Vorweg mööchte ich angesichts deiner leidenschaftlichen Verteidigung eines klarstellen: Ich habe den Roman nicht als "nicht schlecht" eingeordnet, sondern als "wirklich gut", und die Kritikpunkte wurden meinerseits auch als subjektiv dargelegt. Es ist dir gelungen, daß mich ein Roman aus einem Genre, um das ich normalerweise einen Bogen mit einem Lichtjahreradius mache, drei Nächte lang gefesselt und amüsiert hat!
Das muß eine erst mal hinkriegen!
ZitatOriginal von Wiebke
Ich weiß nicht, ob es für jeden vorhersehbar ist, da hast Du als Schreibprofi sicher den Vorteil, dass Du dramaturgische Winkelzüge schneller erkennst. Ob das eine Frage der Gattung ist? Hm, das würde ich jetzt nicht sagen.
Da spricht weniger der "Schreibprofi" aus mir als die Literaturwissenschaftlerin, die noch anders analytisch liest, weil es ihr nicht so sehr ums "Handwerk" geht als um Strukturen, die man dann beschreibend ordnet. (Wobei auch das dem Handwerk zugute kommt.)
Jedes "Genre" (ich weiß, daß das ein wackeliger Begriff ist, aber ich nehme ihn trotzdem, weil er nun mal allgemeinverständlich ist) hat seine strukturellen, dramaturgischen, erzählerischen und stilistischen Eigenarten (nicht "Regeln" - das wäre hier der falsche Begriff!!!). Diese Eigenarten setzt jeder Autor auf seine Weise um.
Da mir die handlungsspezifischen Eigenarten des Genres Moderner Frauenroman einigermaßen vertraut sind, konnte ich vorwegnehmen, wie es ausgeht. Und wurde nicht enttäuscht. Und das ist keineswegs ironisch gemeint!
Ganz grundsätzlich ist es ja so, daß Leser konservativ sind; es ist ein Pluspunkt, wenn man sie darin, WAS man erzählt, nicht enttäuscht. Beim WIE sind Überraschungen allerdings Pflicht -- und genau das gelingt dir m.A.n. auch!
"Vorhersehbarkeit" ist für mich nicht per se etwas Schlechtes (dann wäre 90% der Weltliteratur schlecht), sondern sie begründet sich in den strukturellen Eingenarten des Erzählens. Jede Art von Erzählen folgt einer Logik, sonst funktioniert es einfach nicht, denn man würde es einfach nicht verstehen.
Extremes Beispiel: Sixth Sense -- Wenn sich gegen Ende das Rätsel löst, dann haut sich nahezu jeder an die Stirn: Eigentlich war es doch von Anfang an offensichtlich, eigentlich gab es genügend Hinweise, aber man sah den Wald vor lauter Bäumen nicht! Weil man von den Machern des Films bewußt in der Perspektive des (toten) Psychologen gehalten wurde, damit man mit ihm gemeinsam des Rätsels Lösung erkennt.
Trotzdem ist die Geschichte an sich, die Handlung, vorhersehbar, denn sie nimmt die eigentlich einzig möglichen Wege zu einer Lösung: Der Junge lernt in Ansätzen, mit seiner Begabung umzugehen, und der Verstorbene erlöst sich, indem er Abschied nimmt von dieser Welt, in die er nicht mehr gehört.
Das Überraschende liegt immer im Wie. In der Erzählperspektive, im Stil, in der Sprache, in der Vermittlung der Informationen an den Leser.
Noch was: Daß ich die Vorbereitung als "etwas dünn" bezeichnet habe, ist m.A.n. eher ein "Generationenproblem". Ich bin ein Kind der frühen 1960er, wir ticken anders als die Kinder der 1940er, 1950er, 1970er, 1980er, 1990er. "Die Welt ist im Wandel" -- das war sie schon immer und das wird sie bleiben, solange sie besteht.
Mir erschien die psychologische Vorbereitung zu schwach: Das Schnoddrige an Charly und ihre (schein-)oberflächliche Witzigkeit als Erzählerin überdeckten für mich die Verletzlichkeit ein bißchen zu sehr. Wohlgemerkt: ein bißchen!
(Herrgott, ich reite jetzt schon auf einer Relativierung meiner eigenen Kritik herum! :rolleyes)
Es war also keine Erklärung oder Verteidigung vonnöten.
Andererseits denke ich, daß dir das Feedback einer alten Schachtel wie mir durchaus hilft, deine Zielgruppe auszudehnen und deine Romane über die eigene Generation hinaus zu einem literarischen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis zu machen. Schließlich haben Autoren immer auch etwas Missionarisches an sich -- sonst würden wir ja nicht an die Öffentlichkeit gehen, sondern nur für uns selbst dichten.