'Feine Leute' - Seiten 094 - 170

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    Original von binchen



    Die Bedrohung durch den §175 wird hier in Berlin ja wohl fast aufgehoben - ist das wirklich so plausibel? Immer die Bedrohung - ... das kann sich ja auch schnell ändern, wie man ein paar Jahre später so merkt ...


    Das ist eine wirklich Gute Frage, die mich selbst auch lange beschäftigt hat und immer noch beschäftigt. Für Paul gilt natürlich, dass 175 für ihn doppelt bedrohlich ist 1) weil es ein Verbrechen ist dagegen zu verstoßen und 2) weil er Polizist ist und Polizisten natürlich besonders männlich zu sein haben. Das ist ja noch heute ein echtes Problem - schwule Polizisten gibt's ja bekanntlich genauso wenig wie schwule Fußballstars oder schwule Offiziere... Für Künstler gelten da andere Regeln - ist ja auch heute noch so, deshalb kann Viktor Klingenberg relativ entspannt an die Sache rangehen (was die soziale Komponente angeht), während Paul sich ja gern Kapp gegenüber als "ganzer Mann" präsentiert, um nur jeden Zweifel gleich im Keim zu ersticken und ja auch als Freiteitsport die Männerkategorie Boxen gewählt hat ( gut, war damals auch in Mode, aber trotzdem ;))


    Das mal zur sozialen Komponente, die rechtliche war eine andere, die kommt gleich. Ich muss kurz mal nach dem Kleinen schauen, der schimpft ;)

  • Der Papa hat ihn schon wieder zum Schlafen gebracht ;) Also zum rechtlichen Aspekt, der war in den Zwanzigern ein bisschen komplexer. Prinzipiell galt, wo kein Kläger da kein Richter, so dass man in der künstlerszene beispielsweise recht offen damit umging. Zum Beispiel über Gründgens hieß es im Volksmund: Die Gründgens, die Gründgens, die haben keine Kindgens und das hat seine Gründgens...


    Lesbische Liebe galt in Berlin teilweise sogar als absolut top ;), zumal in Berlin ja eh alles primär mal toleriert wurde, von HOmosexuellen Bars, Clubs mit als Frau verkleideten Männern, und, und, und... 27 wurde sogar über eine gesetzeslockerung debattiert und umgangssprachlich hieß es "...bevor das und das passiert, tritt Hindenburg mit Gummibusen und Perücke als chanteuse auf."


    Gleichzeitig gab es aber nach den Haarmann- Morden 1924 ( einer Reihe von homosexuellen Sexualmorden) gerade in der einfachen Bevölkerung eine verstärkte Ablehnung und Homophobie, die zu einem sprunghaften Anstieg der Aburteilungen führte und auch zu einem Gesetzesreformentwurf, der den Paragraph 175 sogar noch verschärfen sollte. Der scheiterte allerdings schließlich am Widerstand der Linken.


    Ich hoffe, das macht dieses seltsame Umgehen mit dem Paragraph damals etwas klarer.

  • Mir ist gerade noch eine ziemlich aussagekräftige Anekdote eingefallen, aber fragt mich nicht, wo ich die gelesen hab - vermutlich bei Roth oder Kisch oder Hessel. Jedenfalls spricht da der berichtende Journalist mit einem Schupo und der fragt ihn, ob er mal was Lustiges sehen will und am nächsten Morgen nimmt der ihn dann mit zu einem Transvestiten-Club, da warten sie ein paar Minuten etwas versteckt auf der Straße m und plötzlich stürmt ein Transvestit raus, über die Straße und zum dortigen Friseur. Rasieren, wie der Schupo dem Journalisten lachend erzählt, weil die konnten die ganze Nacht nicht aus dem Club, weil er davor stand, um sie ein bisschen zu foppen.


    Das ganze wird im Ton einer amüsanten kleinen Begebenheit erzählt, also weder anklagend gegen den Schupo noch gegen den Transvestiten. Ich glaub, das trifft den Berliner Umgang damit ganz gut.

  • Zitat

    Original von binchen


    Ja - das ist es, was mich an Carl dann versöhnt - Aber auch die Überlegungen von Paul und Carl - so klassisch, wie man oft alles gut meint - aber es nicht richtig rüber kommt - der eigene Stolz manchmal im Weg steht


    'Feine Leute' als Titel ist für mich eher ironisch gemeint - denn dass die Feinen Leute gar nicht so fein - sondern eher oft oberflächlich - sind, ist ja offensichtlich


    Ich bin ein Carl-Fan :-] Ich mag den einfach, und seine Sorge um Paul finde ich irgendwie rührend.


