Smith Henderson: Montana

  • Smith Henderson: Montana
    Luchterhand Literaturverlag 2016. 608 Seiten
    ISBN-13: 978-3630874401. 24,99€
    Originaltitel: Fourth of July Creek
    Übersetzer: Walter Ahlers, Sabine Roth


    Verlagstext
    In den abgeschiedenen Tälern und nahezu undurchdringlichen Bergwäldern im Nordwesten von Montana ist der Sozialarbeiter Pete Snow unterwegs, um Kindern zu helfen. Da gibt es drogensüchtige Mütter, gewalttätige Väter, Waffen- und Bibelnarren, aber vor allem die ganz normale Armut. Als eines Tages Benjamin, ein halb wilder, vernachlässigter Junge, in seiner Stadt auftaucht, lernt er dessen Vater Jeremiah Pearl kennen, einen Anarchisten und Weltverschwörer, der im Wald lebt und sich gegen die Endzeit wappnet … - Pete Snow ist Sozialarbeiter in der kleinen Stadt Tenmile im Nordwesten von Montana, und es gibt viel zu tun in den Dörfern und abgelegenen Farmen mitten in der Wildnis. Das Leben vieler Leute ist geprägt von Armut, Gewalt, Alkohol und Drogen, und oft steht Pete zwischen seinen Klienten und der Polizei. Über sein eigenes Leben verliert Pete zusehends die Kontrolle, vor allem als seine halbwüchsige Tochter Rachel davonläuft und er immer wieder vergeblich nach ihr sucht. - Eines Tages trifft Pete in Tenmile auf Benjamin Pearl, einen unterernährten elfjährigen Jungen, der offenbar in der Wildnis lebt, und als er dessen Vater kennenlernt, stößt er fast an seine Grenzen, als Sozialarbeiter wie als Mensch. Denn Jeremiah Pearl ist ein paranoider Anarchist, der außerhalb des Gesetzes lebt. Nach und nach gewinnt Pete Jeremiahs Vertrauen, und eine seltsame Annäherung findet zwischen den beiden so unterschiedlichen Vätern statt. Bis plötzlich Polizei und FBI in Aktion treten, die Jeremiah Pearl schon länger im Visier haben … Ein großer, packender amerikanischer Roman, der eine ganz eigene Stimme hat und der wie Richard Ford, Jonathan Franzen oder Cormac McCarthy wichtige Themen berührt, die diese komplexe und widersprüchliche Nation ausmachen.


    Der Autor
    Smith Henderson, geboren und aufgewachsen in Montana, hat als Sozialarbeiter und Gefängniswärter sowie in einer Werbeagentur gearbeitet und lebt inzwischen als Schriftsteller in Los Angeles. Für seine Shortstorys erhielt er mehrere Preise, darunter 2011 den PEN Emerging Writers Award. Sein erster Roman „Montana“ löste in den Feuilletons amerikaweit Begeisterung aus, wurde in zahlreichen Zeitungen als eines der „Best Books of the Year“ empfohlen, wurde ausgezeichnet mit dem Montana Book Award 2014 und kam auf mehrere Shortlists, u.a. für den Ken Kesey Award for the Novel und den Fiction’s Flaherty-Dunnan First Novel Prize.


    Inhalt
    Pete Snow arbeitet in Tenmile/Montana beim Sozialen Familiendienst. Er kämpft gegen ein schier undurchdringliches Dickicht aus Armut, Kriminalität, Sucht, Gewalt und Kindesmissbrauch und versucht die größte Not irgendwie zu lindern. Doch stets gibt es mehr Kinder in schwierigen Verhältnissen als Menschen, die sich ihrer annehmen können. Hier oben macht jeder alles und die Uhren gehen noch anders. Im nördlichen Montana muss man sich irgendwie durchschlagen, z. B. mit einem Job im Sägewerk, nachdem die Gold-, Silber- und Kupfervorräte der Region abgebaut sind. Die Handlung spielt 1980 zur Zeit des Wahlkampfs Reagan/Carter. Auch Pete hatte keine Wahl und übernahm seinen Job, weil er getan werden musste. Aktuell versucht er den Jungen Cecil unterzubringen, der aufgrund seiner psychischen Auffälligkeit besser vorher von einem Psychiater begutachtet werden müsste. Pete vermutet, dass Cecil am ADHS leidet und zusätzlich Gewalt erfahren hat. Pete, der irgendeinen geisteswissenschaftlichen Abschluss hat, aber keine pädagogische Ausbildung erkennen lässt, weist Kinder in Heime ein, obwohl ihm klar ist, dass sie dort erneut misshandelt werden.


