Schreibwettbewerb Juni - August 2016 - Thema: "Wow-Effekt"

  • Thema Juni - August 2016:


    "Wow-Effekt"


    Vom 01. Juni bis 31. Juli 2016 - 18:00 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Juni - August 2016 zu o.g. Thema per Email an schreibwettbewerb@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 1. August eingestellt. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!



    Achtung: Achtet bitte auf die Änderungen! Annahmeschluß ist ab sofort immer am Monatsletzten um 18:00 Uhr und die e-mail Adresse hat sich wie folgt geändert - schreibwettbewerb@buechereule.de

  • von Marlowe



    Will, mein bester Freund, schaute anzüglich auf seine Uhr, als ich im Laufschritt antrabte. „Sorry,“ japste ich, „bin spät dran, ich weiß.“ Großmütig winkte er ab. „Schon gut, gehen wir los.“


    Wir marschierten also sofort weiter Richtung Stadthalle, beide voller Vorfreude auf das alle zwei Jahre stattfindende Fest der „Fat Rats“ mit ihrer Wahl der Ratqueen. Fat Rats, das waren die Frauen, die sich kategorisch jedem Schlankheitswahn verweigerten und damit jeder Diät und Kritik an ihrer Körperfülle eine Absage erteilten. Sie verstanden das als Protest gegen sexistische Vorschriften der Werbe-, Mode- und sonstiger Industrie. Auf ihren ersten Bannern damals standen so Sachen wie “To eat is The Beat“ oder “Miss Piggy is better than Twiggy“.


    Damals meinte Willi, sie hätten auch “Hungern ist Frust – Fressen unsere Lust“ schreiben können. Sicher hatte er Recht, aber den Zuschauern war eigentlich egal, was der wahre Grund für diese Treffen waren, wichtig war nur der Spaß an dieser Veranstaltung und dass sie von den bekannten Fastfood-Ketten, der Konditorenvereinigung und anderen Dickmacherlieferanten gesponsert wurde. Ein Fest also für die Augen, den Mund, den Magen.


    Auf dem freien Gelände neben der Stadthalle war diesmal sogar ein riesiges Zelt aufgestellt worden. Von allen Seiten strömten die Menschen herbei und da wir doch noch etwas Zeit hatten, gingen wir erst einmal dorthin und folgten somit zwei mehr als molligen Damen, die ebenfalls dorthin strebten. Sie wurden bereits von einer Frau erwartet. Aber was heißt hier Frau - sie war ein Koloss, ein Berg. Ein Fettberg auf zwei Beinen mit einem bestimmt hübschen, aber in die Breite gegangenen Gesicht, aus dem ein Lächeln den beiden Frauen vor uns entgegen strahlte.


    Dieses Zusammentreffen kam für mich völlig unerwartet, schon standen wir direkt vor ihnen und ich konnte nicht anders, ich starrte diesen weiblichen Berg voller Bewunderung an. Meine Fresse, dachte ich und was mir sonst noch für Bilder dabei durch den Kopf liefen, verschweige ich lieber.


    Mein ehrfürchtiges Starren blieb nicht unbemerkt. Sie funkelte mich mit Augen wie Lasergeschütze an, ihr Mund öffnete sich wie das Tor zu einem Hangar und sie fragte: „Ist was, Stangenspargel?“ Ich schluckte, japste erneut nach Luft und antwortete ohne Nachdenken: „Ich schwöre, Sie sind mit Abstand die fetteste Ratte, die ich je hier gesehen habe.“ Ich wollte noch hinzufügen, dass sie ganz sicher meine Zuschauerstimme für die Wahl der Rattenkönigin bekommen würde, aber sie war trotz ihrer Masse zu schnell für mich.


    Unter allen bestimmt hart antrainierten Fettschichten waren auch Muskeln verborgen. Ich hatte das Zupfen meines Freundes Willi an meinem Ärmel ignoriert, das rächte sich jetzt. Ihre rechte Handfläche traf mich seitlich am Kopf mit der Gewalt eines Steinschlags, aus heiterem Himmel und mit aller Wucht. Ich ging sofort zu Boden und fragte mich noch, was aus mir werden würde, wenn dieser Berg sich auf mich stürzte. Meine Augen tränten, doch dann konnte ich endlich, auf dem Boden liegend, wieder etwas sehen.