    Für mich kommt der, wie ich finde, passende Buchtitel auch auf jeden Fall ironisch rüber. Die sogenannten feinen Leute sind bei näherem Hinsehen überhaupt nicht fein. Geld und/oder Titel machen eben noch keinen feinen Menschen aus.


    Ich mag das Buch sehr, auch die perspektivische Erzählweise gefällt mir. Das Einstreuen von historischen Personen wie Kracauer oder Roth - da dachte ich, sieh mal einer an, muß ich gleich googeln, wie die beiden da rein passen :grin - mag ich.


    Und ich warte die ganze Zeit darauf, dass mir Gereon Rath über den Weg läuft, auch wenn der bei Volker Kutscher erst ab 1929 ermittelt. :grin


    Über Täter und mögliches Motiv hab ich noch keinen Schimmer, hat es mit Graumanns Geschäften zu tun, mit seinem Besitz oder mit was ganz anderem? Keine Ahnung, wir werden sehen :-)

  • :-] wie toll, dass es dir gefällt :-] das verschönt mir einen ziemlich nassen Tag hier :-] nur Gereon Rath hat leider keinen Auftritt, obwohl ich ja sonst schon mal gern anderleut Romanfiguren als Nebencharakter auftreten lasse ;) Vielleicht wenn Carl und Paul mal im Jahr 29 oder später ermitteln, ich Versuch nämlich immer, dass das Auftreten sich mit der vom Autor gegebenen Biographie deckt - wobei ich bei Claudio Pauls einfach davon ausgegangen bin, dass der sicher auch in Berlin gedreht hat und dass die Hagenströms inzwischen eine AG sind, dass ist doch plausibel ;)

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    Original von Joan Weng
    Lumos : :-] Danke für das Kompliment hinsichtlich meiner Eloquenz :-] Du hast natürlich recht, das Umgangssprachliche ist gewissermaßen tiefgestapelt, genau wie die vielen danns und die Ausdrücke. Aber ich bin nun mal ein Anhänger des streng perspektivischen Schreibens und deshalb bedingt für mich immer der Inhalt und der Erzähler der jeweiligen Szene die Form. Wenn du darauf achtest, wirst du sehen in einer Urte Szene gibt es beispielsweise weder Ausdrücke, noch gehäufte danns, erzählen aber Pix oder Greta, ist die Sache eine andere. Du musst auch einmal ansehen, bei welcher Figur welche Worte benutzt werden, "sagenhaft top" ist zum Beispiel bei Urte nicht zu finden.


    Die danns treten anderseits auf, wenn die erzählende Person gerade in diesem Moment etwas erlebt, eine geschliffene Erzählweise Würde in diesem Fall für mich aus der Perspektive fallen. Zumindest geht es mir persönlich so, dass ich, wenn ich sehr schnell etwas erzählen will, sehr viele danns vewende ;)


    Aber unter uns, ich persönlich finde Leute, die ständig Schimpfworte verwenden grauenhaft, aber naja, es ist eben die Art wie solche Menschen in meine Vorstellung, die Welt erleben und für sich kommentieren.


    Danke für deine ausführliche Stellungnahme :knuddel1.
    Ich finde es großartig wie du mit kritischen Anmerkungen umgehst :anbet.


    Perspektivisches Schreiben nennt man das, muss ich mir merken. So muss ich nicht rumeiern um das, was ich meine :grin.
    Das ist auch einfach Geschmacksache, dem einen gefällt es, dem anderen nicht. Ich habe auch schon Bücher mit "perspektivischer Schreibweise" (klingt wirklich gut) gelesen, bei denen mir dieses Stilmittel gut gefiel. Hier mag ich es weniger.


    Zitat

    Original von JaneDoe
    Über Täter und mögliches Motiv hab ich noch keinen Schimmer, hat es mit Graumanns Geschäften zu tun, mit seinem Besitz oder mit was ganz anderem? Keine Ahnung, wir werden sehen


    Das geht mir ebenso. Hier habe ich überhaupt keine Idee. Lassen wir uns überraschen.


