John Irving - Straße der Wunder

  • Titel: Straße der Wunder
    OT: Avenue Of Mysteries
    Autor: John Irving
    Übersetzt aus dem Amerikanischen von: Hans M. Herzog
    Verlag: Diogenes
    Erschienen: März 2016
    Seitenzahl: 775
    ISBN-10: 3257069669
    ISBN-13: 978-3257069662
    Preis: 26.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Juan Diego und seine stumme Schwester Lupe sind Müllkippenkinder in Mexiko. Ihre einzige Überlebenschance: der Glaube an die eigenen Wunderkräfte. Denn Juan Diego kann fliegen und Geschichten erfinden, Lupe sogar die Zukunft voraussagen, insbesondere die ihres Bruders. Um ihn zu retten, riskiert sie alles. Verführerisch bunt, magisch und spannend erzählt: zwei junge Migranten auf der Suche nach einer Heimat in der Fremde und in der Literatur.


    Der Autor:
    John (Winslow) Irving, geboren am 2. März 1942 in Exeter, im Staat New Hampshire, als ältestes von vier Kindern. John Irvings Vater war Lehrer und Spezialist für russische Geschichte und Literatur. Seine Kindheit verbrachte Irving in Neuengland. 1957 begann er mit dem Ringen; 19jährig wusste Irving, was er werden wollte: Ringer und Romancier. Studium der englischen Literatur an den Universitäten von New Hampshire und Iowa, wo er später Gastdozent des Schriftsteller-Workshops war. Deutschkurs in Harvard. 1963-1964 Aufenthalt in Wien. 1964 Rückkehr in die Vereinigten Staaten. Arbeit als Lehrer an Schule und Universität bis 1979. Lebt heute in Toronto und im südlichen Vermont. 1992 wurde Irving in die National Wrestling Hall of Fame in Stillwater, Oklahoma, aufgenommen, 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für seinen von Lasse Hallström verfilmten Roman Gottes Werk und Teufels Beitrag.


    Meine Meinung:
    Gar keine Frage – John Irving ist ein genialer Erzähler und Geschichtenerfinder. Und das er das ist, das stellt er mit diesem Roman wieder einmal eindrucksvoll unter Beweis. Für mich steht John Irving ganz klar an der Spitze der zeitgenössischen Autoren – kaum jemand sonst da, der ihm das Wasser reichen könnte.
    Und wie auch bei seinen anderen Romanen, so auch hier: Man beginnt zu lesen und ist in Nullkommanichts gefangen in der Romanwelt des John Irving. Und man staunt über die unglaublich Erzählwucht dieses Autors, über seine Phantasiefülle.
    Und es soll aber auch Leserinnen und Leser geben, die John Irving nicht mögen, seinen Romanen nichts abgewinnen können. Irgendwie sind das doch ganz arme Würstchen – wie gut nur, dass ich nicht Bestandteil dieser Wursttheke bin.
    Anne Haeming hat es auf SPIEGEL ONLINE sehr schön ausgedrückt:
    „Ein Meisterwerk. Einer jeder Romane, die noch lange nachhallen, über unvorstellbare Nähe und Verlust, mit Figuren, die einen tief anrühren.“
    Begeisternd auch die drastische Sprache des Autors. Drastisch, klar und kompromisslos – ohne dabei aber ins Vulgäre oder Primitive abzugleiten.
    Und das auch dieser Roman von John Irving wirklich wieder etwas Besonderes ist, sieht man an der Reaktion des Feuilletons. Da wissen die Dummnickel in ihren Redaktionsstuben und auf ihren Billigdrehstühlen nicht, wie sie diesen Roman beurteilen sollen. Ist er nun gut oder muss man ihn niedermachen. Und herauskommt – wen wundert es – dümmliches Geschwafel der Literaturhasser, die aber meinen nur sie hätten in den Stein der Weisen gebissen.
    Sehr interessant dazu die Rezensionsnotiz aus dem PERLENTAUCHER über die Rezension der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:


    „Als reinstes Ärgernis bezeichnet Rezensent Burkhard Müller diesen Roman, in dem John Irving seinen magischen Realismus zur reinsten Masche verkommen lässt. Auf achthundert Seiten wiederholen sich die Auftritte und Dialoge der immer gleich schräg aufgestellten Figuren, auch die grotesken Wendungen nach Schema wirkten auf Müller bald ermüdend, der von einem Szene zur nächsten springen musste und die zahlreichen Todesfälle kaum noch zählen konnte. Wenn es doch wenigstens ein Märchen wäre, ächzt Müller, der jedoch eher ungut professionelles Handwerk mit kindischer Emotionalität verbunden sieht. Dass Irving dann auch auf der Sexualmoral der Katholischen Kirche herumreitet, als wäre das was Neues, gibt dem genervten Kritiker den Rest.“


