Jo McMillan hat ihre recht ungewöhnliche Kindheit zu einem Roman verarbeitet und begann die anfangs moderatorenlose Veranstaltung zuerst mit einer kurzen Lesung.
Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend weitgehend isoliert von Gleichaltrigen in der englischen Kleinstadt Tamworth in der Nähe von Birmingham. Ihre Eltern waren die einzigen Mitglieder der Communist Party of Great Britain und da das Durchschnittsalter der Mitglieder um die 70 gelegen habe, verbrachte sie viel Zeit auf Beerdigungen. In Ermangelung von gleichaltrigen Freunden in Tamworth suchte sie über eine Kontaktanzeige in der Parteizeitung „Morning Star“ nach Brieffreunden. So begannen zahlreiche Brieffreundschaften in aller Welt, einige ihrer Freunde in der DDR habe sie später auch besucht.
Mit 17 sei sie dann selbst Parteimitglied geworden und ursprünglich voller Stolz die Familientradition fortzuführen. Weil sie von Anfang eine Zweiflerin war, die auch vieles hinterfragte, habe es schnell Probleme gegeben. Ihre Frage, warum die UdSSR und die USA nicht abrüsten würden, man könne die Erde schließlich nur einmal zerstören, habe fast einen Autounfall verursacht. Sie lernte schnell, dass keine eigene Meinung gewünscht war, entweder man war für die Partei oder dagegen. Eine der Figuren in „Paradies Ost“ vertrete die Meinung der jugendlichen Jo McMillan.
Einerseits sei es spannend gewesen, zu einer sehr ausgewählten Gruppe zu gehören, andererseits erzähle sie die Geschichte einer politischen Desillusionierung. Das Leben sei hart gewesen, wenn man auf der falschen Seite gestanden habe und nicht wenige Familien seien daran zerbrochen.
2009 habe sie damit begonnen, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben, wollte über die Politik schreiben und ging mit ihrer Mutter die damaligen Ereignisse durch. Damals befanden sich ihre Eltern im Scheidungskrieg und um weitere Probleme zu vermeiden, habe sie entschieden, ihren Vater im Buch einen sehr frühen literarischen Tod sterben zu lassen. So entstand eine fiktive Mutter-Tochter-Geschichte, in der sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, ohne an die genauen Details ihrer eigenen Vergangenheit gebunden zu sein. Während ihres Studiums habe sie praktischen in der British Library gelebt und wollte nicht wieder solchen Recherchezwängen unterworfen sein.
Früher sei ihre Mutter sehr zurückhaltend gewesen, wenn es um die Partei ging. Als Jo McMillan 2009 mit ihr viele Gespräche über die gemeinsame Vergangenheit führte, habe ihre Mutter zum ersten Mal sehr offen geredet. Zu diesem Zeitpunkt habe sie nichts mehr zu befürchten gehabt, mit Krebs im Endstadium.
Ihre Suche nach der Vergangenheit führte sie in viele kleinere Städte im Osten Deutschlands und sie entschied sich, die Erzählung 1984 enden zu lassen – lange bevor jemand den Fall der Mauer nur fünf Jahre später ahnen konnte.
Die meisten Menschen hätten bereitwillig über die Vergangenheit gesprochen, auch darüber wie es war, als recht plötzlich die Mauer fiel. Das sei so schnell gegangen, es zu verarbeiten habe für die Menschen viel länger gedauert, die plötzlich fast ohne eigene Identität dagestanden hätten und sich neu finden mussten. Man solle nicht nur an die Stasi denken, sondern auch an das alltägliche Leben zurückdenken, sowie an die anderen Schrecken.
Sie habe ein nettes Buch schreiben wollen, kein verurteilendes, weil Menschen und Freundlichkeit wichtig seien, auch für die Politik.
Nach dem Fall der Mauer habe sie der Politik den Rücken gekehrt und sei nach eigener Aussage eine individualistische narzisstische Konsumentin geworden, quasi ein Kind der 90er. Damit habe sie sich auch nicht sonderlich wohl gefühlt und lief so weit sie konnte von ihrem Leben davon – bis nach China. Dort sei Geld wichtiger alles andere, Menschen seien ersetzbar, egal ob Bildung oder das Gesundheitswesen, alles koste Geld. Ihrer Meinung dürfe über China keine rote Fahne fliegen. Das Frauenbild in der sich so rasch verändernden chinesischen Gesellschaft habe sie fasziniert, die Aufforderung an sie, die Haare lang wachsen zu lassen und mehr pink zu tragen. So kam sie auf die Idee, ihre Doktorarbeit darüber zu schreiben, wie Frauen dort in den Megastädten und auf dem Land leben, wie sich ihr Leben rasch verändere.
Sie sei während des kalten Krieges aufgewachsen, immer in dem Bewusstsein, dass morgen alles vorbei sein könne. Noch heute würde sie den eigenen Kühlschrank bis zum Anschlag füllen, ihre Vergangenheit könne sie nicht ganz hinter sich lassen.
Damit endete eine interessante Stunde mit einer englischen Autorin, die auch gut Deutsch spricht und einen anderen Blickwinkel zeigte.