Fikry El Azzouzi: Wir da draußen

  • Fikry El Azzouzi: Wir da draußen
    DuMont Buchverlag 2016. 200 Seiten
    ISBN-13: 978-3832198299. 20€
    Originaltitel: Drarrie in de nacht
    Übersetzer: Ilja Braun


    Verlagstext
    Ayoub ist zu Hause rausgeflogen, genauso wie seine besten Freunde. Zusammen mit dem hübschen, etwas schlichten Fouad und dem Halbafrikaner Maurice schlägt er seine Zeit in ihrem belgischen Heimatdorf tot und versucht, irgendwie über die Runden zu kommen. Und dann ist da noch Kevin, ein überdrehter junger Konvertit, der sich selbst in Karim umgetauft hat. Die vier wollen rein ins Leben. Sie wollen Spaß haben und Mädchen finden und eine Perspektive, aber sie bleiben isoliert, abgeschoben auf die Strafbank der Gesellschaft. Authentisch, drastisch und mit scharfem, hintergründigem Humor beschreibt El Azzouzi, wie die Clique erst in die Kriminalität abrutscht und sich dann allmählich radikalisiert. Ayoub, der weder mit Gewalt noch Islamismus etwas am Hut hat, muss miterleben, wie die Situation Schritt für Schritt eskaliert. Einen Teil der Freunde wird es noch weiter ins Aus treiben, die anderen nach Syrien in den Dschihad.
    ›Wir da draußen‹ erzählt, wie aus ganz normalen jungen Männern Täter werden und was mit Menschen passiert, für die sich niemand interessiert.


    Der Autor
    Fikry el Azzouzi, geboren 1978 in Temse, Belgien, ist ein flämischer Autor marokkanischer Herkunft. Er machte sich einen Namen als Kolumnist und Dramatiker und wurde u. a. mit dem Autorenpreis für Theaterkunst 2013 ausgezeichnet. 2010 erschien sein Debütroman „Het Schapenfeest“ (in dem bereits in Held namens Ajoub vorkommt), 2014 folgte die Novelle „De handen van Fatma“ (2014). "Wir da draußen" ist das erste Buch El Azzouzis, das auf Deutsch erscheint. Er lebt in Antwerpen.
    Interview mit Fikry el Azzouzi


    Inhalt
    Ajoub, der 15-jährige Icherzähler aus einem Dorf irgendwo in Belgien, hält sich für ein Genie schreibt deshalb. Ajoubs Eltern sind Drarries, Einwanderer aus Marokko. Wie sein Busenfreund Fouad hat Ajoub eine große Klappe und Ärger mit dem Vater. Das Revier der Väter ist das Teehaus, dort können sie sich gegenseitig den Rücken stärken gegen ihre respektlosen Kinder. Zuhause herrschen unangefochten die Mütter. Die Väter sehen sich als Herr im Haus, ihre Söhne sollen sich gefälligst benehmen wie ein Mann. Die angemaßte Autorität der Väter erleiden ihre Söhne, erkennen sie aber nicht an. Mütter sind dafür da, ihre Söhne hemmungslos zu verwöhnen und damit alle väterlichen Erziehungsvorsätze zunichte zu machen.


    Beide Jungen fliegen zuhause raus; konkret heißt das, dass ihre Mütter sie wieder hätscheln und füttern, sowie der Vater aus dem Haus ist. Ajoub drückt sich eine Weile nachts im Waschsalon rum. Fouad steht auf Bodybuilding und hat mit Anabolika experimentiert, er pflegt seinen Körper wie ein Kunstwerk, unterstützt durch einen wohlhabenden Sugar-Daddy als Sponsor. Der Dritte im Bunde, Karim, eigentlich Kevin, ist Einheimischer und will als Konvertit gläubiger und dunkelhäutiger sein als alle anderen. Die beiden anderen sind auf dem besten Weg Patriarchen wie ihre Väter zu werden, doch selbst in ihren Augen ist Karim ziemlich neben der Spur, ein finsterer, ultrakonservativer patriarchalischer Knochen. Maurice ist Mischling, sein Vater stammt von der Elfenbeinküste, der Junge nimmt Drogen und hat ein Talent, auf Knopfdruck Schwachsinn zu labern.


    Wichtig für die Identitätsfindung eines muslimischen Pubertierenden ist sein öffentliches Auftreten, Klamotten, Körpersprache, alles exakt abgezirkelt. Dass die „Alten“ sie respektlos finden, ist den Jungs bewusst, sie selbst fordern für sich Respekt ein, bringen jedoch anderen keinen entgegen. Wenn sie sich respektlos behandelt fühlen, reagieren sie schnell gekränkt. Ajoub und seine Kumpels sind egozentrisch, überheblich, kriminell und pflegen ein bizarres Frauenbild. Ein Drarrie als Frauenkenner ist sich sicher, dass Frauen es erotisch finden, von Jungs im Alter ihre kleinen Brüder angetatscht zu werden. Schließlich stehen Frauen auf gefährliche Jungs, das weiß doch jeder. Emotionen können El Azzouzis Helden nur in Gewaltphantasien erleben. Die Welt, die sich Ajoub und seine Gang zurechtgebastelt haben, gerät ins Wanken, als ein jüdischer Juwelier und Hehler erzählt, er hätte seine Kinder zu ihrer Sicherheit nach Israel geschickt. Die darin ausgedrückte Angst stellt ihr Selbstbild infrage. Wenn ihr fromm seid, warum unterstützt ihr dann Eure Glaubensbrüder nicht, provoziert er sie.


    Fazit
    Ajoubs Schreiben scheint zunächst nur seinen pubertären Größenwahn muslimischer Prägung in Textform zu gießen. Selbstkritik oder Reifung hätten in dieser Erzählung aus jugendlicher Ichperspektive wohl Platz; hier sucht man sie jedoch vergebens. Pubertäres Posieren pur, wie wir es alltäglich auf der Straße und auf Schulhöfen erleben. Entwickelt sich Ajoub noch – oder war das schon alles, habe ich mich an dem Punkt gefragt. Nein, das war noch nicht alles, das Ende haut den Leser aus den Socken. Wer Jungen muslimischer Herkunft kennt, erfährt hier nichts Neues aus der Szene, wird jedoch sicher schlucken, wenn jugendlicher Größenwahn in rasantem Tempo direkt ins Unglück führt. Kaum ein Roman könnte passender zur aktuellen Lage im Einwanderungsland Europa sein.


    7 von 10 Punkten