Richard Russo: Diese gottverdammten Träume
DuMont Buchverlag 2016. 752 Seiten
ISBN-13: 978-3832198244. 24,99€
Originaltitel: Empire Falls
Übersetzerin: Monika Köpfer
Verlagstext
Empire Falls, eine Kleinstadt in Maine: Seit über zwanzig Jahren arbeitet Miles Roby im örtlichen Diner. Hier versammelt sich die ganze Stadt, vom Fitnessstudiobesitzer bis zum Schuldirektor. Miles selbst hat das College abgebrochen, ist geschieden und lebt in einer winzigen Wohnung über dem Restaurant. Und während er sein Bestes gibt, seiner Tochter dabei zu helfen, die Highschool zu überstehen, seinen trinkfreudigen Vater zu bändigen und dem Job im Diner gerecht zu werden, bleibt nicht viel Raum für das, was er sich vom Leben erhofft hat. Seine Verpflichtungen fesseln ihn an die Stadt, und erst als die äußeren Umstände ihn dazu zwingen, gelingt es ihm, Empire Falls zu verlassen. Er flieht mit seiner Tochter an den gemeinsamen Sehnsuchtsort Martha’s Vineyard. Seit Jahren spielt er mit dem Gedanken, sich hier niederzulassen. In „Diese gottverdammten Träume“ erzählt Richard Russo mit viel Wärme und Humor die Geschichte eines Mannes, der nicht der geworden ist, der er sein wollte, und zeigt das Leben in der Kleinstadt mit all seinen Absonderlichkeiten: ein Roman mit viel Gefühl für die Tragik, die im Alltäglichen liegt.
Der Autor
Richard Russo, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für „Diese gottverdammten Träume“ erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Der Roman wurde u. a. mit Paul Newman und Philip Seymour Hoffman von HBO verfilmt. Bei DuMont erschien 2010 der Roman „Diese alte Sehnsucht“. Russo lebt mit seiner Familie in Boston und an der Küste Maines.
Inhalt
Miles Roby hatte eine gehörige Distanz zwischen sich und seinen Heimatort Empire Falls in Maine gelegt, als er zum Studium auf College ging. Dass Miles je wieder zurückkehren würde, hätte niemand im Ort erwartet. Doch als seine Mutter im Sterben liegt, bittet ihn Francine Whiting, zurückzukommen und vertretungsweise den Empire Grill im Ort zu übernehmen. Den Whitings gehört die halbe Stadt; doch mit dem wirtschaftlichen Niedergang ihrer Textil- und Papierfabriken ging es mit dem ganzen Ort bergab. Aus dem geplanten einen Jahr sind inzwischen 20 Jahre geworden. Miles ist nur Pächter des Diners; um jede noch so geringe Investition muss er mit der betagten Francine ringen. Das Lokal ist eine unscheinbare Laube, deren Wände jedes Mal eingedellt werden, wenn ein Gast zu forsch einparkt. Miles Traum wäre ein Restaurant mit Lizenz zum Alkoholausschank. Er müsste dann nicht jeden Abend grübeln, ob sich die Plackerei an diesem Tag überhaupt gelohnt hat und könnte endlich das Personal anständig zu bezahlen. Man fragt sich, warum Miles noch immer in Empire Falls feststeckt. Wartet er, dass sich seine Probleme von allein lösen, oder hat er sich hoffnungslos in Verpflichtungen gegenüber anderen verstrickt?
Auf den ersten Blick scheinen die Dinge in Empire Falls sehr übersichtlich zu sein. Miles müsste endlich mit Francine über die Zukunft des Diners sprechen, nach seiner Scheidung die Finanzen in Ordnung bringen und seine Wohnung entrümpeln. Bei Männern wie Miles heulen Frauen sich aus, aber sie verlieben sich nicht in gute Kumpels. Miles findet den Mut nicht zum ersten Schritt aus seinem Labyrinth. Er lässt sich von seinem trinkfreudigen senilen Vater immer wieder beklauen und streicht ehrenamtlich die Kirche, obwohl abzusehen ist, dass die Gemeinde bald keine Verwendung mehr für das Gebäude haben wird. Miles scheint viel zu gut für diese Welt und opfert sich für einen Deal auf, den der Leser erst allmählich durchschauen kann. Mit fortschreitender Handlung habe ich mich gefragt, wer sich für wen opfert und ob sich all das Aufopfern nicht als gewaltiger Irrtum herausstellen wird.
Derzeit ist Miles Tochter Tick die Leidtragende des Kleinstadtklüngels von River Falls. Weil sie gegen die exakt abgezirkelten Regeln des Datings verstoßen und sich von ihrem Freund getrennt hat, wird Tick aktuell von der Clique ihres Ex drangsaliert. Seit Tick sich im Urlaub auf Martha’s Vineyard verliebt hat, ist sie dem Familientraum vom populären wie kostspieligen Urlaubsort der Ostküste verfallen. Die Insel war in Miles Kindheit schon Sehnsuchtsort seiner Mutter Grace und könnte ihm nun einen Ausweg bieten aus dem ewigen Warten, dass sich seine Probleme von selbst lösen. Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre …
Fazit
Mit wechselndem Focus und in mehreren Rückblenden entwirrt Richard Russo allmählich das erstickende lokale Netzwerk von River Falls, in das außer dem katholischen Pfarrer auch der Dorfpolizist, der Schuldirektor, ein elternloser Jugendlicher und Miles Schwiegermutter Bea eingebunden sind. Unterschiedliche Zeitebenen bleiben optisch klar voneinander getrennt; im ersten Satz jedes Kapitels wird sofort deutlich, auf welche Person und welchen Ort Russo gerade seinen Blick richtet. Die Tragik ungelebter Träume entfaltet Russo mit Wärme und nicht ohne Ironie. Seine Figuren sind hinreißend charakterisiert, ob es sich nun um Jugendliche oder demente alte Männer handelt. Ein Provinzroman, in dem der Autor stets alle Handlungsfäden im Griff hat und dessen Charme sich erst zögernd aufbaut.
9 von 10 Punkten