So, Hi erstmal.
Ich wollte hier mal meine erste Geschichte an die Öffentlichkeit bringen.
Würde mich freuen, wenn ihr sie bewerten könntet und konstruktive Vorschläge für Verbesserungen hättet.
Eine alte Bekanntschaft
Es regnet. Schon seit einer Stunde. Die Menschen, die vor kurzer Zeit noch langsam und plaudernd durch den kleinen Park vor dem Peter Sonnenschein Altenheim schlenderten und dabei die späte Herbst wärme genossen, rennen nun, wenn nicht schon längst vor dem Regen geflüchtet, von Unterstand zu Unterstand um nicht zu nass zu werden. Vergeblich. In den Pfützen, die sich auf dem Rasen und den schmalen Kieswegen gebildet haben, spiegeln sich die Bäume, welche sich, ihr Blattkleid schon seit einigen Wochen abgeworfen, und nun wie nackte, verdorrte Skelette aussehend, im immer stärker werdenden Wind bedrohlich biegen und winden. Vor meinen Füßen bildet sich ein kleines Rinnsal das den Becher Kaffee, den ich eben getrunken habe und der nun leer ist, wegspült wie ein Boot, das von den Stromschnellen gepackt und fortgetrieben wird. Je länger es regnet, desto stärker fließt auch mein kleines Rinnsal und gräbt sich immer weiter und beständig in den Kiesweg ein. Ich muss an einen großen, reißenden Fluss denken, der auf seinem Weg durch ein Land Gebirge und Täler, Wälder und Städte hinter sich lässt. Und dann denke ich wieder an Tom.
Tom war mein kleiner Bruder. Er war vier Jahre jünger als ich, aber der beste Freund den ich bis dahin hatte. Wir waren praktisch eins, waren immer zusammen. Ich erinnere mich an den Tag seiner Geburt. Wie gesagt, ich war gerade Vier, aber diesen Tag hab ich jetzt noch so klar vor mir, als wäre es gestern gewesen. Mein Vater weckte mich schon sehr früh, die Sonne schien noch nicht einmal und ich fragte was los sei. Er sagte mir mit knappen Worten, dass das Baby kommen würde und Frau Steward, die Nachbarin da sei um auf mich aufzupassen. Als ich Mutter am nächsten Nachmittag im Krankenhaus besuchte, stellte sie mir das Bündel auf ihrem Arm als meinen kleinen Bruder Tom vor. Ich schaute ihm ins Gesicht. Tom hörte für einen Moment auf zu zappeln und wurde ganz ruhig. Es war nur ein kurzer Augenblick, in dem wir uns beide ganz tief in die Augen blickten, aber in diesem Moment wurde mir bewusst, dass Tom und ich die besten Brüder werden würden, die die Welt je gesehen hat und ich beschloss ihm immer beizustehen und ihn vor jedem Übel zu bewahren. Aber das gelang mir leider nicht.
Es war ein Samstag morgen. Ein leichter Nebel lag in der Luft, der die Sicht beschränkte. Es war noch früh, vielleicht halb Neun, aber Tom und ich waren schon auf den Beinen, waren bereits Angezogen und hatten das Frühstück schon hinter uns, denn es war Samstag, unser Tag, der Tag an dem wir auf den Spielplatz wollten. Das war schon fast ein Ritual in unserem Haus, jeden Samstag morgen gingen wir zusammen mit Mutter auf den Spielplatz und blieben dort bis mittags. Der Spielplatz war gleich auf der andere Straßenseite, direkt vor unserem Haus. Er war fantastisch, der beste Spielplatz, den sich ein 10 jähriger Piratenkapitän wie ich und seine Mannschaft, bestehend aus meinem 6 Jahre altem Bruder, nur wünschen konnten. Da gab es tatsächlich ein kleines Holzschiff mit einer Rutsche und einer Schaukel, auf dem Deck. Es gab natürlich auch ein Karussell, Kletterstangen und riesige Sandkästen, in denen wir Schätze vergruben.
Tom und ich waren schon einige Zeit auf hoher See, als Mutter uns zu sich rief. Sie sagte uns, dass sie nur schnell ins Haus gehen würde um etwas zu holen. Sie hielt mich mit beiden Armen an den Schultern, schaute mir tief in die Augen und gab mir den Auftrag auf Tom aufzupassen und ihn nicht aus den Augen zulassen. Dann ging sie in Richtung Haus davon. Ich schaute ihr nach, sah wie sie die Straße überquerte und zur Haustür eilte.