    Drei kräftige Rücken und das Banner über dem Zelteingang. Auf allen stand: Weight Watchers – feel good.

  • von Inkslinger



    Ich stehe hier und starre in die Tiefe. Die türkise Wasserfläche liegt majestätisch da und wartet begierig darauf, mich zu verschlingen. Felsen strecken keck ihre Spitzen hervor und verstecken sich im nächsten Augenblick wieder. Sie wollen mich narren und Sicherheit vorgaukeln, wo keine zu finden ist.
    Über mir wird der babyblaue Himmel durch irrwitzig geformte Wolken aufgehübscht. Vögel krächzen in der Ferne, nur Echos ohne Gesicht.


    Zum wiederholten Male frage ich mich, wie ich hier her gekommen bin. Natürlich ist ein Mann an meiner Situation beteiligt. Wegen ihm stehe ich hier, zwischen Himmel und Hölle, nirgends ganz da. Zwei Schritte.
    Mein Herz tanzt Polka und lässt meine Extremitäten erzittern.


    Ich war nie ein mutiger Mensch. Heute bereue ich es, nicht mindestens einmal bis zu der höchsten Stelle des Eiffelturms geklettert zu sein, damals auf unserer Klassenfahrt nach Paris. Der Anblick von dort oben hätte mich vielleicht auf das hier vorbereiten können. Obwohl die Dächer der Franzosen und ihre Ameisen-Ichs nichts im Vergleich zu so einer gewaltigen Natur sind. Ein Schritt noch.


    Ob ich viel von einem Aufprall merke? Vielleicht werde ich ja ohnmächtig bevor ich unten ankomme. Die Highlights meines Lebens ziehen in meinem inneren Kino vorbei. Viel hab ich nicht erlebt, aber schön war es trotzdem. Meistens.


    Dieser verfluchte Mario! Wieso habe ich mich bloß auf ihn eingelassen? „Du bist mir zu langweilig. Ich gehe zu Rebecca, die springt jedes Wochenende aus dem Flugzeug!“ Blöde Rambo-Rebecca!
    Wie in Zeitlupe hebe ich meinen Fuß und setze ihn über den Abgrund. Ich denke noch: „Heute ist es eigentlich viel zu warm für sowas.“ Dann falle ich.


    Mein Magen stülpt sich über mein Herz. Die anderen Organe nutzen die Gelegenheit und arrangieren sich ebenfalls um. Ein Schrei schallt durch die Luft und es dauert ein paar Sekunden bis ich checke, dass der von mir kam. So etwas Schreckliches und irgendwie gleichzeitig Schönes ist mir noch nie passiert. Das Wasser kommt unaufhaltsam näher und ich kann den Fischen schon beinahe in die Augen sehen.


    Ein plötzlicher Ruck bremst meinen Fall und schleudert mich einige Meter nach oben. Über mir schreit der Bungee-Typ: „Gut gemacht! Schön locker bleiben.“
    Ich wünschte, Mario könnte das hören. Ein Lob fürs Hüpfen von einem Profi! Wenn ich meine Unterhose gewechselt habe rufe ich ihn gleich an.

  • von Andromeda



    Ohio, Big Ear, SETI-Projekt, 15. August 1977, 23:16 Uhr Ortszeit
    Jerry Ehman lehnt sich hinüber zum Drucker seines Radioteleskops und fährt hoch wie von der Tarantel gestochen: eine ungewöhnliche Aufzeichnung entsteht in diesem Moment, ein Signal, wie er es noch nie zuvor gesehen hat. 72 Sekunden Hochspannung, dann erlischt das Signal. Aufgeregt reißt Ehman den Papierstreifen ab, beginnt zu analysieren, markiert die merkwürdigen Zahlen und schreibt in seinem Enthusiasmus ein dickes rotes „Wow!“ an den Rand. Doch rasch breitet sich Resignation in ihm aus, denn er muss erkennen, dass der Breitbandempfänger des Teleskops zu schwach war, um die Signale so aufzuzeichnen, dass man sie irgendwie interpretieren könnte...