    Da wird deutlich, wie wenig dieser Herr Müller offensichtlich begriffen hat. Er scheint nicht in der Lage zu sein, den Schriftsteller John Irving auch nur ansatzweise zu verstehen. Wie gut nur, dass es auch Leserinnen und Leser gibt die lesen und verstehen können – und die sich solchen Rezensentenunsinn nicht zu eigen machen. Die unglaubliche Dummheit des Herrn Müller von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG ist fast schon Feuilletoncomedy. Welch ein armer Mensch. Wie kann man die Literatur nur so hassen? Meine Güte, Müller. Warst du früher auch schon so verklemmt? Oder nur eine Profilierungsneurose?


    Ein großartiges, ein lesenswertes Buch. John Irving ist halt genial. 10 Eulenpunkte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Mmh. Viel Faktisches ist dieser Rezension - abgesehen von der Kritikerdresche - nicht zu entnehmen. Was hat Dir am Roman gefallen, Voltaire?


    Ich lese ihn derzeit auch und habe mich bis Seite 500 vorgearbeitet. Ich bin früher ein großer Fan von Irving gewesen, dessen Schreibstil mich auch durchaus beeinflusst hat (deshalb beispielsweise die vielen Kursiven in meinen Texten), aber mit "Witwe für ein Jahr", "Die vierte Hand" und "Bis ich Dich finde" war er kurz davor, mich zu verlieren. "Letzte Nacht in Twisted River" hat das halbwegs wieder ausgeglichen, aber bei "Straße der Wunder", das ja ein stark selbstreferentielles Buch ist, bin ich auch nach fünf Achteln noch nicht sicher, ob das entweder totaler Bullshit oder doch irgendwie gut ist. Ganz sicher bin ich mir nur, dass es keineswegs exzellent ist. Dafür übertreibt Irving seine üblichen Stilmittel (eben die vielen Kursiven, die ständigen Wiederholungen, die häufigen Parenthesen, die ständig repetierten Neologismen wie "Müllkippenleser") zu sehr, ohne den Raum dazwischen mit einer erkennbaren Geschichte, gar einer vordergründigen Thematik zu füllen. Man muss sich sehr auf ihn einlassen, um das durchzuhalten. Deshalb empfinde ich es auch als nachvollziehbar, dass jene, die das nicht können oder wollen, zu recht eindeutigen Ergebnissen kommen, die keineswegs den einzigen Schluss zulassen, dass es sich durch die Bank um "Dummnickel" handelt.

  • Zitat

    Original von Tom
    Mmh. Viel Faktisches ist dieser Rezension - abgesehen von der Kritikerdresche - nicht zu entnehmen. Was hat Dir am Roman gefallen, Voltaire?


    Das habe ich deutlich gesagt.
    Zudem verfasse ich meine Meinung über Bücher so, wie ich es für richtig halte - andere machen es anders. Und es steht jedermann/jederfrau frei sich so zu äußern wie er/sie es möchte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Hallo, Voltaire.


    Ich wollte nicht bemäkeln, dass Du Dich vermeintlich nicht an ohnehin nicht existente Rezensionsvorschriften hältst. Ich wollte nur wissen, was Dir an diesem Buch so gut gefallen hat, falls das über "Erzählwucht" und "Phantasiefülle" hinausgeht und sich vermitteln lässt. Wenn nicht, dann nicht.

  • Tom
    Dann ganz speziell - nur für dich:


    "Gar keine Frage – John Irving ist ein genialer Erzähler und Geschichtenerfinder. Und das er das ist, das stellt er mit diesem Roman wieder einmal eindrucksvoll unter Beweis. Für mich steht John Irving ganz klar an der Spitze der zeitgenössischen Autoren – kaum jemand sonst da, der ihm das Wasser reichen könnte.Und wie auch bei seinen anderen Romanen, so auch hier: Man beginnt zu lesen und ist in Nullkommanichts gefangen in der Romanwelt des John Irving. Und man staunt über die unglaublich Erzählwucht dieses Autors, über seine Phantasiefülle. Begeisternd auch die drastische Sprache des Autors. Drastisch, klar und kompromisslos – ohne dabei aber ins Vulgäre oder Primitive abzugleiten. Ein großartiges, ein lesenswertes Buch. John Irving ist halt genial. 10 Eulenpunkte."