  • Danke :-] Obwohl ich natürlich am liebsten pausenlos hör, wie großartig mein Buch ist, ist das ja nicht Sinn einer Leserunde, da soll ja diskutiert werden. Das macht es doch interessant und bereichert einen auch, aber ich hab natürlich trotzdem vorher ein bisschen Angst gehabt ;) besonders weil mein armes Buch einige Kritiken von Leuten bekommen hat, die ganz offensichtlich einfach nicht wussten, was ich da mach. Sowas ist dann ärgerlich. Oder wenn man seit 6 Jahren über eine Zeit arbeitet und dann der Vorwurf laut wird, man hätte nicht genug recherchiert, das wäre bei Goga ganz anders ... Da tret ich zugegebener Maßen schon mal gegen den Wandschrank ;)


    Ich hätte bis vor Kurzem gesagt, dass ich es grundsätzlich gut finde, wenn ein Roman oder eine Erzählung streng im perspektivischen Bewusstseinsfluss geschrieben ist, aber neulich hab ich von Oats ihre Adaption der Dame mit dem Hündchen gelesen. Auweia, vermutlich war ich zu dumm, aber ich hab's halt Null verstanden :help

  • P.s.: ich will damit nicht sagen, dass du das Buch nicht verstehst und deshalb den Stil nicht magst ;) Es ist einfach Geschmacksache und selbst wenn man die Art - wie ich - grundsätzlich mag, kann das einfach manchmal nix sein. Nur falls ich mich dumm ausgedrückt hab ;)

  • Unqualifizerte Kritik ist schon unangenehm, kann ich mir gut vorstellen.
    Darüber habe ich mich gerade gestern mit einer anderen Autorin unterhalten.
    Aber das sollte man nicht zu sehr an sich ranlassen und drüberstehen. Ein dickes Fell, ein gesundes Selbstbewusstsein und bei so mancher Kritik muss man sich sagen - "für dich Blödmann hab ich das auch nicht geschrieben".
    Allen kann man es eh nie recht machen.

  • Zitat

    Original von Joan Weng
    P.s.: ich will damit nicht sagen, dass du das Buch nicht verstehst und deshalb den Stil nicht magst ;) Es ist einfach Geschmacksache und selbst wenn man die Art - wie ich - grundsätzlich mag, kann das einfach manchmal nix sein. Nur falls ich mich dumm ausgedrückt hab ;)


    Hab ich auch nicht so verstanden, keine Sorge :grin.
    Ich verstehe gut, warum du diesen Stil gewählt hast und was du damit erreichen willst.

  • Zitat

    Original von Joan Weng


    Ich hätte bis vor Kurzem gesagt, dass ich es grundsätzlich gut finde, wenn ein Roman oder eine Erzählung streng im perspektivischen Bewusstseinsfluss geschrieben ist, aber neulich hab ich von Oats ihre Adaption der Dame mit dem Hündchen gelesen. Auweia, vermutlich war ich zu dumm, aber ich hab's halt Null verstanden :help


    Hast du es mir deshalb geschenkt? :cry

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    Original von Joan Weng
    :lache genau :lache du Blödel, dir hab ich das Original geschenkt - deins ist von Tschechow. Aber sei nicht traurig, vielleicht kriegst du's zu Weihnachten :gruebel


    Du weißt doch, ich habe nicht Germanistik studiert. Lass es lieber ...

  • Zitat

    ginger ale , es tut mir arg leid, wenn Feine Leute nicht deinen Erwartungen entspricht. Es ist vielleicht einfach nicht dein Geschmack. Aber wenn du dich für das Haus Vaterland interessierst - das bei mir eben einfach nur eine Nebenrolle einnimmt- empfehle ich die von Hessel: Spazieren in Berlin. Er hat dem Haus Vaterland ein ganzes Kapitel gewidmet. Da kommst du sicher auf deine Kosten.