    Hawaii, Biggest Ear Ever, SETI-Projekt, 2. Juli 2137, 12:01 Uhr Ortszeit
    Widerwillig stöpselt Kaleo seinen privaten Laptop aus der Rechenanlage des Radioteleskops und reißt sich damit aus seinen ebenfalls privaten Forschungen über die Geschichte der Luftfahrt. Wie kurz die Mittagspause wieder war! Andererseits ist das Projekt, das ihm sein Chef heute übertragen hat, auch nicht uninteressant. Die Daten alter Seti-Untersuchungen soll er sichten und aufbereiten. „Zur Überbrückung der Wartezeit auf neue Signale“, sagte sein Chef mit einem Schmunzeln und packte ihm ein Riesengebirge aus Datenträgern auf den großen Arbeitstisch.


    Kaleo greift sich Nummer Fünf, vier hat er bereits ohne Ergebnisse durchgesehen. Kein Wunder, die stammen alle aus dem 20. Jahrhundert, was hätten die damals mit ihrer primitiven Technik schon groß empfangen können. Trotzdem sieht er die Auflistung der Daten durch, Job ist Job. Sein Blick fängt sich am Dateinamen „Wow-Signal“. Das klingt dann doch einigermaßen vielversprechend. Er speist die Daten in die Anlage und überfliegt die Angaben. Aha, ein merkwürdiges Signal, empfangen Ende der Siebziger des 20. Jahrhunderts, nicht interpretierbar. Kaleo startet das Prüfprogramm und lässt beinahe seinen Kaffeebecher fallen, als der Computer kurz darauf verkündet „All parameters positive“. Eindeutig ein außerirdisches Signal, aus den Tiefen des Weltraums. Ja, verständlich, dass man die Daten damals nicht brauchbar fand. Kein Zweifel, die Signale gingen durch eine Raumfalte, wurden komprimiert und dadurch für die damaligen Möglichkeiten unleserlich gemacht. Mit heutiger Technik relativ einfach aufzulösen. Hastig programmiert er die nötigen Sequenzen, wartet ungeduldig die zehn Sekunden, die die Anlage zur Entschlüsselung braucht. Dann starrt er ungläubig auf den Bildschirm, flüstert: „Aber das sind doch … Morsezeichen? Morsezeichen!“ Er lässt einen neuerlichen Prüfvorgang laufen, doch das Ergebnis deckt sich mit dem ersten. Das Signal stammt unzweifelhaft aus dem All.


    Beinahe zögernd ob der Unglaublichkeit der Entdeckung gibt er dem Computer den Befehl, die Zeichen in Sprache zu übersetzen. Eine Sounddatei entsteht, unvollständig, das sieht er schon, aber dennoch, vielleicht entzifferbar und verständlich. Mit zitternden Fingern startet er die Wiedergabe und hört fassungslos die Botschaft aus Raum und Zeit, durchbrochen von weißem Rauschen: „Mayday, Mayday ..... kidnapped by Aliens ….. lightyears away ….. very strange planet ….. please try contact ….. name ….. Amelia Earhart“.

  • von Sinela



    Ohne anzuklopfen stürmte Leonie in das Zimmer ihrer Schwester Sandra, welche ungehalten von dem Buch, das sie gerade las, aufblickte.
    „Habe ich dir nicht schon tausendmal gesagt, dass du anklopfen sollst?“
    „Sie kommen, sie kommen wirklich ...“
    „Jetzt beruhige dich mal. Wer kommt?“
    „WOW geben am 31.07. ein Konzert in der Olympiahalle.“
    „Das ist nicht jetzt nicht wahr, oder?“
    „Doch,wenn ich es dir sage, hier steht es schwarz auf weiß.“
    Leonie wedelte mit der Zeitung vor ihrer Schwester herum.
    „Das ist der Wahnsinn, da muss ich auf jeden Fall hin!“
    „Was heißt hier du musst hin, wir müssen da hin!“
    „Ja, ja, ist schon klar. Oh mein Gott, ich werde Donnie sehen!“
    „Also ich gehe wegen der Musik auf das Konzert.“
    Die Schwestern schauten sich an und brachen in lautes Lachen aus.
    „Los komm, lass uns überlegen wie wir unsere Eltern überzeugen können, dass sie uns auf das Konzert lassen. Und wo um Gottes Willen sind meine Rollerblades?“