    Für mich ist das eine klare Meinungsäußerung.
    Wobei natürlich niemand meine Meinung teilen muss.
    Da bin ich Demokrat und tolerant. :-)


    Zudem rege ich mich stets über die professionellen Literaturnörgler auf. Aber auch da muss mir niemand folgen.


    Gerade für Meinungen zu den Büchern gilt für mich: Jede/jeder so wie sie/er es mag. :-)

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Vielen Dank an Tom für seine fundiert begründete Kurzeinschätzung zu diesem Roman. :fingerhoch Solche Beiträge sind für die zukünftigen Buchauswahl sehr hilfreich.

  • Sadomaso für Esoteriker


    Die Frage, ob dieser Roman ein Meisterwerk ist oder doch eher das Gegenteil davon, kommt mir in erster Linie wie eine rein rhetorische Frage vor. Ein Meisterwerk stammt von jemandem, der sein Fach meisterlich beherrscht. Fraglos kann John Irving das, was er während der vergangenen Jahrzehnte praktiziert hat, auf seine ganz persönliche Weise sehr gut, er ist also quasi ein Meister des irvingschen Schreibens, aber mit diesem Buch stellt sich einmal mehr die Frage, was darunter eigentlich zu verstehen ist.


    "Straße der Wunder" erzählt von Juan Diego Guerrero, einem begabten Kind, das auf einer Müllkippe in Mexiko aufwächst. Seine Mutter ist eine Prostituierte, die außerdem als Putzfrau in einem Jesuitenkloster arbeitet, und Juan Diegos Schwester Lupe kann Gedanken lesen, aber sie spricht eine eigentümliche Sprache, die nur der Bruder versteht und also ständig dolmetschen muss. Wer der Vater der Kinder ist, weiß nicht einmal Esperanza, die Mutter, ganz genau, aber die Kinder leben bei einem Mann namens Riviera, der auch "el jefe" genannt wird, weil er der Müllkippendeponiechef ist, was auch immer das bedeutet, und möglicherweise ist dieser Riviera ja der Erzeuger. Juan Diego bringt sich mit Büchern, die er auf der Deponie vor dem Verbrennen rettet, das Lesen, das Schreiben und sogar die englische Sprache bei. Eines Tages wird er versehentlich vom mutmaßlichen Vater überfahren, wobei Juan Diego der rechte Fuß zerquetscht und für immer entstellt wird. Der "Müllkippenleser", wie Irving das Kind unermüdlich nennt, wird zum hinkenden Krüppel.


    In einer Gegenwartshandlung ist Juan Diego in den Fünfzigern und arrivierter Schriftsteller. Er bereist die Philippinen, um ein Versprechen aus seiner Kindheit einzulösen. Diese Odyssee enthält einige seltsame Begegnungen, aber meistens schläft der herzkranke Schriftsteller, weil ihn Betablocker in die Knie zwingen. In den Schlafphasen träumt er von seiner Kindheit, wovon das Buch wiederum erzählt - "Straße der Wunder" verflechtet die geträumte Vergangenheit und eine Gegenwart, die nicht weniger mystisch und indirekt daherkommt; irgendwann ist nicht mehr auszumachen, was davon im Kontext der Geschichte stimmt, imaginiert oder Grenzerfahrung ist.


    Das Buch ist mit Motiven nachgerade geflutet. Zwar gibt es keine Bären und niemand betreibt das Ringen, dafür spielen einige Episoden im Zirkus, Löwen beanspruchen eine große Rolle, und wieder einmal ist die Hauptfigur ein Schriftsteller, der sich viele ironische Gedanken über Lesererwartungen und memoirisches Schreiben macht. Es gibt einige Querverweise auf "Die wilde Geschichte vom Wassertrinker", Irvings zweiten Roman (1989), wobei an solchen Stellen letztlich keine Rolle spielt, ob Irving mit direkt autobiografischen Elementen Täuschungsmanöver konstruiert oder einfach die Lust verloren hat, sich etwas auszudenken. In der Hauptsache jedoch scheint es um die titelgebenden Wunder zu gehen, um jenen Bereich zwischen Esoterik und Wissenschaft, der noch keiner Seite zugeschlagen wurde, und die katholische Kirche mit ihren eigenartigen Regeln bekommt ordentlich ihr Fett weg, während deren Protagonisten - in erster Linie Jesuiten - sehr nett dargestellt werden. Die Figurenschar in diesem Roman ist umfangreich, manch eine Person taucht unvermittelt auf, gewinnt aber sofort zentrale Bedeutung, etwa die Transvestitin Flor, in die sich ein nach Mexiko migrierter Jesuit verliebt, um gemeinsam mit ihr den später schwesterlosen Juan Diego unter ihre Fittiche zu nehmen.