Tom, der immer noch neben mir Stand, zog auf einmal an meiner Jacke, schaute mir ins Gesicht und sagte, dass er auch kurz nach Hause gehen würde um etwas zu trinken. Ich wollte es ihm Ausreden, da rannte er schon los. Einen Moment blieb ich einfach stehen und wollte ihn gehen lassen, aber dann erinnerte ich mich an den Auftrag, den Mutter mir gegeben hatte. Also rannte ich hinter ihm her. Tom erreichte die Straße zuerst. Aus den Augenwinkeln sah ich das Auto und blieb instinktiv stehen. Ich rief Tom noch zu, anzuhalten, aber da war es schon passiert. Das Auto erfasste Tom mit voller Wucht. Er wurde auf die Motorhaube gerissen und schlug hart mit dem Kopf auf . Ich sah wie er über die Windschutzscheibe auf das Dach geschleudert wurde und wie sein kleiner Körper stark auf der Straße aufschlug. Das alles passierte innerhalb weniger Sekunden, aber ich habe noch jedes einzelne Bild vor Augen. Die Szene brannte sich in meinen Kopf und es war klar, dass ich sie nie wieder vergessen würde. Mutter hörte den Krach auf der Straße und kam aus dem Haus gestürmt. Sie sah was passiert war und rannte sofort zu Tom. Ich konnte mich nicht bewegen. Mutter hob Toms Körper an und schüttelte ihn, sie weinte und rief nach mir. Aber ich stand einfach nur da und rührte mich nicht. Der Fahrer des Wagens stieg nach einer Weile aus. Er torkelte und hielt sich an der offenen Wagentür fest um nicht umzufallen. Es war offensichtlich, dass er zu viel und zu lang getrunken hatte. Der Fahrer kam wahrscheinlich gerade aus einer der Kneipen in der Stadt, eine die bis in die frühen Morgenstunden geöffnet hatte. Der Mann sah schlimm aus. Sein Gesicht war ganz aufgequollen und die Augen rot. Die länglichen, braunen Harre hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht und sein langer Mantel war so schmutzig, dass man die ursprüngliche Farbe nur noch erahnen konnte. Meine Mutter war so mit dem regungslosen Tom beschäftigt, dass sie den Mann nicht realisierte. Unsere Nachbarn und Menschen auf den Bürgersteigen eilten zum Unfallort. Ein Krankenwagen und die Polizei wurden gerufen. Der betrunkene Fahrer hatte sich in der Zwischenzeit aus dem Staub gemacht, in der ganzen Aufregung war es niemandem aufgefallen. Die Versuche der Nachbarn und der Polizei ihn zu finden waren vergeblich. Ich ging zu Frau Steward, da Mutter natürlich mit Tom im Krankenhaus war. Am Abend stand Vater mit Tränen im Gesicht und um Fassung ringend vor Frau Stewards Tür, um uns über den Zustand meines kleinen Bruders aufzuklären.
Tom starb an diesem Samstag vor vierzehn Jahren. Die Zeit nach Toms Tod war für uns alle sehr schwer. Ich sprach lange mit niemandem und wurde schlecht in der Schule, Vater verlor seinen Job und die Ehe meiner Eltern drohte zu brechen. Es dauerte fast zwei Jahre bis wir alle wieder wie eine Familie an einem Tisch saßen und miteinander redeten und sogar gemeinsam lachten. Ich schaffte einen guten Realschulabschluss und wurde Krankenpfleger im Peter Sonnenschein Altenheim. Und somit wären wir in der Gegenwart, an diesem verregneten Tag, im Jahr 2004.
Es mag purer Zufall sein, merkwürdiges Glück oder einfach Schicksal, aber heute Früh bekamen wir einen neuen Pflegefall hier im Altenheim. Einen alten Mann im Rollstuhl der vom Leben gezeichnet zu sein scheint und Altshaimehr hat, wie die Oberschwester mir sagte. Sie hatte ihn meiner Station zugeteilt und so machte ich mich, mit seinem Krankenblatt bewaffnet, auf den Weg unserem neuen Bewohner zu begrüßen. Ich hatte das Zimmer noch nicht ganz betreten, da sah ich ihn schon in seinem Rollstuhl sitzend, den Blick einfach nur gerade aus ins leere gerichtet. Sofort wurde mir klar wer da vor mir saß. Das Gesicht war viel älter und abgemagert, nicht mehr so voll und aufgedunsen wie an jenem Tag. Es war der Unfallfahrer, der Mann, der meinen kleinen Bruder im Suff Tod gefahren hat und sich dann, ohne ein Zeichen des Mitgefühls oder einer Entschuldigung, davon gemacht hat.