    „Jetzt kommt endlich, wir kommen noch zu spät!“
    Sandra sah missmutig zu ihrer Schwester hinüber, die auf ihren Rollerblades nicht gerade die beste Figur machte.
    „Vielleicht hättest du in den vergangenen Wochen ein bisschen üben sollen. Ich blamiere mich ja mit dir auf dem Konzert.“
    „Nun mecker nicht, hilf mir lieber!“
    Sandra verdrehte die Augen, rollte aber zu ihrer Schwester hinüber und nahm sie an der Hand.
    „Oh man, hoffentlich sieht mich jetzt niemand, wie ihr mit dir Händchen halte.“
    „Hätte ich gewusst, dass du dich so verhälst, dann hättest du dir dein WOW-Outfit selbst nähen können.“
    Verlegen schaute Sandra zu Boden. Es war ihr peinlich, dass sie mit ihren 15 Jahren nicht in der Lage gewesen war, das selbst zu tun. Aber nähen lag ihr einfach nicht. Ihre um ein Jahr jüngere Schwester hingegen war ein wirkliches Ass in dieser Hinsicht.
    „Du hast ja recht, entschuldige bitte. Die Klamotten sind echt klasse geworden. Ich bin ja mal gespannt, ob die anderen sich auch entsprechend angezogen haben.“
    „Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir das nicht erfahren, denn dann stehen wir vor verschlossener Tür.“
    „Du hast ja recht, los geht es!“



    Passanten blieben stehen und schauten staunend den vielen Jugendlichen hinterher, die sich auf Rollerblades in Richtung Olympiahalle bewegten. Ihre Zauberumhänge flatterten im warmen Sommerwind, welcher den einen oder anderen spitzen Hut vom Kopf seines Besitzers wehte. Diese rollten ihm dann lachend hinterher um ihn wieder einzufangen.
    „Wie seht ihr denn aus?“
    „Hey Opa, wir gehen zum Konzert von 'Wizards On Wheels', da ist dieses Outfit Pflicht, wenn man ein echter Fan ist!“
    Und schon rollten sie weiter, Sandra und Leonie mittendrin. Das würde ein toller Abend werden.

  • von Suzann



    Der Blick in strahlend blaue Augen entlockte ihm ein verblüfftes „Wow“. Hatte er das laut ausgesprochen? Er suchte in dem von lockigen Haaren umrahmten Gesicht seines Gegenübers nach einem Hinweis, ob er sich wirklich zum Affen gemacht hatte. Der fragende Blick und die leicht gerunzelte Stirn konnte auf vielerlei Arten gedeutet werden. Er hatte noch nie so eindrucksvolle Augen gesehen. Die Iris hatte die Farbe eines aquamarinfarbenen Kristalls in einem schmalen, ausgefransten Rahmen. Wenn man genau hinsah, saugten einen die hellen wirbelnden Muster darin in die unendlichen Tiefen eines wolkigen Himmels. Er hatte nicht gewusst, dass es solche Augen überhaupt gab. Und der Kontrast zu dem dunklen Haar war atemberaubend.


    Ratlos blickte er vor sich auf die Dinge, die er auf seinem Parcour durch den Supermarkt in den Wagen geworfen hatte, dann auf die kühle Butter in seiner Hand. Er hatte sie gerade auf das Band legen wollen, als er von diesen Augen in eine andere Dimension gebeamt worden war. Was könnte er jetzt sagen, um eine Verbindung herzustellen, die ihm Aussichten auf eine Verabredung verschaffen würde? Er war so ungeschickt darin Leute anzusprechen. Ein Ohrwurm von Cro kam ihm in den Sinn. „Bitte komm, sprich sie an, das ist das Schönste, was du je gesehen hast und da ist sicherlich kein Mann, stell dich nicht so an, wenn nicht jetzt, wann dann?“