    Es gibt im Roman ein einziges Kapitel - Titel "Fünfter Aufzug, dritte Szene" - von ungefähr vierzig insgesamt, das mich überzeugt, gerührt und für ein Weilchen mit dem Rest versöhnt hat. Darin erzählt Irving vom späteren Leben des Helden in Iowa City, noch im jugendlichen Alter und mit der AIDS-Erkrankung der Pflegeeltern konfrontiert. Diese Kapitel verfügt über eine enorme erzählerische Dichte, reduziert in wohltuender Weise die ständigen Wiederholungen, in Klammern gesetzten Anmerkungen und in großer Menge verwendeten Kursiven, diese, mit Verlaub, Zumutung, die der Roman insgesamt ist. Denn das ist er leider. Der Autor hat versucht, Bedeutung durch eine Vielzahl von Andeutungen zu suggerieren, wirft dem Leser quasi eine ungeheure Menge von Indizien vor die Füße, auf dass sich dieser seine eigene, wirre Theorie zusammenbasteln mag. Anders gesagt: Ich hatte auch nach Beendigung dieser fast 800 sehr, sehr langweiligen Seiten nicht die geringste Ahnung davon, worum es auf ihnen ging. Am Unangenehmsten war dabei dieses Gefühl, einer äußerst lustlosen Abschiedsrede zu lauschen, einer vorweggenommenen Traueransprache, deren Redner sich nicht die Mühe gemacht hat, aus den Anmerkungen der Hinterbliebenen jene auszufiltern, die interessant sein könnten und in ihrer Gesamtheit etwas aussagen.


    An dieser Stelle könnte die übliche Liste der Iriving-Romane folgen, die den Rezensenten begeistert haben, ergänzt um jene, bei denen das nicht der Fall war, um dieses vergurkte Buch zwischen den anderen einzuordnen. Tatsächlich steht "Straße der Wunder" in deutlichem Zusammenhang zum vorigen Werk, nicht zuletzt, weil es die meisten Elemente daraus repetiert - vom Wunderkind über den Zirkus, Abtreibungsfragen, Kriegserlebnisse, Neu England, die Schriftstellerei u.v.a.m. Auf der anderen Seite steht die maßlose Übertreibung esoterischer Aspekte, unscharfer Ereignisse, vermeintlich origineller Figuren und Illusionen in der Illusion in keinem Zusammenhang mit der erzählerischen Substanz, die es vorher gab. "Straße der Wunder" handelt, um es auf den Punkt zu bringen, von nichts: Dem Leser bleibt überlassen, was er mit dieser Flut von Zufällen, eigenartigen Personen, Geistererscheinungen, Sexgeschichten, bedeutungsschwangeren Andeutungen und bis zum Erbrechen wiederholten irvingschen Eigenartigkeiten anfängt. Im Fall des Rezensenten war die Entscheidung einfach. Dieses Buch ist, von einem einzigen Kapitel abgesehen, nicht lesenswert, aber ein Meisterwerk ist es durchaus: Eine meisterliche Veralberung der Leser.

  • Ich bin bei Irving immer etwas zwiegespalten.. gibt es doch Bücher, die ich wirklich richtig gut fand, die ich sogar ein zweites Mal gelesen habe. Und dann wiederum welche, an deren Ende ich mich gequält habe und sogar einige, die ich abgebrochen habe.
    Manchmal ist er (meine Meinung) derart zwanghaft autobiografisch, dass mir manchmal ein "halt die Klappe, weiß ich schon seit den letzten vier Titeln", nicht verkneifen konnte.


    Ich bin etwas unschlüssig, ob ich die "Wunderstraße" tatsächlich brauche :gruebel weiß aber im Gegenzug, dass es genausogut sein kann, dass ich mich im Nachhinein ärgere, es als "unnötig" abgetan zu haben.


    Danke für Eure Rezensionen, ich muss da glaube ich nochmal in mich gehen...


    unentschlossene Grüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

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