Eshkol Nevo: Die einsamen Liebenden, Roman, OT: HaMikwe haAcharon be Sibir (»Die letzte Mikwe in Sibirien«), aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, München 2016, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-26088-6, Softcover/Klappenbroschur, 300 Seiten, Format: 13,4 x 2,7 x 21,1 cm, Buch: EUR 16,90 (D), EUR 17,80 (A), Kindle Edition: EUR 14,99.
„Noch nie haben mich die Dinge interessiert, die alle interessieren. Ich habe noch nie wirklich dazugehört ... zu ... zu all dem, was ihr gerade aufgezählt habt. (...) Die meisten Leute fühlen sich in ihrer Heimat wohl. Auf ihrem Flecken Erde, das stimmt. Aber es gibt auch solche, die von Geburt an das Gegenteil spüren, ich meine ... sie spüren, dass dort ... nicht ihr Platz ist.“ (Seite 238)
Israel, Anfang der 1990er Jahre: Seit Monaten nervt Avraham Danino, der Bürgermeister der (fiktiven) „Stadt-der-Gerechten“ das Innenministerium. Er will endlich auch ein paar russische Einwanderer für seine Gemeinde haben. Gebildete, ehrgeizige Leute erhofft er sich, Budgetzuteilungen und attraktive blonde Frauen. Was er schließlich bekommt, ist eine Busladung voll atheistischer Rentnerinnen und Rentner, die mit dem Judentum gar nichts am Hut haben, kein Hebräisch sprechen, weiterhin ihre russische Kultur pflegen und komplett unter sich bleiben. Das Viertel, in das sie einquartiert werden, heißt zwar offiziell „Ehrenquell“, hat aber ruckzuck den Spitznamen „Sibirien“ weg.
Die russischen Neubürger bleiben für sich
Nur wenn der zehnjährige Daniel, der (Stief-)Enkel von Anton und Katja, bei seinen Großeltern zu Besuch ist, ist eine Kommunikation zwischen den Neueinwanderern und der übrigen Gemeinde möglich. Der Kleine lebt mit seinen Eltern schon länger in Israel, spricht hebräisch und russisch und kann als Dolmetscher fungieren. Für Bürgermeister Danino und deinen Assistenten, Mosche Ben Zuk, wird das noch wichtig.
Bei Mosche Ben Zuk möge man sich bitte nicht von der Beschreibung „ehemaliger Kibbuznik und ehemaliger Offizier des Nachrichtendienstes“ irritieren lassen: Das ist kein Rentner, das ist noch ein ganz junger Kerl von vielleicht Ende 20.
Ein Geschenk, das keiner braucht
Das Chaos nimmt seinen Lauf, als Jeremiah Mandelsturm, ein vermögender älterer Herr aus New Jersey, an die Gemeindeverwaltung der Stadt-der-Gerechten einen Brief scheibt und in Gedenken an seine verstorbene Frau der Stadt eine Mikwe (ein rituelles Tauchbad) stiften will. Eigentlich braucht die Gemeinde keine, weil es schon genügend davon gibt. Aber weil der Bürgermeister prinzipiell keine Spende ablehnt, wenn er auf weitere hoffen kann, muss jetzt eine Idee her. Mosche hat eine: Sie könnten die Mikwe doch in „Sibirien“ errichten. Dort gibt’s noch keine. Dass die russischen Neueinwanderer auch keine benötigen und nicht mal wüssten, wie man sie korrekt nutzt, steht auf einem anderen Blatt. Bis der reiche Gönner aus Amerika kommt, gehen ja noch ein paar Monate ins Land, und bis dahin wird ihnen schon was einfallen.
Noam, der Bauunternehmer, der eigentlich Araber ist und Naim heißt, wird mit dem Auftrag betraut. Das ist nicht der erste Mikwe, die er baut. Doch dann wird dem Freizeit-Ornithologen sein Hobby zum Verhängnis: Als er in einer Mittagspause sein Fernglas zückt um ein paar graue Kraniche zu beobachten, glauben die Soldaten vom nahegelegenen Geheimen-Militärcamp-das-jeder-kennt, er beobachte sie und verhaften ihn als Spion. Der Bau ruht, und nun ist es an Mosche, dafür zu sorgen, dass die Mikwe termingerecht fertig wird. Er packt kurzerhand selber an.
