiner Tochter in die Mittelschule – Elena hat mehr Glück, fühlt sich dabei aber immer im Nachteil gegenüber der Freundin, sieht das, was ihr widerfährt, immer nur im – meist negativ für sie selbst ausfallenden – Vergleich mit der anderen, die zunächst im Selbststudium weiter gegen die gesellschaftlichen Regeln aufbegehrt. Die Geschichte wird erzählt als Rückblick aus der Alterssicht Elenas: „Es war eine alte Angst, eine Angst, die mich nie verlassen hatte, die Angst, mein Leben könnte an Intensität und Gewicht verlieren, wenn ich Teile ihres [Lilas] Leben verpasste.“ S. 265


    Entsprechend fesselte mich die Lektüre nicht nur durch die atmosphärisch dichte Darstellung von Milieu und Zeit, sondern auch durch das enge Aufeinander-Bezogen-Sein der beiden Kinder und Jugendlichen, das man aussschließlich aus der Sicht von Elena dargestellt bekommt. Ich konnte einiges von Elenas Verhalten nicht nachvollziehen, wohingegen mir gleichzeitig ihre gesamte Person komplett nachvollziehbar erschien, wie widersprüchlich auch immer das jetzt erscheinen mag – eine meisterhafte Darstellung von Charakteren mit allen Ecken und Kanten, eine nicht immer sympathische, aber glaubwürdige Ich-Erzählerin ist mutig! Ein Problem hatte ich mit der schieren Personenfülle, wogegen zwar mit einem Verzeichnis zu Beginn des Buches und auf dem mitgelieferten Lesezeichen versucht wurde, entgegenzusteuern, was bei mir aber doch den Lesefluss etwas hemmte. Hingegen war der gelegentliche Wechsel der Autorin von gut lesbaren flüssigen Sätzen zu einigen echten verschlungenen Bandwurmsätzen nicht abträglich, sondern passte eher zum jeweiligen Gemütszustand Elenas. Ein Buch, das wiederzugeben oder auch nur weiter zu charakterisieren über „Sitten- und Zeitgemälde“ und „Buch über eine lebenslange Freundschaft“ hinaus schwer fällt, sich entzieht.


    Am Ende dieses auf vier Bände angelegten ersten ins deutsche übersetztenTeils eines Romanzyklus stehen die beiden Protagonistinnen am Übergang zum Leben als Erwachsene – mit einigen schmerzhaften Erkenntnissen. Ich ermutige, selbst herauszufinden, wer hier die „geniale Freundin“ ist, auch das Zitat am Anfang sollte nochmals nach der Lektüre in Erinnerung gerufen werden. Ich fühlte mich unterhalten, über ein Milieu informiert, zum Nachdenken angeregt – und hätte doch ein dickeres Buch und dafür weniger Teile bevorzugt.


    Ein passendes Folge- oder Alternativbuch für Deutschland ist von Ulla Hahn „Das verborgene Wort“.

  • Wow, ich bin begeistert. Normalerweise mag ich solche „Familienbücher“ nicht sehr, die dazu noch in der Ich-Form geschrieben sind, mit denen ich immer noch etwas auf Kriegsfuss stehe. Aber aufgrund der Begeisterung im Netz und der Möglichkeit, es als Wanderbuch zu bekommen, habe ich mich entschlossen, das Buch zu lesen.
    Und was soll ich sagen, ich bin begeistert. Ich kann noch nicht mal so recht beschreiben warum, aber der ganze Schreibstil an sich hat mir richtig gut gefallen. Man tauchte in die Geschichte ein, man war sozusagen Nachbarin von Lila und Elena und hat mitgefiebert, war erschrocken, lachte mit, es war unglaublich. Über den Inhalt brauche ich, denke ich, nicht mehr viele Worte zu verlieren. Elena erzählt die Geschichte, nachdem sie hört, das Lila verschwunden ist, was sie ja nicht zu überraschen scheint. Und so beginnt die Geschichte dieser Freundschaft, über das Kennenlernen der beiden, Schule, Jungen, alles dabei. Manchmal war mir Lila reichlich unsympathisch, dann tat sie mir wieder leid, ein Wechselbad der Gefühle, was diese beiden Mädchen angeht. Auch die Zeit, die 50er damals, waren unwahrscheinlich gut beschrieben, auch hier konnte man sich die Gegend richtig gut vorstellen.


    Ich war sehr beeindruckt von diesem Buch, da ich das Genre normalerweise nicht mag, hatte es das Buch etwas schwerer mich zu überzeugen, aber es hat es geschafft. Ich freue mich sehr auf die Nachfolgebände, und wie es mit den beiden weitergeht!
    Definitiv volle Punktzahl!

  • Eine Saga?


    In diesem ersten Teil der stark beworbenen italienischen Saga versetzt uns die große Unbekannte Autorin Elena Ferrante ins Rione, einem ärmlichen Viertel bei Neapel.
    Sie, oder sind es mehrere Autoren?, lässt Elena und Lila, die beiden Hauptfiguren zunächst Kinder sein. Wir werden Zeugen etlicher Klein-Mädchen-Spiele und Mutproben, bis die beiden schließlich zueinander finden und auf einer fragilen Beziehungsebene die bekannten Stationen des Erwachsenwerden durchleben.
    Dazu gehören dramatische Alltagsszenen der italienischen Art innerhalb der Familien, von denen es im Buch eine Menge gibt und das erste Geturtel zwischen den Jungendlichen im Rione.
    Inhaltlich konnte mich an diesem Buch nichts überraschen, geschweige denn fiebrig werden lassen, wie es die Werbung versprach.
    Für mich passt “Meine geniale Freundin” eher in das Genre Jugendliteratur der anspruchsvolleren Art und könnte hier gut mit dem feinen Stil und der versuchten sprachlichen Eleganz punkten.


