Originaltitel: Boy
Klappentext:
Ein Paar adoptiert einen Jungen aus einem afrikanischen Land. Sie sind unsicher, doch voller Hoffnung. Sie wollen diesem Kind eine Welt eröffnen, alle Zoos und Vergnügungsparks besuchen. Aber ihr Sohn ist nervös, ängstlich, durch Kleinigkeiten zu verstören. In der Schule wird er zum Außenseiter. Seine Eltern bemühen sich, aber seine Höflichkeit verwandelt sich in Unnahbarkeit, bis er sich schließlich ganz verabschiedet.
Über die Autorin:
Wytske Versteeg, geboren 1983, ist Politikwissenschaftlerin und Essayistin und hat sich länger mit dem Thema Obdachlosigkeit befasst. Boy ist ihr zweiter Roman. Ebenso wie ihr Debüt preisgekrönt, wurde er bereits in mehrere Sprachen übersetzt.
Meine Eindrücke:
Boy ist tot. Er war verschwunden, nun gibt es Gewissheit. Boy war vierzehn, ein Junge an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ein afrikanisches Adoptivkind, das nicht in seinem neuen Leben in Europa angekommen ist, irgendwie immer fehl am Platz, Mobbingopfer und traumatisiert vom Wissen, den Tod bringen zu können. Boys leibliche Mutter ist bei seiner Geburt gestorben.
Am Beginn des Buches erfährt die Adoptivmutter, dass die Leiche ihres Sohnes angespült wurde. Es wird auch eine Art Abschiedsbrief gefunden; die Polizei geht von Selbstmord aus.
Wie konnte es dazu kommen?
Die Autorin bricht mit Tabus; sie thematisiert Unfruchtbarkeit, ungewollte Kinderlosigkeit, die Tatsache, dass Adoptionen auch misslingen können, obwohl anscheinend beste Voraussetzungen vorliegen, und dass sich auch mit noch so viel gutem Willen Bindungen nicht unbedingt aufbauen lassen, die Trauer und Wut nach einem schlimmen Verlust. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, mit Andersartigem umzugehen. Wer anders ist, läuft Gefahr, gemobbt zu werden. Boys Hautfarbe ist dabei ein eher kleiner Teil des Problems. Die Erzählerin, Boys Adoptivmutter, ist Psychiaterin und zu nah und gleichzeitig zu weit weg, um Boy zu helfen. Überhaupt ist sie weit weg, aber sie ist eine hervorragende Beobachterin und Analystin und hält mir als Leserin einen Spiegel vor: Zum Beispiel wie Fremde immer einen Moment brauchen, um zu erfassen, dass sie und der schwarze Junge zusammengehören und dass das Kind vermutlich kein leibliches ist, wie sie einen weiteren Moment brauchen, um den Entschluss, sich nichts anmerken zu lassen, umzusetzen.
Boys Mutter will herausfinden, was passiert ist. Die Letzte, die den Jungen lebend gesehen haben soll, ist eine Lehrerin, die inzwischen ausgewandert ist und ein neues Leben begonnen hat. Die Mutter folgt ihr, um sich zu rächen. Rache scheint das Einzige, das die Leere in ihr füllen kann.
Was sie findet, ist so etwas wie die Wahrheit. Hart und ungeschminkt.
Zitat (S. 39): "Das Problem bei einer Adoption ist, dass man eine Wahl hat, die einem eigentlich gar nicht zusteht. Soll es ein Junge sein oder ein Mädchen? Wie alt darf das Kind sein? Darf es eine Behinderung haben? Und wenn ja, welche und wie schlimm? Wir hatten unsere Wahl getroffen, und das war keine vierzehn Jahre später das Ergebnis: ein freundlicher, verlegener, weicher Junge, der immer höflich war und im wahrsten Sinne des Wortes keinen Mucks machte."
Hätte es Rettung für Boy geben können? Die Frage bleibt offen und lässt Raum zum gründlichen Nachdenken.
10 von 10 Punkten.