    Ein ungeduldiges Räuspern holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Hastig sah er sich um, niemand war zu sehen. Hätte ihn auch gewundert, um diese Zeit war der Supermarkt normalerweise wie ausgestorben. Das war schließlich der Grund, warum er gerade jetzt hier war, gegenüber diesem unwirklichen Wesen in einer schwarzen Schürze mit dem bunten Logo einer Supermarktkette. Sie waren alleine. „Sorry“, unterbrach er den Redeansatz seines Gegenübers. Jetzt war es an ihm sich zu räuspern. Schließlich fing er einfach zu singen an, erst leise und stockend, dann immer sicherer: „Bye bye, bye bye meine Liebe des Lebens. Wir beide werden uns nie wieder sehen. Kann schon sein, dass man sich im Leben zweimal begegnet, doch es beim zweiten Mal dann einfach zu spät ist.


    Über das Gesicht mit diesen verstörenden Augen huschte wie bei einer Diashow schnell wechselndes Mienenspiel. Erstaunen, Verwirrung, Belustigung, Interesse, Argwohn, Neugier. Er spürte, wie er rot anlief und blickte peinlich berührt auf das Butterstück, das er gerade in seiner Hand vergewaltigte. Geschlagen legte er den verformten Butterbarren auf das Band, als er eine tiefe Stimme in einem unmöglichen Dialekt sagen hörte: "I mach um ölfe Feieramd. Wen´st me oholst, kimma zsama oan dringa gehn."

  • von Jeanette



    Das goldblonde Haar fällt ihr lockig über die Schultern. Das knallrote Minikleid betont ihre schlanke Figur, die an den richtigen Stellen wohlgeformte Rundungen besitzt. Für einen Moment ruhen meine Augen fasziniert auf dem verdammt tiefen Ausschnitt. Dann wandern sie hinunter über die langen Beine bis zu den Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen.


    Da! Diese Schönheit hat meinen Blick bemerkt. Sie wendet mir ihr makelloses Gesicht zu. Im Vorbeistöckeln lächeln ihre roten Lippen mich betörend an. Ihre grünen Augen scheinen zu sagen: Ich gefalle dir, hm? Los, ich will ein ‚WOW‘ hören!


    Ich werfe einen raschen Blick zu meiner Frau hinüber. Sie sieht mich streng an und zieht die Brauen hoch. Alarm! Sofort ist der Zauber verflogen. Ich brauche keine aufgetakelte Tussi, die jeden Tag Stunden im Bad verbringt. Ich möchte nur meine liebe Frau. Schnell lege ich ihr die Hand auf den Oberschenkel. Sie quittiert es mit einem gnädigen Nicken.


    Madame Stöckelschuh dreht sich im Gehen nochmal zu mir um. Na los! Sag es! Ich schüttele entschlossen den Kopf. Jetzt liegt ihr Blick irgendwo zwischen Enttäuschung, Fassungslosigkeit und Wut. Hätte sie lieber auf den Weg geachtet, denn Unheil naht in Gestalt eines Gully Deckels. Mitten in Madames trotziger Haare-nach-hinten-werf-Bewegung nähert sich ihr spitzer Absatz einem der Löcher. Wie in Zeitlupe sehe ich ihn hineinrutschen. Sie schwankt. Und fällt. Plumpst reichlich unelegant mit dem Hintern voran in eine Pfütze. Ihr spitzer Schrei lässt meine Ohren klingeln. Jetzt liegt sie wie ein Käfer auf dem Rücken und zappelt.


    Meine Frau und ich eilen zu Madame. Die ignoriert meine dargebotene Hand jedoch ebenso wie die besorgten Fragen meiner besseren Hälfte. Stattdessen springt Madame Stöckelschuh auf, so schnell ihr abgebrochener Absatz es erlaubt. In ihrem Dreckwasser-verzierten Kleid humpelt sie davon. Wir sehen ihr nach und versuchen krampfhaft, unser Lachen zu unterdrücken. Ein Glucksen entschlüpft der Kehle meiner Frau. Da ist alles zu spät. Wir lachen, bis uns die Augen tränen. Jahrelang haben wir auf diesen Moment gewartet und jedes Mal, wenn wir eine Frau in abartig hohen Schuhen gesehen haben, daran gedacht. Und jetzt? Jetzt sage ich es: „WOW, wie elegant!“

  • von Rumpelstilzchen



    „Sag das nochmal“. Offensichtlich war es mir gelungen, meine Schwester zu verblüffen. Ich, die brave große Schwester, die immer tat, was man von ihr erwartete.