    Im Ort taucht eines Tages allein ein kleiner Junge auf, verwildert wie ein Waldschrat und offensichtlich krank und unterernährt. Benjamin Pearl lebt mit seiner Familie in den Wäldern. Sein Vater Jeremiah Pearl hat sich bewaffnet und dort verschanzt in Erwartung des bevorstehenden Weltuntergangs. Juden, Freimaurer, die Pest, Wölfe, Geldwirtschaft, der Holocaust, Pearl lässt kein Feindbild aus und fühlt sich von jedem verfolgt und bespitzelt. Der christliche Fundamentalismus der Familie wird maßgeblich von Pearls Frau angetrieben, er selbst hat den Part des radikalen Anarchisten übernommen und bekämpft den Staat mit allen Mitteln. In den Wäldern geht es hoch her, Pearl stört dort offensichtlich die Kreise anderer Einwohner, die wiederum einen Heidenrespekt vor ihm haben. Niemanden kümmert, dass Pearls Kinder nicht zur Schule gehen und niemand hat bisher Benjamins Geschwister zu Gesicht bekommen. Über vorsichtigen Kontakt zu dem Elfjährigen gelingt es Snow, die Familie mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen. In seiner Rolle als gutgläubiger Helfer reflektiert Pete weder, dass er selbst Spuren hinterlässt, die die Pearls in Gefahr bringen, noch welche Folgen sein Handeln für ihn selbst haben wird. Unbedarfte Protagonisten machen mich stets ungeduldig, so dass ich diesen Abschnitt erheblich zu lang fand.


    Pete hilft vernachlässigten Kindern, weil er seiner eigenen Familie nicht helfen kann. Sein Bruder ist immer wieder straffällig geworden und steht zur Zeit unter Aufsicht eines Bewährungshelfers; für die wirtschaftlich ertragreiche Ranch der Snows gibt es noch immer keinen Nachfolger, und Petes Frau hat ihn mit der gemeinsamen Tochter verlassen. Eingeschoben in die Ereignisse um die Kinder Cecil und Benjamin finden sich Interviews, in denen eine erstaunlich gut informierte dritte Person zum Schicksal von Petes Tochter Rachel befragt wird und sich in origineller Sprache äußert. Es klingt beinahe, als würde Rachel einem Therapeuten gegenübersitzen und könnte sich nur in der dritten Person über ihre Empfindungen äußern. Als Rachel aus dem Trailerpark ausreißt, in dem sie beim Lover ihrer Mutter untergeschlüpft waren, lässt Pete in Montana alles liegen und stehen, um Rachel in Texas zu suchen. Der zweite Teil nimmt erheblich an Tempo auf, es lohnt sich also, bis hierher durchzuhalten.


    Fazit
    Pete nimmt eine widersprüchliche Rolle in der Geschichte ein. Im Privatleben gescheitert und als Angehöriger selbst Klient von Sozialpädagogen, trennt ihn nur eine haarfeine Linie vom Absturz in Suff und Gewalt. Eine Liebesbeziehung zu einem problematischen Opfer von Missbrauch zieht Pete noch weiter herunter. Sein spontanes Handeln aus dem Bauch heraus ist beim Lesen nur schwer zu ertragen. Petes fatal endende Beziehung zu einer Familie von religiösen Fundamentalisten und Weltuntergangstheoretikern ist in unserer Kultur nur schwer vorstellbar. Sie zeigt jedoch eindringlich und höchst aktuell, auf welchem Boden religiöser Fundamentalismus entsteht und durch eine Laissez-Faire-Haltung des Staates weitere Nahrung erhält. Ob amerikanische Leser diesen Zusammenhang erkennen können? Sprachlich wirkt Hendersons Roman gradlinig, schnörkellos und stets dicht an Pete Snows Erleben. Von einem Roman aus einem angesehenen Verlag hätte ich mir größere Sorgfalt gewünscht bei der Trennung zwischen den Worten und Gedanken der Figuren (die so sprechen, wie man es eben in ihrer Gegend tut) und der Sprache des Erzählers, der meiner Ansicht nach im Ausdruck neutral bleiben sollte und sich auch in der Übersetzung Fehler in der deutschen Grammatik und sonderbare Dialektausdrücke verkneifen sollte.


    Im Bewusstsein, dass die Handlung vor 35 Jahren spielt, halte ich „Montana“ für keinen herausragenden, aber guten Roman über die fatale Begegnung zwischen einem für seine Arbeit nur mittelmäßig qualifizierten Familienhelfer und einem radikalen Anarchisten und religiösen Fundamentalisten.