Clubhaus gewollt, Tauchbad bekommen
Unterdessen glauben die russischen Einwanderer, man baue ihnen endlich das Clubhaus, um das sie schon in –zig Schreiben an das Bürgermeisteramt ersucht haben. Der kulturbeflissene Schlosser Anton, der gar kein Jude ist, sondern nur aus Liebe zu seiner Frau Katja mit nach Israel gekommen ist, träumt von einer Bibliothek, Schachturnieren, Musikabenden und einer Bar, sein kinobegeisterter Kumpel Nikita von Filmen. Als die Arbeiten stocken, versinkt Anton in eine Depression, als Mosche sie wieder aufnimmt, geht es ihm schlagartig besser.
Der Zirkus mit der Mikwe, der verschwundene Bauunternehmer und die latente Unzufriedenheit seines Chefs Danino sind nicht die einzigen Probleme, die Mosche Ben Zuk zu schaffen machen. Seit er als vierjähriger Waisenjunge in den Kibbuz gekommen ist, ist sein Lebensthema, ein „Externer“ zu sein und nirgendwo dazuzugehören. Nicht zu den atheistischen Kibbuzniks, nicht zu seiner Adoptivfamilie, auch nicht zu seinen Kameraden beim Militär oder zu seinen Glaubensbrüdern und –schwestern, nachdem er in einer Lebenskrise zur Religion gefunden hat. Selbst in seiner eigenen Familie kommt er sich fremd vor, so als bildeten seine Frau und seine Kinder eine Einheit und er stünde daneben.
Mosche fühlt sich überall fremd – außer bei Ayelet
Nur einmal im Leben hatte er das Gefühl, zu jemandem zu gehören: zu Ayelet, mit der er vor und während seiner Militärzeit ein Verhältnis hatte. Sie war sechs Jahre älter als er, mit dem Fabrikleiter des Kibbuz verheiratet und war in desolaten Familienverhältnissen aufgewachsen. Sie wusste sehr gut, was es heißt, anders zu sein als die anderen und sich als Außenseiter zu fühlen.
Als die Umstände Ayelet zwangen, ihren Mann zu verlassen und ins Ausland zu gehen, traute sich der junge Mosche nicht, ebenfalls alle Brücken hinter sich abzubrechen und sie zu begleiten. Ob wohl ihn ja eigentlich nichts im Land gehalten hätte. So verlor er die Liebe seines Lebens aus den Augen.
Sieben Jahre ist das jetzt her. Seine verklemmte Ehefrau ist nur ein schwacher Ersatz für diese lebensfrohe Seelenverwandte. Doch der Alltag gewinnt die Oberhand, die Erinnerung an Ayelet rückt in den Hintergrund, und so wundert sich Mosche darüber, dass sie plötzlich wieder seine Gedanken beherrscht. Ist sie denn wieder im Lande?
Die Geliebte kehrt zurück
Ayelet hat nämlich inzwischen ein bewegtes Leben geführt, hat eine Weile in Tokio gearbeitet, ehe es sie für einige Jahre nach Indien und schließlich in die USA verschlug. Eine Zeit im Kloster, eine Drogenkarriere und einige Beziehungen später ist sie plötzlich wieder zurück in der Stadt-der-Gerechten. Auch sie ist inzwischen orthodox geworden, hat ihren Namen geändert, und ist die neue Balanit der „sibirischen“ Mikwe. Mosche trifft fast der Schlag. So sehr er sich auch danach gesehnt hat, seine ehemalige Geliebte wiederzusehen: Will er wirklich, dass sein jetziges Leben komplett auf den Kopf gestellt wird?
Zurückgekommen ist Ayelet, die nun mit einem amerikanischen Geschäftsmann verheiratet ist, weil sich vom Grab eines der hiesigen Zaddikim (sowas wie ein Heiliger), das Wunder erhofft, endlich schwanger zu werden. Dass außer ihrem Ex-Lover Mosche kein Mensch die neue Mikwe bestimmungsgemäß nutzt, verrät sie niemandem. Die Einwanderer ignorieren die Wasserbecken und nutzen das Drumherum als Clubhaus.
