Sabine Eichhorst: Die Liebe meines Vaters – Roman, München 2016, Knaur TB, ISBN 978-3-426-51665-2, 362 Seiten, Klappenbroschur, Format: 12,8 x 2,7 x 19,1 cm, Buch: EUR 9,99 (D), EUR 10,30 (A), Kindle Edition: EUR 9,99.
Die Geschichte beginnt 1930. Der angehende Lehrer Loris Schorb, Anfang 20, hat ein Faible für Ungarn, seit er einmal in einem Radiohörspiel eine ungarische Schauspielerin sprechen gehört hat. Jetzt in den Ferien reist er an sein Sehnsuchtsziel Budapest und ist sofort hin und weg:
„Ihm war, als tauche er in ein warmes Bad – er war vollkommen fremd in dieser Stadt, doch auf eine Art, die er nicht erklären konnte, fühlte er sich geborgen und zugehörig. (...) Das Herz der Stadt schlug kraftvoll und stark.“ (Seite 43)
Der deutsche Student und die ungarische Intellektuelle
Bei einem seiner Streifzüge durch die Stadt läuft er dem jüdischen Journalisten Béla Trebitsch über den Weg. Sie kommen ins Gespräch, finden einander sympathisch, und Béla stellt Loris seiner Freundesclique vor. Zu den kritischen Intellektuellen in der pulsierenden Hauptstadt passt der belesene, musisch begabte Loris viel besser als in sein protestantisch-nüchternes schwäbisches Heimatdorf. Und als er sich in die musikalische, kluge und schlagfertige Modistin Eva Virág verliebt, ist im Grunde klar, wohin er gehört. Doch so einfach ist das nicht. Eva will nicht mit nach Deutschland kommen und die wirtschaftliche Lage in Ungarn ist derart schlecht, dass Loris nicht wüsste, wovon er dort leben und eine Familie ernähren sollte. Und so gibt es keine konkreten Zukunftspläne.
Über die Jahre treffen sich Loris und Eva immer wieder in Budapest, bis sie ihm eines Tages kurz und bündig mitteilt, dass sie einen anderen heiraten wird. Was wirklich hinter dieser Entscheidung steckt, wird er nie erfahren.
Briefe von der Front
Loris ist wie vor den Kopf geschlagen. Er kehrt nach Deutschland zurück, heiratet die blonde Krankenschwester Elsa und zieht mir ihr in ein Kaff auf der Schwäbischen Alb, wo sie todunglücklich ist. Wenige Monate nach der Geburt der Tochter Maria wird er zum Militär eingezogen. Er schreibt seiner Frau unzählige Feldpostbriefe, erst aus Frankreich, später von der Ostfront.
Der Krieg verändert beide. Die Liebe der Eheleute zueinander war nie so tief, dass sie das hätte verkraften können. Elsa hat keine Vorstellung davon, was Loris an der Front durchmacht und er tut ihre Sorgen als wehleidiges Gejammer und Luxusproblemchen ab. Dass sie sich einsam und überfordert fühlt und womöglich ein psychisches Problem hat, dringt nicht zu ihm durch. In seinem Fronturlaub streiten sie nur und der Ton in ihren Briefen wandelt sich von „liebevoll-besorgt“ zu „deutlich angepisst“, bis der Schriftverkehr 1945 schließlich ganz aufhört. Jahre später wird Loris für tot erklärt. Tochter Maria bleibt nur eine vage Erinnerung an ihren Vater.
Maria auf den Spuren ihres Vaters
Nun macht der Roman einen größeren Zeitsprung. Wir sind in München im Jahr 1962. Maria Schorb, intelligent und sprachbegabt wie ihr Vater, arbeitet als Rezeptionistin in einem Hotel und lernt dort den ungarischen Pianisten Dénes Molnár kennen und lieben. Der ist ganz schön überrascht, als er in einem Fotoalbum seiner Frau ein Jugendfoto ihres Vaters entdeckt, das unverkennbar in Budapest aufgenommen wurde. An seiner Seite: Dénes’ Tante Eva!
Die Hochzeitsreise führt das junge Paar nach Budapest, wo Dénes seit dem Volksaufstand 1956 nicht mehr gewesen ist. Seine Großfamilie, die keine Ahnung hat, wer seine Ehefrau ist, nimmt sie genauso freundlich auf wie seinerzeit ihren Vater. Und Maria ist ähnlich überwältigt von der Herzlichkeit, der Gastfreundschaft und dem Zusammenhalt der temperamentvollen Virág-Sippe wie Loris es war. Genau wie er hat Maria so ein Familienleben niemals kennengelernt. Ihre Kindheit und Jugend war womöglich noch einsamer und trostloser als seine.