    °°°°°
    Zitat
    "Pete ging einfach weiter, zwischen den Autos und Pick-ups und Trailern hindurch, über zerstampfte Erde, niedergetrampelte Stachelbeerbüsche und dann unter Erlen und Lärchen entlang. Er folgte dem Schotterweg bergab und erreichte nach einer Weile das schlammige Ufer eines Tümpels am Ende von [...]s Land. Der Hund kam bellend über die Weide gerannt, als Pete sich näherte. Er hielt dem Tier beide Hände hin, und als er seinen Weg fortsetzte, trottete der Hund neben ihm her, lieferte ihn quasi an der Haustür ab. [...]s Kinder spielten im Hof Fangen. Katie rutschte von der Reifenschaukel herunter und lief zu ihm, als wäre es das Normalste der Welt, dass Pete aus dem Wald trat, um sie zu besuchen. Vielleicht lag es an den Märchen, die sie so liebte, vielleicht auch an ihrer Mutter. Oder es lag einfach in der Natur des Kindseins, die Dinge ohne Zweifel oder Angst zu betrachten, es war schon lange her, Pete wusste es nicht mehr." (Seite 523/524)


    8 von 10 Punkten

  • Ich hatte leider nicht Buchdoktors Durchhaltevermögen, nach ca. 200 Seiten, also etwa einem Drittel, habe ich das Buch abgebrochen. :-( Ich hatte mir einfach mehr davon versprochen, aber in diesen ersten 200 Seiten hatte Pete gerade mal eine Begegnung mit dem Jungen, ansonsten dreht sich die Geschichte eigentlich nur um Pete. Das ganze ist sehr deprimierend, geprägt von Gewalt, Missbrauch, Suff und Hoffnungslosigkeit und entsprechend kaputten Typen. (Manches davon erinnert mich stark an "Winter's Bone".) Dazwischen eingefügt immer wieder Kapitel, in denen eine unbekannte Person ein Gespräch mit Pete's Tochter führt, die mit ihrer Mutter in ebenfalls desaströsen Umständen lebt.


    Wäre ja alles nicht so schlimm, wenn sich das Buch nicht ziehen würde wie Kaugummi - ich hatte mir irgendwie erwartet, dass die Geschichte viel mehr auf der Beziehung zwischen Pete und dem Jungen aufbauen würde, aber da kommt irgendwie nix.


    Ich geb' auf... :rolleyes


    LG, Bella

  • Montana
    Smith Henderson


    Inhalt und meine Meinung


    Montana ist ein Bundesstaat im Norden der USA. Flächenmäßig groß mit einer geringen Zahl von Einwohnern. Früher war Montana wegen seiner Bodenschätze reich, heute sind viele Minen erschöpft, Arbeitsplätze rar, viele Bewohner sind arm.
    In diesem Milieu spielt der Roman von Smith Henderson. Pete Snow ist Sozialarbeiter in einer kleinen Stadt und er hat viel zu tun. Genug Familien, in denen das wenige Geld versoffen wird, die Kinder vernachlässigt oder misshandelt. Auch die Betreuungseinrichtungen sind nicht viel besser. Hier herrschen Gewalt und Missbrauch. Zudem hat er private Probleme. Von Frau und Tochter hat er sich getrennt, die beiden sind weit weg gezogen. Sein Bruder ist untergetaucht, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Kein Wunder, dass er zu viel trinkt.
    Beruflich hat er mit der Familie von Cecil zu tun, der mit seiner jüngeren Schwester bei der Mutter lebt. Der Junge wird immer gewalttätiger und muss von der Mutter getrennt werden. Eines Tages taucht in der Stadt Ben, ein unterernährter und verwahrloster Junge auf, den Pete zu seinem Vater in die Berge zurückbringt. Beide Fälle beschäftigen ihn sehr. Er versucht das Vertrauen von Bens Vater, einem paranoiden, unter Verfolgungsängsten leidenden Aussteiger, zu gewinnen.
    Als auch noch seine Tochter von zu Hause wegläuft und trotz aller Bemühungen nicht zu finden ist, gerät Petes Leben völlig aus dem Ruder. In Einschüben wird in einer Art Gesprächsprotokoll von Petes verschwundener Tochter Rachel berichtet.