    Beide Protagonistinnen sind gut in der Schule, doch nur Elena ist es vergönnt den höheren Bildungsweg einzuschlagen, obwohl auch Lila sehr intelligent ist und sogar autodidaktische Fähigkeiten ausspielen kann. Beide konkurrieren in einer versteckten Art und Weise miteinander und ich kann eigentlich keine großartige Freundschaft erkennen. Immer wieder kommt es mir so vor als wünscht die eine der anderen nichts Gutes. Das hat mich sehr irritiert. Sollte es hier nicht um eine ganz besondere Beziehung zwischen zwei Frauen gehen?


    Ich habe mich nicht geärgert das Buch gelesen zu haben, gewundert, über den Hype, der darum gemacht wird habe ich mich schon.
    Ein einfaches, leichtes Gericht mit alltäglichen Zutaten, was hier inkognito gekocht wurde. Wer’s mag, wird auch die folgenden anderen drei Teile nicht verschmähen.

  • Ein großes Dankeschön an Buchdoktor, die das Buch als WB zur Verfügung gestellt hat.



    Im Prolog erfahren wir, daß Rafaella Cerulla (genannt Lila) verschwunden ist. Ihre Freundin Elena erzählt im Rückblick die Geschichte ihrer Freundschaft angefangen im ärmlichen Neapel der 50er Jahre. Es beginnt mit der Kindheit und der Einschulung. Die beiden Mädchen stehen ständig in Konkurrenz zueinander und stacheln sich so zum Lernen an. Auch ihr Charakter und Aussehen ist vollkommen konträr, aber auch das beflügelt ihre Freundschaft. Sie gehen erst getrennte Wege als nur Elena das Gymnasium besuchen darf. Lina muß hingegen in der Schusterwerkstatt des Vaters arbeiten. Nichtsdestotrotz ihre Freundschaft bleibt bestehen. Mehr Details möchte ich eigentlich nicht verraten.


    Für mich wurde die Geschichte authentisch erzählt, als Leser erfährt man viel über die Bewohner von Rione, leider spielen auch Gewalt und Feindschaften eine nicht unerhebliche Rolle. Die Figuren wurden sehr gut charakterisiert und ich hatte sie bildhaft vor mir. Manche habe ich sofort ins Herz geschlossen, andere gefielen mir nicht besonders. Aber bei allem muß man auch berücksichtigen, daß der Roman in den 50er Jahren spielt.


    Mir hat das Buch ausgesprochen gut gefallen und ich bin beim nächsten Band auf alle Fälle dabei!


    Von mir 9 Eulenpunkte

  • Elena Greco bekommt von Rino dem Sohn von Raffaella Cerullo (genannt Lila) einen Anruf. Lila ist verschwunden, aber warum wunderte das Elena nicht, Lila wollte doch schon immer eines Tages verschwinden.
    Wir blenden zurück in die 50 er Jahre: Italien Rione bei Neapel, der Krieg ist ein paar Jahre zu Ende, in vielen Familien herrscht immer noch Armut. In dieser Zeit freunden sich Lila die Tochter des Schusters und Elena die Tochter des Pförtners miteinander an. Elena ist fasziniert von Lila, den Lila ist hübsch, intelligent und alle lieben sie. Aber besonders ist Elena von Lila fasziniert, ist sie doch die Klassenbeste, was Elena sofort motiviert ebenfalls besser als sie zu werden. Doch dann verlässt Lila die Schule und soll bei ihrem Vater in der Werkstatt mitarbeiten. Elena die durch die Motivation eine gute Schülerin wurde, macht die Mittelschule und später das Gymnasium. Und nun ist es Lila die besser sein will als Elena, dazu besorgt sie sich Bücher in der Bibliothek und hilft aber somit Elenas Lerneifer weiter anzuspornen. Und der Kontakt der beiden reißt nie auseinander, selbst als Elena ein paar Wochen sich auf Ischia erholt. Aber Lila ist immer einen Schritt weiter wie Elena und so sind auch viele Jungs aus Rione hinter ihr her, weil sie so hübsch ist. Mit 16 heiratet dann Lila ihren Verlobten Stefano und Elena muss nun ebenfalls versuchen einen Mann zu finden.


    Meine Meinung:
    Erkennbar ist nicht ob diese Saga auf einem realen Hintergrund basiert. Elena Ferrante hat mit diesem Buch den Start einer Familiensaga in vier Teilen begonnen. Kein Wunder benötigt die Autorin vier Bücher, wenn man in einem Band gerade mal nur 20 Jahr abdeckt. Auf über 400 Seiten erzählt sie uns die Freundschaft der beiden, ihre Familiengeschichten aber auch das Leben in Rione. Der Schreibstil ist sehr gut und flüssig, kann einen aber im Lauf des Buches schon mal ermüden. Zwar passieren mal so die einen oder anderen Unfälle, Schlägereien, fast einen Missbrauch, aber im großen ganzen war mir das zu wenig. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht warum um diese Saga so einen Medienrummel gemacht wird. Natürlich ist die Geschichte nett zu lesen, allerdings weiß ich nicht ob ich den zweiten Band lesen werde. Literarisches Meisterwerk ist es meiner Meinung nach nicht, aber ein guter Roman und wer auf solche Familiengeschichten steht, für den mag es das richtige sein. Das Cover ist recht einfach gehalten, passt aber zum Buch, von daher 7 von 10 Eulen.

    "Lebe jeden Tag so, als ob du dein ganzes Leben lang nur für diesen einen Tag gelebt hättest."