Die Buchvorstellung könnte man auch unter "Krimis" reinstellen. Das ist immer so eine Sache bei dieser Art von Romanen.
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Pauline Peters: Die rubinrote Kammer – Roman, Köln 2016, Bastei Lübbe, ISBN 978-3-404-17342-6, Klappenbroschur, 525 Seiten, Format: 12,6 x 3,4 x 18,7 cm, Buch: EUR 9,99 (D), EUR 10,30, Kindle Edition: EUR 8,49, auch als Hörbuch lieferbar.
London 1907: Victoria Bredon, die 19jährige Enkelin des Duke of St. Aldwyn, ist Vollwaise. Mit Stephen Hopkins, dem Butler ihres Vaters, und der Haushälterin Mrs. Dodgson lebt sie in der elterlichen Wohnung. Ihre Mutter starb, als sie noch sehr klein war, ihr Vater, der Rechtsmediziner Dr. Bernard Bredon, ist seit etwas über einem Jahr tot.
Als Vormund der temperamentvollen Rothaarigen fungiert weder der adelige Großvater noch die herrische Großtante Hermione Lady Glenmorag, sondern der Rechtsanwalt Montgomery. Der vornehmen Mischpoche väterlicherseits ist die eigensinnige, sehr liberal erzogene Victoria ein Dorn im Auge. Die melden sich nur, wenn sie was zu meckern haben. Die Verwandten mütterlicherseits sind von der Existenz der jungen Frau ebenso wenig begeistert, aber sie leben in Deutschland und fallen daher nicht weiter lästig. Beide Sippen können es nicht verwinden, dass seinerzeit der englische Protestant Bredon mit der blutjungen deutschen Katholikin Amelie von Marssendorff durchgebrannt ist und übertragen ihre Wut auf die Tochter.
Finanziell ist Victoria nicht gerade auf Rosen gebettet. Sie arbeitet als Fotografin für eine Tageszeitung und als Reisejournalistin. Butler Hopkins bessert die Haushaltskasse auf, indem er unter einem weiblichen Pseudonym eine Zeitungskolumne mit Haushaltstipps schreibt.
Welches Geheimnis umgab Victorias Vater?
Alles ginge seinen Gang, wäre Victoria nicht bei einer Kundgebung der Suffragetten verhaftet worden. Dadurch gerät sie ins Visier von Sir Francis Sunderland, eines hochrangigen Mitarbeiters des Innenministeriums. Er deutet ihr gegenüber an, dass ihr Vater nicht der Ehrenmann gewesen sei, für den sie ihn immer gehalten hat. Und sie solle doch mal nachforschen, wer sie vor 15 Jahren wirklich aus dem brennenden Haus gerettet habe. Nicht ihr Vater, wie es immer geheißen hat …
Das lässt sich die naseweise Victoria nicht zweimal sagen, obwohl sie den Schnösel auch eiskalt hätte auflaufen lassen können. Es existieren nämlich persönliche Aufzeichnungen ihres Vaters, die ihr in zwei Jahren, anlässlich ihrer Volljährigkeit, zugänglich gemacht werden. Da wird sich dann ja alles klären. Aber Abwarten ist nicht Victorias Stärke. Mit Unterstützung ihres Journalistenkollegen Jeremy Ryder und Butler Hopkins stürzt sie sich in ihre Privatermittlungen und tritt dabei einer Menge einflussreichen Leuten auf die Füße.
Auf dem Debütantinnenball kommt es zum Eklat: Victoria streitet sich in aller Öffentlichkeit lautstark mit Sir Francis Sunderland – und kurzer Zeit ist er tot. Ermordet. Die Familie hat alle Mühe, Victorias Namen aus dem Fall herauszuhalten. Als ein zweiter Mord geschieht und Victoria ganz sicher ist, dass das unbekannte Opfer Sir Francis Sunderland gekannt hat, ist sie entschlossen, die beiden Mordfälle mit Hilfe von Ryder und Hopkins selbst aufzuklären.
Action! Victoria mischt die Spießer auf
Und nun lässt’s die Autorin richtig krachen! Ich hatte den Eindruck, Lara Croft verbündet sich mit James Bond und Butler Parker und zu dritt mischen sie die steife Londoner Gesellschaft der Jahrhundertwende auf … mit all ihren schmutzigen Geheimnissen.
Ihre Ermittlungen führen die drei in gefährliche Elendsviertel und in höchste Adelskreise. Sie brechen in ein Bordell ein, treten unter wechselnden Tarnidentitäten auf und fühlen allen möglichen Verdächtigen auf den Zahn. Die Krönung ist, als die ungeschickte Victoria sich in einem Undercover-Einsatz als Spülmädchen im Herrenhaus Blackenwell Manor verdingen muss. Brüller! Ein in letzter Sekunde vereiteltes Attentat, ein Knastaufenthalt und eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie spielen auch noch eine Rolle.
In einem Punkt sind sich Victoria, Hopkins und Jeremy Ryder – der wohl auch nicht ganz das ist, was er vorgibt zu sein – bald einig: Bei den mittlerweile vier Mordfällen geht es vermutlich um Erpressung. Die Opfer verfügten über Informationen, für deren Unterdrückung jemand über Leichen geht. Und je näher unsere drei Amateurdetektive der Wahrheit kommen, desto gefährlicher leben sie …
Glaubwürdig? Hm. Unterhaltsam? O ja!
Nachdem ich in letzter Zeit hauptsächlich historische Romane gelesen hatte, die sich eng an reale Personen und Ereignissen hielten, habe ich mit dieser Geschichte erst einmal gefremdelt. Victoria war mir für diese Zeit einfach zu modern: eine rotzfreche Neunzehnjährige, die nicht nur malt und fotografiert, sondern auch alleine lebt, berufstätig ist, sich politisch engagiert, Hosen trägt, reitet, schießt, eine asiatische Kampfsportart beherrscht, mit allen Gesellschaftsschichten gleichermaßen souverän Umgang pflegt und ohne mit der Wimper zu zucken über alle möglichen S*xpraktiken spricht. Und die auch locker vom Hocker mit einem flotten Herzog in die Kiste hüpft. Ja, isses die Möglichkeit? So waren die anständigen Mädels von damals doch gar nicht drauf, oder?
Irgendwann dachte ich mir, okay, hier ist eben ordentlich Remmidemmi angesagt. Ob die sympathische Heldin und ihre Abenteuer nun glaubwürdig sind oder nicht, ist jetzt einfach mal egal. Spannend ist es, vergnüglich ist es uns sauber recherchiert offenbar auch. Und ab da hatte ich Spaß an der Story. Auch wenn sie deutlich wilder und krawalliger war als ich es erwartet hatte.
Die Bösewichter kann man hier so richtig schön hassen, und als herauskommt, welches Geheimnis die Bordellchefin Molly gehütet hat, denkt man als Leser voller Gehässigkeit: Au ja! Lass das bitte, bitte I. oder R. betreffen!
Wer also weiß, worauf er sich bei DIE RUBINROTE KAMMER einlässt, wird sich wahrscheinlich bestens amüsieren. Ein braver Häkelkrimi aus der Zeit um die Jahrhundertwende ist das Buch sicher nicht. Aber anscheinend Band 1 einer geplanten Serie.
Die Autorin
Pauline Peters, geboren 1966, ist Journalistin und lebt in Deutschland. Ihre Leidenschaft gilt der britischen Lebensart. Sie liebt Landhäuser und Parks sowie den Afternoon Tea.