    Ich bin an Feine Leute nicht mit einer bestimmten Erwartung herangegangen und ich kann auch nicht sagen, dass das Buch nicht meinem Geschmack entspricht. Ich freue mich über Romane, die nicht nach Schema F aufgebaut sind. Schade, dass dieser Roman überhaupt eine Krimihandlung hat. Krimis sind für mich sowieso zweite Wahl, lese ich nur, wenn ichgerade nichts Besseres finde. Natürlich gibt es Ausnahmen. Mir würde es sogar besser gefallen, wenn etwas anderes als ein Mord den roten Faden für Feine Leute "liefern" und für Spannung sorgen würde. Dass die Beziehung zwischen Paul und Carl so sehr im Mittelpunkt steht, ist mal etwas anderes. Bei mir herrscht Unlust vor, mich überaupt noch mit dem Krimi-Part zu beschäftigen.
    Multiperspektivisches Schreiben ist eine prima Möglichkeit, den Figuren sehr nahe zu kommen. Die Kunst dabei ist, die Orientierung der Leser nicht aus den Augen zu verlieren und die Zusammenhänge deutlich genug herzustellen. Hier fehlen mir in Feine Leute oft Hinweise, die die Orientierung ermöglichen. Mir mangelt es einfach an Kohärenz. Rätseln ist das eine, aber eine Gleichung mit zuuuuu vielen Unbekannten mag vielleicht mit einer netten Leserunde und Autorenbegleitung ein wenig Spaß machen, aber wenn mensch alleine liest? Ich vermute, dass das Zusammentreffen von Krimi-Faden und der notwendigen Zurückhaltung von Informationen und die multiperspektivische Schreibweise der Grund sind, warum die Kohärenz so schwach ausgeprägt ist.

    Dass du Haus Vaterland nicht näher beschreibst, ist an sich kein Problem. Ich wollte damit nur etwas verdeutlichen (ist mir aber nicht gelungen). Warum es überhaupt namentlich erwähnen, wenn es eigentlich für die Entwicklung der Szene und den weiteren Verlauf der Handlung gar nicht wichtig ist? Um dem Anspruch des historischen Lokalkolorits gerecht zu werden? Ohne Einbettung einiger Infos zu Haus Vaterland bringt mir das ja nichts, als Leserin. Wozu Vor- und Nachnamen von Randfiguren nennen, wenn sie im weiteren Verlauf keine Rolle mehr spielen? Wenn häufig Namen auftauchen, deren Bedeutung bzw Einordnung nicht klar wird, entsteht unnötige Verwirrung - auch bei den LeserInnnen, die es gern mal etwas komplizierter mögen. Ich hatte zeitweise den Eindruck, dass der Roman nur für Insider geschrieben ist, die über alle diese Hintergrundinfos verfügen. Doch glaube ich nicht, dass das die Absicht war, Joan?
    Meine Vermutung ist, dass du vielleicht daran gewöhnt bist, deine Texte stark zu verdichten. Wenn du von der Lyrik her kommst, wäre das naheliegend.
    Manche der Szenen klingen wie Kurzgeschichten - für einen Roman ist etwas mehr Redundanz sinnvoll.
    Auf jeden Fall finde ich, dass viele der Szenen sehr gut geschrieben sind, und ich hatte, wie viele andere hier, meinen Spaß dabei.
    Vielleicht steige ich noch einmal ein, wenn ich mein aktuelles Buch zu Ende gelesen habe.


  • Das kann ich doch gleich mal :write.


    Bin noch nicht am Ende dieses Abschnitts aber es gibt wieder einige herrliche Szenen.
    Das Verhör der Zofe - einfach nur klasse.


    Ich fühle michh bestens unterhalten. :-]

  • Zitat

    Original von Joan Weng
    Lumos : :-] Danke für das Kompliment hinsichtlich meiner Eloquenz :-] Du hast natürlich recht, das Umgangssprachliche ist gewissermaßen tiefgestapelt, genau wie die vielen danns und die Ausdrücke. Aber ich bin nun mal ein Anhänger des streng perspektivischen Schreibens und deshalb bedingt für mich immer der Inhalt und der Erzähler der jeweiligen Szene die Form. Wenn du darauf achtest, wirst du sehen in einer Urte Szene gibt es beispielsweise weder Ausdrücke, noch gehäufte danns, erzählen aber Pix oder Greta, ist die Sache eine andere. Du musst auch einmal ansehen, bei welcher Figur welche Worte benutzt werden, "sagenhaft top" ist zum Beispiel bei Urte nicht zu finden.


    Die danns treten anderseits auf, wenn die erzählende Person gerade in diesem Moment etwas erlebt, eine geschliffene Erzählweise Würde in diesem Fall für mich aus der Perspektive fallen. Zumindest geht es mir persönlich so, dass ich, wenn ich sehr schnell etwas erzählen will, sehr viele danns vewende ;)


    Aber unter uns, ich persönlich finde Leute, die ständig Schimpfworte verwenden grauenhaft, aber naja, es ist eben die Art wie solche Menschen in meine Vorstellung, die Welt erleben und für sich kommentieren.


    Danke für die Erklärung.
    So oder so ähnlich ist das auch bei mir angekommen - und deshalb "passt" auch alles.