    Wir saßen in unserem Elternhaus. Vor drei Tagen hatten wir Mutter beerdigt und seitdem waren wir beschäftigt, die Sachen auszusortieren, die wir behalten wollten. Den ganzen Abend hatten wir mit Erinnerungen verbracht. Was für ein Glück es für Mutter gewesen war, die letzten zehn Jahre so leben zu können, wie sie es wollte. Nachdem sie ihr Leben mit einem tyrannischen, cholerischen Ehemann zugebracht hatte. Wir Töchter waren so früh wie möglich aus dem Haus gegangen. Keine von uns hatte verstanden, warum Mutter sich nie dazu hatte durchringen können, ihren Mann zu verlassen.


    Vater war schon lange dement gewesen, als Mutter wegen eines bösartigen Tumors ins Krankenhaus musste. Mich erkannte er gar nicht mehr, meine Schwester nur an guten Tagen. Das Pflegeheim, in dem er angemeldet war, konnte ihn erst wenige Tage nach Mutters Krankenhauseinweisung aufnehmen und so wechselten wir uns mit seiner Betreuung ab. Keine Sekunde konnte man ihn alleine lassen. Eher harmlos war, dass er ständig alle Wasserhähne im Haus aufdrehte und das Wasser stundenlang laufen ließ. Schlimm war seine Begeisterung für Feuer. Wann immer man ihn suchte, hockte er im Wohnzimmer vor dem Kaminofen und versuchte, das Anmachholz anzuzünden. Streichhölzer waren seit Jahren aus dem Haus verbannt, genauso wie Kerzen und Feuerzeuge. Dennoch gelang es ihm immer wieder, unbemerkt Streichholzbriefchen einzustecken und zu zündeln.


    Er hatte einen ganz schlechten Tag, als ich an der Reihe war, mich um ihn zu kümmern. Schlaf brauchte er fast gar nicht mehr und so tappte er die ganze Nacht umher. Treppauf, treppab. Vater suchte nach seiner Frau. Kaum hatte ich ihm erklärt, sie sei im Krankenhaus und müsse operiert werden, sprang er auf und suchte sie in allen Räumen. Laut rufend und schimpfend. Als er feststellte, dass die Haustür abgeschlossen war, begann er zu randalieren.


    Ich versuchte es mit Frühstück, hatte Kaffee gekocht, ein Brötchen geschmiert und in kleine Stücke geschnitten.


    Mit einer ungeduldigen Bewegung fegte er Tasse und Teller vom Tisch, brüllte, weil ihm der heiße Kaffee die Oberschenkel verbrüht hatte und stürzte aus dem Wohnzimmer. Er stand an der Kellertreppe, als ich die Scherben aufgesammelt hatte und sie in die Küche trug. „Margret, wo bist du?“ Die ganze Nacht hatte ich diese Frage gehört. Geschrien, gebrüllt, geflüstert, gewimmert. Immer wieder. Auch an der Kellertreppe wiederholte er immer wieder. „Margreeet“. Als ich mit dem Tablett voller Scherben aus dem Wohnzimmer kam, ging erst ein hoffnungsvolles Aufleuchten über sein Gesicht. Dann verzog er wütend den Mund: „Du bist nicht Margret, was machst du in meinem Haus, verschwinde.“ Er hob den rechten Arm, wollte auf mich losgehen.


    Es war nur eine ganz leichte Berührung. Er verlor das Gleichgewicht, taumelte, versuchte, sich am Treppengeländer festzuhalten, verpasste es jedoch und stürzte die Treppe hinunter.


    „Ich habe mich immer gewundert, dass nie jemand an einem Unfall gezweifelt hat.“ Das hatte ich zu meiner Schwester gesagt.