Tom McCarthy: Satin Island

  • Tom McCarthy: Satin Island
    Deutsche Verlags-Anstalt 2016. 224 Seiten
    ISBN-13: 978-3421047182. 19,99€
    Originaltitel: Satin Island
    Übersetzer: Thomas Melle


    Verlagstext
    U., der sich selbst »Firmenanthropologe« nennt, erhält den Auftrag, den Großen Bericht zu schreiben, ein universales ethnografisches Dokument, das unser gesamtes Zeitalter zusammenfasst. Doch schnell fühlt er sich überwältigt von der schieren Datenmenge und der augenscheinlichen Unmöglichkeit, das Vorgefundene in eine irgendwie geartete, sinnstiftende Erzählung zu übersetzen. Als er sich zu fragen beginnt, ob sein Vorhaben überhaupt gelingen kann, verändert ein Traum von einer apokalyptischen Stadtlandschaft, in deren Mitte eine gigantische Müllverbrennungsanlage thront, seine Wahrnehmung. - Auf eine Art, wie nur er es kann, fängt Tom McCarthy ein, wie wir unsere Welt erleben, wie wir versuchen, ihr einen Sinn zuzusprechen und die Erzählung, die wir für unser Leben halten, zu erkennen. Ein beunruhigender Roman, der verspricht, das erste und letzte Wort über die Zeit zu formulieren, in der wir uns bewegen – sei sie modern, postmodern oder welches Label auch immer wir ihr geben wollen.


    Der Autor
    Tom McCarthy, Jahrgang 1969, lebt und arbeitet als Künstler und Schriftsteller in London. Er veröffentlicht Erzählungen, Essays und Artikel über Literatur, Philosophie und Kunst. Die von ihm gegründete International Necronautical Society (INS), ein semifiktives Avantgarde-Netzwerk, stellt in Galerien und Museen auf der ganzen Welt aus. Seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Der Erstling, "8 1/2 Millionen" (dt. 2009), wurde in der englischsprachigen Welt zum Bestseller, erhielt den Believer Book Award und wurde verfilmt. "K", McCarthys dritter Roman, wurde u.a. 2010 für den Booker-Preis nominiert und verschaffte ihm den internationalen Durchbruch. "Satin Island" ist sein neuestes Werk und stand auf der Shortlist des Booker-Preises 2015.


    Inhalt
    Der Icherzähler U. ist auf dem Flughafen Turin gestrandet und vertreibt sich die Zeit, indem er Film-Berichte über Ölkatastrophen betrachtet. U. assoziiert zum Thema Flughafen und verliert sich in Vorstellungen vom Drehkreuz über die Radnabe bis zum Zahnkranz. U. arbeitet als Anthropologe/Anthropograf in einer international tätigen molochartigen Unternehmensberatungs-Gesellschaft. Sein Berufswunsch entstand in seiner Kindheit beim Betrachten von Fernsehdokus über fremde Länder. Er befasst sich nun mit Branding, mit der Beratung kompletter Regionen und erstellt Material für Regierungen, die es wiederum an die Öffentlichkeit und die Presse weitergeben. Als Wissenschaftler hat er praktisch die Seiten gewechselt von der hehren Forschung zur profanen Gewinnerzielungsabsicht. Statt über Firmen forscht U. jetzt für diese Firmen, erzeugt Fiktion in ihrem Interesse. Er überhöht bei seiner Tätigkeit u. a. alltägliche Gebrauchsartikel und gibt den Dingen so eine Bedeutung. Ein Kollege U.s arbeitet zu Verkehrsströmen in Lagos, ein absurdes Unterfangen in einer Stadt, der jemand ein Straßensystem für Linksverkehr aufgepfropft haben muss und in der trotz alledem weiter rechts gefahren wird.


    U. soll seinem Arbeitgeber den "Großen Bericht" über unser Zeitalter abliefern, dessen Form sich im Laufe der Arbeit von selbst ergeben soll, eine Arbeit, an deren Sinn ein denkender Mensch sofort zweifeln müsste. Bisher konnte U. zwischen seinen Aufträgen noch immer eigenen Forschungsinteressen nachgehen – ein paradiesisch klingender Zustand. Allein zum Thema Anthropologie, wem nützt sie, wen ernährt sie und was bezweckt eine Gesellschaft damit, kann man sich zwischen den kurzen Abschnitten in endlosen Assoziationen bewegen. U. steht für mich stellvertretend für die Sinnkrise moderner Gesellschaften zwischen Tätigkeiten, die ein Individuum gern ausüben möchte, und der Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn eine Person namens Daniel "Unter dem Pflaster liegt der Strand" zitiert, könnte ich dazu stundenlang assoziieren. Der Titel "Satin Island" selbst ist von U. ebenfalls assoziiert und aus Staten Island entstanden.


    Fazit
    Die einzelnen Abschnitte des Buches, in Form einer Dezimalklassifikation nummeriert, wirken wie ein Selbstbedienungsladen, aus dem sich jeder Leser Versatzstücke aussuchen kann, die bei ihm eigene Ideen in Gang setzen werden. Anfangs habe ich mich gefragt, ob die Kapitelnummerierung einem Mathematiker eine bestimmte Botschaft übermitteln könnte. Doch sie scheint hier eher als Werkzeug des Archivars zu stehen, der Artefakte sammelt und katalogisiert. U. selbst wirkt wie ein Archivar, der "ordnet, zähmt und katalogisiert". Die erforschten Artefakte wiederum werfen die Frage auf, weshalb Wissenschaftler und Kuratoren sich mit Dingen beschäftigen, die einmal Völkern gehörten, deren Lebensgrundlagen inzwischen endgültig zerstört wurden. Womit wir wieder bei den Ölkatastrophen wären, die U. sich aus warmer, sauberer und sicherer Position auf Bildschirmen ansieht. "Satin Island" hat auf mich wie ein in der Vergangenheitsform erzählter Remix gewirkt, der erstaunliche eigene Gedanken in Gang zu setzen vermag, wenn seine Leser Interesse an Anthropologie, Forschungs-, Planungs- und Organisationsprozessen haben.


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    Zitat
    "Es wäre genauer, anstatt "machte mich berühmt" zu sagen, dass das Buch mir "einige Aufmerksamkeit verschafft" habe – hier und da eine Lesung, hier und da ein Zeitungsartikel; und, wie man so sagt, in die Zeitung von heute wird morgen der Fisch (samt seinen Innereiendeutungen) gewickelt. Die Aufmerksamkeit war jedoch groß genug, um mich auf Peymans Radar zu hieven und dort zu piepsen oder pulsieren, oder was die Dinge auf Radaren sonst so tun; was wiederum ihn dazu animierte, mich von den sterbenden Ästen der Alma Mater wegzupflücken und in das fiebrige Treibhaus seiner Firma umzupflanzen." (Seite 36)


    8 von 10 Punkten