Tränen füllten meine Augen und mir wurde schlecht. Ich drehte mich und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. Im Flur lehnte ich mich schwer atmend an die Wand und sank langsam zu Boden. Eine Kollegin kam vorbei und sah mich in meinem Elend auf dem Boden kauern und fragte mich ob alles in Ordnung sei. Ich erklärte ihr, dass es mir nicht so gut ginge und bat sie, sich um den neuen Bewohner zu kümmert, damit ich rausgehen könnte um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Sie half mir gern und schlug vor, mich krank schreiben zu lassen, um mal wieder ordentlich auszuspannen. Auf dem Weg nach Draußen, wurden meine Schritte immer schneller bis ich schließlich zu rennen begann, vorbei an Bewohnern und Pflegern, an Gästen, kleinen Kindern und deren Eltern. Um mich herum nahm ich nichts mehr war, meine Kehle schnürte sich zu und mir wurde heiß. Draußen angekommen nahm ich die würzige Herbstluft mit schnellen Zügen in mich auf. Als ich wieder zu mir kam und mich ein wenig beruhigt hatte, schaute ich mich um und sah die Parkbank, auf der ich schon viele Mittagspausen, an warmen Sommertagen verbracht hab und auf der ich mich schließlich nieder ließ, um die folgen des Wiedersehens mit meinem alten Bekannten zu überdenken.
Meine Kleider sind vom Regen schon ganz durch geweicht. Ich werde mich noch erkälten, wenn ich länger hier sitze. Aber was nützt es, ich kann jetzt nicht hinein gehen. Dort drinnen wartet immer noch der Mörder meines Bruders. Auf der anderen Seite kann ich auch nicht ewig hier sitzen bleiben. Den Job wechseln? Ausgeschlossen, nicht in dieser Zeit. Arbeitsplätze sind rar und wer weiß wann ich was neues finde und von irgendetwas muss ich ja leben. Ich könnte einen Antrag stellen um ihn versetzen zu lassen, in ein anderes Altenheim vielleicht. Damit würde ich nie durchkommen.
Rache. Auf einmal schlägt es mir wie eine Faust in den Kopf - Rache. Ich könnte meinen Bruder rächen. Der Kerl ist alt, mit einem Nervengift könnte ich ihn töten ohne das es jemand merkt. In solchen Fällen wird keine Autopsie gemacht, er wäre halt einfach dem Alter erlegen. Wer schert sich schon darum ob ein Alter Mann in einem Altenheim stirbt, dass passiert jeden Tag, auf der ganzen Welt, dass ist etwas ganz normales. Ich würde mir das Gift besorgen, mich während der Nachtschicht in sein Zimmer schleichen und es ihm einflössen. Fertig.
Einen Menschen zu töten ist hart, ein Verbrechen, klar, aber lohnt es sich nicht diese Tat zu begehen, um endlich Ruhe zu finden, endlich loslassen zu können?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht ob ich dazu fähig wäre. Könnte ich einen Mord mit meinem Gewissen vereinbaren? Er hat auch jemanden getötet, meinen Bruder, das steht fest. Tom würde es nicht wieder lebendig machen. Er hätte es sicher auch nicht gewollt, dass ich jemanden für ihn töte. Was soll ich dann tun? Wie soll ich mich verhalten? In der Kirche wird Vergebung gepredigt. Aber wie soll ich jemandem vergeben der mir etwas so kostbares weggenommen hat? Wahre Größe zeigen?
Noch während ich hier sitze und mir Gedanken darüber mache, was ich tun soll, bricht die Sonne durch die grauen Wolken. Ich höre Toms Lachen in meinem Kopf und eine beruhigende Wärme macht sich in mir breit. Ich erinnere mich an die schönen Stunden, die ich zusammen mit meinem Bruder hatte und sehe sein lachendes Gesicht vor mir. Diese plötzlichen Erinnerungen schenken mir Kraft und verdrängen alle anderen Gedanken aus meinem Kopf. Ich stehe auf von meiner Parkbank, sehe zum Altenheim und setze mich in Bewegung.
Es ist wahr, ich weiß immer noch nicht was ich tun soll, aber dass ist egal fürs erste. Ich gehe zurück zum Altenheim, um unseren neuen Bewohner zu begrüßen, meine alten Bekanntschaft.