Die erstaunliche Wirkung der Mikwe
Auch wenn sämtliche Skeptiker nur müde abwinken: die verstorbenen Zaddikim scheinen tatsächlich Wunder wirken zu können, und einen recht schrägen Humor haben sie offenbar auch. Schlosser Anton bemerkt es als erster: Die Mikwe hat eine gewisse, äh, belebende Wirkung, zumindest auf bestimmte Körperteile. Und als sich das rumspricht, wird sie auf einmal äußerst rege frequentiert, wenn auch nicht religionskonform. Und dann steht auf einmal Jeremiah Mandelsturm, der Mikwenstifter auf der Matte, deutlich früher als geplant ...
Ach, ist das herrlich! Ein Reigen wunderbar chaotischer Figuren, von denen keine ihr Leben auf der Reihe hat. Träume und Sehnsüchte, den Wunsch nach einem Neuanfang oder einer Wiedergutmachung haben sie alle. Sie suchen ihren Platz auf der Welt, ihren Herzensmenschen oder den Sinn des Lebens. Wie sie sich dabei anstellen, das reicht von berührend tapsig über raffiniert schlitzohrig (Noam! Wie der sich aus dem Knast quasselt ...!) bis hinreißend komisch.
Verirrte Vögel auf der Suche
„Lost solos“ heißt der Roman auf Englisch. Dieser Ausdruck bezeichnet Vögel, „die plötzlich weitab ihrer üblichen Zugrouten auftauchen, weit weg von ihrem Schwarm, auf einem fremden Kontinent, als habe sich etwas in ihrem inneren Kompass verschoben.“ (Seite 212) Das passt sehr gut, denn so geht’s auch den Menschen in dieser Geschichte – allesamt verlorene Seelen auf der Suche nach irgendwas oder irgendwem.
Ab und zu wird tatsächlich einer fündig: „Das größte Wunder ist nicht, Wasser aus dem Stein zu schlagen, oder Manna vom Himmel fallen zu lassen, und auch nicht das Zerteilen des roten Meeres, das größte Wunder geschieht vielmehr wenn zwei Menschen sich zur richtigen Zeit begegnen und füreinander ein Ort werden, der richtige Ort, einer für den andern.“ (Seite 300)
Skurrile Charaktere, ein subtiler Humor, große Gefühle, die eine oder andere kluge Erkenntnis und ein geradezu märchenhafter Schluss – das Buch ist rundum ein Vergnügen. Ein kleines Glossar wäre allerdings nicht schlecht gewesen. Die russischen Vokabeln, die die Gespräche der Einwanderer sprenkeln, kann man sich noch irgendwie zusammenreimen. Aber weiß man, wenn man mit dem (orthodoxen) Judentum noch nie etwas zu tun hatte, was genau ein Zaddik ist, was man in einer Mikwe zu tun hat oder was die Aufgaben einer Balanit sind? Natürlich kann man googeln, wenn man mehr wissen will. Aber wenn das Buch selber schon eine knappe Erklärung zentraler aber nicht allgemein bekannter Begriffe liefert, ist das immer ein netter Service.
Der Autor
Eshkol Nevo, geboren 1971 in Jerusalem, gehört heute zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes. Sein erster Roman ›Vier Häuser und eine Sehnsucht‹ stand 2005 auf der Shortlist des bedeutendsten Literaturpreises in Israel, dem Sapir Preis, 2008 wurde er in Frankreich mit dem Raymond Wallier Preis des Salon du Livre ausgezeichnet, 2009 war er auf der Longlist des Independent Prize. ›Wir haben noch das ganze Leben‹, sein zweiter Roman (Golden Book Prize, Israel 2007, Adei Wizo Preis, Italien 2011), war nicht nur in Israel, sondern auch in Deutschland ein Bestseller. Sein jüngster Roman ›Neuland‹ verkaufte sich in Israel über 130.000 Mal und gewann 2012 als »Book of the Year« den Steimatzky Preis. Eshkol Nevo lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Ra’anana / Israel.
Die Übersetzerin
Anne Birkenhauer, 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik und lebt seit 1989 in Jerusalem. Ihre Übersetzungen wurden vielfach ausgezeichnet. 2014/15 hatte Anne Birkenhauer die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Bern inne.