Jens Lubbadeh: Unsterblich

  • Charmant, packend, fundiert


    In dreißig Jahren wird vieles immer noch so sein, wie es jetzt ist. Es wird weiterhin Kabelfernsehen - überhaupt Fernsehen - geben, gedruckte Bücher, sogar Autos mit Verbrennungsmotoren. Menschen werden wie heute Informationen über Rechner akquirieren. Nur eines wird nicht mehr dasselbe sein. Dieselbe, um genauer zu sein.
    Nämlich die Realität.
    Über "NeurImplants", die fast jeder Erdenbürger trägt, wird sich die Realität mit der künstlichen Virtualität zu einer so genannten "Blended Reality" vermischen, und genau dieses Konzept wird es erlauben, virtuelle Personen nahezu wie echte direkt in der Wahrnehmung der Menschen erscheinen und mit ihnen interagieren zu lassen. Von diesen virtuellen Personen wird es zwei Typen geben, nämlich zum einen die Avatare jener Lebenden, die an einem anderen Ort sein müssen, ohne dort sein zu wollen, und deshalb ihre virtuellen Vertreter schicken.
    Und dann, zum anderen, die Ewigen. Die Unsterblichen. Computergenerierte Nachbildungen von verstorbenen Personen, die nicht vom Original zu unterscheiden sind, sich wie dieses verhalten, genau wie dieses fühlen und handeln.


    Benjamin Kari arbeitet für Fidelity, den weltgrößten Versicherungskonzern, der seinerseits eng mit Immortal verstrickt ist, jener Firma, die die Blended Reality und damit die Ewigen ermöglicht, kontrolliert und möglicherweise - so die Befürchtung der Gegner - auch steuert. Kari zertifiziert Ewige, deren zweites Dasein nicht aus den Lebenstrackern gespeist werden konnte, die fast jeder normalsterbliche Lebende am Handgelenk trägt. Benjamin Kari prüft also, ob ein Ewiger, der aus Videoaufnahmen, Interviews und sonstigen Aufzeichnungen quasi zusammengesetzt wurde, dem Original perfekt entspricht. Diese Tätigkeit ist umso wichtiger, da Ewige fast die gleichen Rechte wie Sterbliche haben, sogar politische Mandate und damit erhebliche Macht übernehmen können. Die computergenerierte Reinkarnation von John F. Kennedy beispielsweise amtiert als US-Präsident, während der 1997 verstorbene Deng Xiaoping China regiert. Michael Jacksons digitale Kopie befindet sich übrigens auf "Immortal"-Welttour. Irgendwo auf dem Planeten singt Freddy Mercury tatsächlich "Who want's to live forever".
    Und dann ist da noch Marlene Dietrich. Die deutsche Diva, die in Hollywood so erfolgreich war, dann die Schauspielkarriere gegen eine Gesangskarriere tauschte, um am Ende, unter Depression leidend, in ihrer Pariser Wohnung auf den Tod zu warten. Beides wird ihrer Ewigen - theoretisch - nicht passieren können, denn die Ewigen sind unsterblich - und außerdem sozusagen Gefangene ihrer selbst. Sie können sich nicht weiterentwickeln und also auch keine psychischen Störungen ausbilden, und jeder Gedanke an den Tod ist per Softwaresperre ausgeblendet.
    Trotzdem ist Marlene Dietrichs Ewige plötzlich verschwunden. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Auf jeden Fall etwas, das um keinen Preis publik werden darf.


    Benjamin Kari wird mit den Nachforschungen beauftragt, was eine atemlose und atemberaubende Jagd quer über den Planeten in Gang setzt. Aber Action steht in dieser Geschichte nicht unbedingt im Vordergrund, obwohl es reichlich davon gibt, und übrigens auch mindestens eine Liebesstory. Jens Lubbadehs kluger, kenntnisreicher und genresicher konzipierter Science-Fiction-Roman hat nicht weniger als die Frage nach dem Sinn des Lebens zum Gegenstand, und damit natürlich auch die nach dem Sinn des Todes. Was würde aus den Menschen werden, wenn sie tatsächlich ewig leben, sich aber nicht ewig weiterentwickeln könnten? Wäre dieses Leben noch lebenswert? Was macht Erinnerung aus? Hat Vergänglichkeit nicht auch ihre guten Seiten?
    Eine weitere Kernfrage beschäftigt sich mit der Macht der technologischen Großkonzerne, die auch heutzutage gestellt werden muss, aber viel zu selten gestellt wird. Lubbadehs "Immortal" diktiert die Bedingungen und hält die Fäden in den Händen, steht technisch über den Regierungen - und deshalb auch in jeder anderen Hinsicht. Damit ist es, wie wir alsbald erfahren werden, ein Gegner, gegen den es fast keine Waffe gibt, sozusagen ein Konzentrat aus Apple, Google, Microsoft, Facebook und zwei, drei anderen: Wenn die nicht mehr wollten, wären wir alle handlungsunfähig.


    "Unsterblich" ist ein äußerst lesbarer, äußerst spannender und fast schon beängstigend guter Roman, dessen Autor einen Vergleich mit den großen - zumeist amerikanischen und britischen - Akteuren des Genres, von Banks über Hamilton bis Wilson, nicht scheuen muss. Jens Lubbadeh weiß nicht nur, wovon er schreibt, er weiß auch noch, wie man erzählt. Er ist längst nicht der erste, der sich mit der Fortsetzung des Lebens als Mischung aus Daten und Algorithmen belletristisch auseinandersetzt, aber auf so charmante, packende und fundierte Weise ist das noch nie geschehen. Da verzeiht man ein, zwei logische Ausrutscher (etwa das physische Buch in Marlenes Zuhause, das sie überhaupt nicht lesen kann, weil ihr Interaktion mit Materie unmöglich ist) und die Linearität der letzten hundert Seiten.
    Dafür bekommt man nämlich ein richtig gutes Buch, ein Cover zum Niederknien, eine hinreißend originelle Hommage an die Dietrich - und, quasi nebenbei, ein bisschen was zum Nachdenken.

  • Die Welt, die Lubbadeh konsturiert hat, ist stimmig, komplex und sehr interessant. Die Vermischung von analoger und digitaler Welt ist ein Denkansatz, bei dem man ausschweifend verweilen kann. Das, wovor sich nahezu alle Menschen fürchten, wurde negiert: der Tod. Zumindest in geistiger Hinsicht. Denn nach dem analogen Tod folgt das digitale Leben.


    Der Autor zeigt uns seine Interpretation von Unsterblichkeit, die mich gefesselt hat.


    Der Stil ist flüssig, leichtgängig zu lesen und unterhaltend.


    Was mir nicht gefallen hat, war die Figurengestaltung. In meinen Augen bleiben die Protagonisten flach. Allerdings ist das (leider) keine Seltenheit bei Sci-Fi-Romanen. Der Fokus liegt auf der erschafften Welt, den Konstellationen, Besonderheiten. Es scheint, als bliebe für eine vernünftige Figurenpsychologie keine Energie mehr übrig. So auch leider hier. Die Figuren waren mir gleichgültig. Sie haben mich nicht durch die Geschichte gezogen, im Gegenteil. Es war allein der Weltenentwurf, der mich bei Laune hielt und mich hat weiterlesen lassen.


    Leider fand ich das Ende des Buches nicht gelungen. In meinen Augen ist es nicht logisch, es tun sich Lücken bzw. Fragen auf, die nicht geklärt werden. Trotzdem habe ich es nicht bereut, das Buch gelesen zu haben.


    Ich gebe 7 von 10 Eulenpunkten.