Erst bei einem späteren Treffen ergibt sich für Maria die Gelegenheit, sich Eva gegenüber als Loris’ Tochter zu erkennen zu geben. Als beide Frauen zu erzählen beginnen und die biographischen Lücken füllen, kommt Überraschendes zutage ...
Ein Roman nach wahren Begebenheiten
Der Roman beruht auf wahren Begebenheiten und einer Sammlung von Feldpostbriefen, die der Autorin zur Verfügung gestellt wurden. Trotzdem ist DIE LIEBE MEINES VATERS kein Memoir, also kein erzählendes Sachbuch, sondern ein Roman. Sabine Eichhorst hat Handlung, Figuren und Orte so verändert, dass die realen Personen dahinter nicht mehr erkennbar sind. Als begeisterte Leserin von Danksagungen und Quellenangaben war ich sehr beeindruckt von dem Rechercheaufwand, den die Autorin für dieses Buch betrieben. Dieser hat sich zweifellos gelohnt. Das Budapest der 30er-Jahre, in das sie uns entführt, fühlt sich ungemein real und lebendig an. Und die Kriegserlebnisse des jungen Loris wirken so brutal real, dass sie einen bis in unsere Träume verfolgen können.
Man hofft und leidet mit den Figuren mit, auch wenn man nicht für alle gleich viel Verständnis aufbringen kann und mag. Der feinsinnige Loris steht dem Leser doch ein bisschen näher als die ewig unzufriedene Elsa. Sie hatte es sicher nicht leicht im Leben, aber sie hat sich in der Rolle der bemitleidenswerten Zukurzgekommenen auch sehr bequem eingerichtet.
30 Jahre im Leben zweier Familien
Die Zeitsprünge in dem Roman bringen einen manchmal ein bisschen ins Stolpern. Eben wechselt Loris ein paar unverbindliche Worte mit einer Unbekannten, einen Absatz später ist er schon extra wegen ihr zurück in Budapest. – Gerade noch war er mit Eva zusammen, schon ist er an der Front und hat daheim Frau und Kind. – Soeben war die Rede von Dénes Molnárs Hochzeitsreise in den 1960er-Jahren, schwupps, springt die Handlung sechs Jahre zurück zum Volksaufstand. Man bekommt das zwar recht schnell wieder sortiert, weil man die Abläufe der historischen Ereignisse ja kennt, aber man hat beim Lesen doch den einen oder anderen „äh .... wie jetzt?“-Moment. Zeitsprünge, Auslassungen und Verkürzungen werden sich nie ganz vermeiden lassen, wenn man auf rund 360 Seiten eine Anzahl von Figuren über mehr als 30 Jahre ihres Lebens begleiten will.
Beim Lesen hatte ich immer die naive Hoffnung, dass Loris es schaffen möge, in den (Nach-)Kriegswirren unterzutauchen und mit Eva irgendwo auf der Welt ein neues Leben anzufangen. Ich hätte es den beiden so gegönnt! Aber so läuft das meist nicht im wahren Leben, und an dieses lehnt sich der Roman nun einmal stark an.
Für Maria Schorb Molnár schließt sich der Kreis. Sie hat die Familie gefunden, die ihren Vater wirklich geliebt hat, hat herausgefunden, was für ein Mensch er war und dürfte ihrerseits die Chance auf ein glückliches und friedliches Leben haben. Ein großer Teil der Kriegsgeneration aber ist – emotional oder ganz real – auf der Strecke geblieben. Nicht nur in dieser berührenden Geschichte.
Die Autorin
Sabine Eichhorst studierte Germanistik und Soziologie und arbeitete lange als Journalistin für verschiedene Radioprogramme der ARD. Für ihre Reportagen wurde sie 2002 mit dem CIVIS-Medienpreis und 2011 mit dem Herbert-Quandt-Medienpreis ausgezeichnet. Seit 1993 schreibt sie auch Bücher und hat bis heute über zwanzig Sachbücher und Memoirs veröffentlicht. DIE LIEBE MEINES VATERS ist ihr Romandebüt.