Die Erwählten
Steve Sem-Sandberg
Roman, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
(Original: De utvalda)
1. Aufl. 2015, 525 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-93987-3
Der Autor (Verlagsangabe)
Steve Sem-Sandberg, geboren 1958, ist einer der renommiertesten schwedischen Autoren. Für den Roman »Die Elenden von Lódz« hat er den schwedischen August-Preis verliehen bekommen. Er lebt in Stockholm und Wien.
Inhalt und meine Meinung
In diesem Buch wird von Menschen berichtet, von denen bei offiziellen Gedenkveranstaltungen zu Ehren von Naziopfern nur selten die Rede ist.
Von geistig und körperlich behinderten Kindern, Kindern aus „rassisch minderwertigen“ Elternhäusern, die irgendwie in die Klauen der Fürsorgeeinrichtungen gerieten. Und von Ärzten und Ärztinnen, Krankenschwestern und Pflegern, die willig mitwirkten an der Tötung der „Idioten und Debilen“, die wehrlosen Kinder vor ihrem Tode noch quälten und für fragwürdige Experimente missbrauchten.
Dieses Buch erzählt von furchtbaren Ereignissen und ich musste es öfter aus der Hand legen. Für mich war es die seltene und ungewohnte Mischung aus Roman und Tatsachenbericht, die das Lesen fast unerträglich machte.
Beginne ich mit dem Äußeren. Es geht um eine reale Klinik, die in den Jahren 1904-1907 errichtete Niederösterreichische Landes Heil- und Pflegeanstalt für Nerven und Geisteskranke Am Steinhof. Auf dem Klinikgelände wurde eine Kirche für die Anstaltsbewohner gebaut, speziell für deren Bedürfnisse. Eine schöne Kirche, mit goldener Kuppel im Jugendstil mit mehreren Heiligen und Engelsstatuen.
1940 wurden die ursprünglichen Bewohner „entfernt“, die meisten von ihnen ermordet. In der Klinik wurde eine „Jugendfürsorgeanstalt“ eingerichtet mit 640 Betten.
Erzählt wird einmal aus der Sicht des zehnjährigen Adrian Ziegler, der als Sohn eines „Zigeuners“ auffällig wird und als „erbbiologisch minderwertig“ eingewiesen wird. Adrian Ziegler hat ein reales Vorbild, Friedrich Zawrel, mit dem der Autor viele Gespräche geführt hat.
Dann aus der Sicht der Täter. Da ist die Krankenschwester Katschenka, die sich nach anfänglichem Zögern in die Tötungsmaschinerie einfügt und es bis zur stellvertretenden Oberschwester bringt. Es wird beschrieben, wie durchschnittliche Menschen, die im Familienleben fürsorglich ihre Angehörigen betreuen, zu willigen Mittätern werden. Wie die Eltern, die ihre Kinder besuchen wollen oder sich darum bemühen, sie zurückzubekommen, teils mit Gewalt daran gehindert werden.
Meisterhaft berichtet Sem-Sandberg aus dem Alltag dieser Klinik, in der es in keiner Weise um Heilung oder Linderung von Krankheit oder Schmerzen geht, sondern allein um die Frage ob von einem Kind ein „Nutzen für die Volksgemeinschaft“ zu erwarten war. War dies nicht der Fall, wurde in Berlin um die Tötungsermächtigung ersucht und die Kinder mehr oder weniger schnell ermordet.
Die qualvollen Untersuchungen werden immer aus der Perspektive der Opfer geschildert, die häufig ohne jeden medizinischen Grund durchgeführte, äußerst schmerzhafte Lumbalpunktionen oder die Pneumoenzephalografie.
Als Leserin mitzuerleben, wie ein Kind diese Eingriffe erleiden muss, welche Auswege der gequälte Geist sich sucht, um dann doch nur wieder in die unerträgliche Realität zurückzukehren, ist kaum zu ertragen.
Jede unerwünschte Regung der Kinder, jeder Versuch, sich umeinander zu kümmern, wird streng bestraft und ihr Leben dadurch noch zusätzlich erschwert.
Die Täter werden hier mit ihren echten Namen genannt. Es sind die wirklichen Täter, die zum Teil nach dem Krieg verurteilt wurden, teilweise aber auch ungestraft von den Ergebnissen ihrer Taten profitieren konnten.
Auch Adrians Geschichte wird nach dem Krieg weiterverfolgt.
Das Buch endet mit der Beisetzung der sterblichen Überreste der aufgefundenen Opfer, die am 28. April 2002 auf dem Wiener Zentralfriedhof stattgefunden hat.
Gerade heute halte ich „Die Erwählten“ für ein wichtiges Buch, das viele Leser verdient. Auch wenn es keine leichte Lektüre ist.
Es gibt unzählige Sätze aus diesem Buch, die ich nicht so schnell vergessen werde. Eine Stelle möchte ich zitieren:
Und hatten sie dann ihren Entschluss gefasst, kamen sie zurück, um das eigentliche Sterben zu studieren. Immer in der Gruppe. Denn du kannst nicht allein dastehen, den Blick in die Augen des neugeborenen Tieres gerichtet: ein Tier, das nichts weiß von dem infernalischen Gebrechen, das es lebensuntauglich macht. Töten kannst du nur als Gruppe, denn wenn viele daran beteiligt sind, ist es kein Lebewesen mehr, das man tötet, sondern eine Bedrohung, die man bekämpft.
(S. 151)