Alice Munro: Ferne Verabredungen. Die schönsten Erzählungen
Verlag: S. FISCHER 2016. 448 Seiten
ISBN-13: 978-3100024848. 22,99€
Übersetzerin: Heidi Zerning
Verlagstext
Die in „Ferne Verabredungen“ versammelten schönsten Erzählungen der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro, darunter auch, erstmals auf Deutsch, ihre frühe Erzählung „Die Dimensionen eines Schattens“, spiegeln das ganze Panorama ihrer Kunst. Da ist die junge Pauline in der berühmten Erzählung „Die Kinder bleiben hier“, die Hals über Kopf ihre Familie verlässt, oder der fürsorgliche, wenn auch untreue Ehemann in „Der Bär kletterte über den Berg“, dem die Veränderung seiner Frau zu schaffen macht. - Es sind Geschichten von verborgenen Sehnsüchten, die sich allmählich ihren Raum erobern, scheinbar belanglosen Ereignissen, die doch ein ganzes Dasein infrage stellen, Geschichten vom Unterwegssein, von kühnen Momenten des Ausbrechens - mal eindringlich, mal beunruhigend, doch immer voller Sympathie für das Leben und seine Helden.
Die Autorin
Alice Munro, geboren 1931 in Wingham, Ontario, ist eine der bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Sie erhielt 2013 die höchste Auszeichnung für Literatur, den Nobelpreis. Ihr umfangreiches erzählerisches Werk wurde bereits zuvor mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Giller Prize, dem Book Critics Circle Award und dem Man Booker International Prize. Alice Munro lebt in Ontario, Kanada.
Inhalt
Die Erzählungen dieses Bandes stammen aus Family Furnishings. Selected Stories 1995-2014, Alfred A. Knopf 2014, zusätzlich ist von 1950 die kurze frühe Erzählung enthalten „Die Dimensionen eines Schattens“, die hier auf Deutsch zum ersten Mal in Buchform erscheint. Deutsche Leser finden damit sechs längere Erzählungen Munros (50 bis 70 Seiten Umfang), von denen jede aus einem anderen in Deutschland erschienenen Erzählband stammt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man noch nicht alle Erzählungen kennt, ist also hoch.
In „Jakarta“ erzählt Munro von der Situation ihrer eigenen Frauen-Generation während die Kinder noch klein waren. Zwei Freundinnen beobachten andere Mütter und deren lautstarkes, demonstratives Muttersein. Sonje hat von ihrem Mann mitgeteilt bekommen, welche Romane sie als seine Ehefrau zu lesen hat und trägt ihre Pflichtlektüre brav mit an den Strand. Ohne Wissen ihres Mannes leistet sie sich allerdings den Luxus eines eigenen Geschmacks und liest zwischendurch Texte, die sie interessieren. Die Handlung spielt zur Zeit des Kalten Krieges, als die Bewertung von Ost und West, Gut und Böse nach einfachen Mustern erfolgte. Frauen sollten möglichst vor dem 25. Lebensjahr verheiratet sein und bald Kinder bekommen. Schwangere dagegen waren Kunden nicht zuzumuten und wurden zur freiwilligen Kündigung gedrängt.
In "Die Kinder bleiben hier" gibt der Schwiegervater seinem Sohn und der jungen Mutter Pauline seine Vorstellungen von Elternschaft vor. Brians und Paulines Urlaube mit den Eltern sind eine Fortsetzung von Brians Kindheit. Kritik am Großvater darf es nicht geben. Konflikte mit dem Sohn werden in dieser Familie nicht direkt und auf Paulines Kosten ausgetragen, Freiräume, die Pauline sich durch ihr Laientheaterspiel zu verschaffen sucht, vom Ehemann unsensibel zerstört. Pauline erlebt Liebe zu etwas und jemand Unvorsehbarem und opfert dafür ihre Kinder.
In „Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit“ wird die verschachtelte Beziehung zwischen einem Paar erzählt, das Betrüger und Betrogener zugleich ist und eine sehr eigenartige Zweckbeziehung eingeht.
Fiona und Grant in "Der Bär kletterte über den Berg" sind ein altes Paar, das mit der psychischen Auffälligkeit oder beginnenden Demenz der Frau fertig werden muss. Sehr anrührend wird hier die Frage aufgeworfen, wie relativ Leiden ist und wie schwer es wiegen würde, rechnete man derzeitiges Leiden auf die gemeinsam gelebte Zeit um.
In „Bald“ kehrt eine junge Frau 1969 in ihr Heimatdorf zurück und muss sich Veränderungen im Haushalt ihrer Eltern stellen. Sie selbst lebt inzwischen Werte, die von ihren Eltern und deren Umfeld abgelehnt werden. Ihr Wunsch, das Elternhaus und ihren intensiven Vater-Tochter-Bund unverändert wie in ihrer Kindheit zu erleben, erweist sich als kindliche Vorstellung.
Mit Figuren, die aus dem Krieg zurückkehren oder von der Wirtschaftskrise betroffen sind, lassen sich einige Geschichten Munros der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit zuordnen. Während Männer im Krieg sind, müssen Frauen sich nicht für ihr Alleinleben oder ihr Selbstbewusstsein rechtfertigen und haben die Chance, Neues zu riskieren. Auch Heimkehrer (wie in "Zug") nutzen die Möglichkeit zum Neuanfang mit einer neuen Identität.
Munros frühe Erzählung "Die Dimensionen eines Schattens" erzählt von einer besonderen Beziehung zwischen einer Lehrerin und ihrem Schüler - und lohnt sich unbedingt zu lesen.
Munros Themen sind Lebensverhältnisse kanadischer Frauen und Mädchen in den 50ern bis 70ern. Mit fein beobachteten Alltagszenen wirft die Autorin die Frage auf, welche Zugeständnisse Frauen für ihre Vorstellung von Glück machen, was sie aufgeben für Vernunftbeziehungen, mit denen sie ihren Unterhalt und die Versorgung ihrer Kinder sicherstellen. Aufbruch, Trennung und Neuorientierung waren in den 60ern und 70ern charakteristische Themen.
Alice Munro erzählt auf wenigen Seiten ein ganzes Leben, hat Jonathan Franzen treffend über seine kanadische Kollegin festgestellt. Wer sich intensiv mit Munros Werk befasst, wird darin als biografischen Bezug zu ihrem eigenen Leben die unangepasste Frau finden, um die wegen ihres Schreibens oder ihrer nicht rollenkonformen Interessen befürchtet wird, dass sie keinen Mann finden wird. Für die biografischen Bezüge muss man sich nicht interessieren; meine Lektüre der Erzählungen Munros haben diese Verknüpfungen in Wozu wollen Sie das wissen? Elf Geschichten aus meiner Familie erheblich bereichert.
10 von 10 Punkten