    Es ist ein hartes, gewalttätiges Buch, das schonungslos das Bild eines Landes zeichnet, in dem Individualismus und persönliche Freiheit alles, staatlicher Einfluss und Kontrolle unerwünscht und verdächtig sind. Dagegen blühen Paranoia und Verfolgungswahn auf allen Seiten. Selten habe ich das so unverblümt gelesen.
    Schön ist eigentlich nur die atemberaubende Natur, die dem Menschen zwar alles abverlangt, aber auch Zuflucht bietet.
    Es gibt wenig Tröstliches in diesem Buch und gelegentlich hat es mich in eine ziemlich hoffnungslose Stimmung versetzt. Ein Lichtblick für mich ist dennoch Pete, der trotz aller Misserfolge und Katastrophen, trotz seiner eigenen Fehler und Schwierigkeiten nicht aufgibt.


    Ein Buch, das mir noch immer zu denken gibt .
    8 von 10 Punkten.

  • Mir ging es beim lesen ein bisschen wie Rumpelstilzchen. An manchen Stellen war es so trostlos, dass ich nicht wusste, ob ich noch weiterlesen will, an anderen Stellen war das alles so geschildert, dass man das Gefühl hatte, man steigt immer tiefer in einen Sumpf und kann nicht anders, als darin versinken...


    Manche Szenen sind beinahe verstörend und schonungslos geschrieben, ich könnte da aus jedem Erzählstrang mindestens eine nennen, sowohl von der "beruflichen" Seite, als auch von der "privaten" Seite von Pete. Andere sind auch einfach nur schonungslos ehrlich...es reißt einem die rosarote Brille manchmal mehr als nur heftig vom Kopf.


    Zwischenzeitlich hatte ich ein paar Durchhänger beim lesen, aber zum Ende hin, hatte mich die Geschichte dann wieder. Mit Rachels Gesprächsprotokollen hatte ich teilweise meine Probleme, war manchmal anstrengend zu lesen, wenn eine fett gedruckte Frage über mehrere Zeilen ging.


    Ein Lichtblick war für mich Cloninger...oder auch der Richter...


    Aber Pete und Jeremiah auch dennoch irgendwie, weil ihre Geschichten so ein Band für ihre Familien geschlagen haben...Luke und Pete fand ich interessant zu begleiten, insbesondere am Ende der Geschichte...und auch irgendwo Jeremiah und Ben...aber auch Jeremiah und Sarah...wo in allertiefster Einsamkeit dann doch Verbundenheit ist, das fand ich hoffnungsvoll.


    Hatte mir das Buch und die Geschichte auch etwas anders vorgestellt, auch mehr auf der beruflichen Schiene und weniger mit all den ausschweifenden Schilderungen um Pete privat und am Anfang war ich davon irritiert, zwischenzeitlich wie oben geschrieben auch mal kurz vor dem Abbruch, aber dann am Ende irgendwo doch damit versöhnt.


    Intensiv...
    8 Punkte.

  • Pete Snow ist Sozialarbeiter in Tenmiles, Montana. Zuständig für Familien bei denen einiges schief läuft, bekommt er weder seinen Job, noch sein eigenes, verkorkstes Leben auf die Reihe.
    Seine Frau hat er verlassen, nachdem sie ihn betrogen hat und die Tochter blieb bei ihr zurück.
    Während er zwischen Trunkenheit und dazugehörigen Abstürzen und der oft vergeblichen Rettung von Kindern aus ihren kaputten Familien hin und her jongliert, zieht seine Frau nach Texas. In Einschüben, erfahren wir was Rachel, seine Tochter dort erlebt und sie ebenso wie die Kinder mit denen er zu tun hat in die Prostitution abrutscht und er ihr doch nicht helfen kann.


    Ein schonungsloses Buch über den Alltag eines nicht ganz unfähigen, aber immer noch an seiner eigenen lieblosen Kindheit knabbernden Mannes, der merkt, dass Gesetze, bzw. ihre ausführenden Organe, oft nicht dazu da sind zu schützen, sondern mehr kaputt machen.
    Es ist mir anfangs wirklich schwer gefallen mich auf das Buch einzulassen, da es mit seiner drastischen aber mit Sicherheit realistischen Darstellung der Lebensumstände des Protagonisten mir oft Übelkeit verursacht hat.
    Da ist ja auch noch Jeremiah Pearl mit seinem Sohn Benjamin, die Pete mit vorsichtigen Annäherungen versucht aus ihrer freiwilligen Isolation in den Bergen zurückzuholen.
    Smith Henderson reißt einen mit in einen Strudel der sich überstürzenden Ereignisse bis zum bitteren Ende.
    Eine absolut lesenswerte, mitreißende Schilderung der, vermute ich mal zum Teil autobiografischen Erlebnisse, über Liebe, Verrat, Misstrauen und Wahnsinn bis zum Tod.
    8 Punkte