Worum es geht
Seit dem 19. Jahrhundert ist Europa unaufhaltsam auf dem Weg in die Moderne. In dieser sich wandelnden Welt entwickelt sich auch ein neues Leitbild: die vitale Persönlichkeit. Alte Werte wie Ruhe, Gelassenheit und Stabilität sind keine Tugenden mehr, sondern signalisieren Stillstand und Rückschritt. Flexibilität ist das Zauberwort der Moderne, nur wer ständig in Bewegung ist, kann mit der rasanten Entwicklung mithalten.
Doch diese Umstrukturierung einer ganzen Gesellschaft fordert auch ihren Preis; immer öfter ist von "Erschöpfung" die Rede, einer Antriebslosigkeit, die sich nicht durch die Erschlaffung der Muskelkraft nach vollbrachter Arbeit definiert. Deren Ursachen liegen tiefer, seien vielmehr im Leiden des Menschen an der Sinnlosigkeit und der Leere seines Daseins zu suchen. Durch die automatisierten Arbeitsprozesse des Industriezeitalters habe der Mensch den Lebensrhythmus verloren, der keinen Raum mehr für die Entfaltung der eigenen Natur lasse, und zur Entwurzelung führe.
Wie es mir gefallen hat
Der Großteil des Buches befasst sich mit den Maßnahmen, die gegen die "Erschöpfung" angewandt werden, ein Phänomen, das sich wie eine Epidemie ausbreitet. Vom "nervösen Zeitalter" ist die Rede, als "Neurasthenie" wird das Krankheitsbild bezeichnet, das sich vor allem in intellektuellen und künstlerischen Kreisen manifestiert, doch soll selbst der "Eiserne Kanzler" nicht davor verschont geblieben sein.
Unterschiedliche Schulen mit diversen Kuren und Diäten boten Lösungen an, doch stellte sich immer dringender die generelle Frage, wie die Menschheit der Zukunft beschaffen sein müsste, um den steigenden Anforderungen gewachsen zu sein. Über die Züchtung einer elitären Rasse wird nachgedacht, über das Ausrotten alles Kranken und Schwachen. Mit bahnbrechenden Forschungen auf dem Gebiet der Endokrinologie und dem Aufstieg der Ernährungsphysiologie sollte der Weg zu diesem Ziel geebnet werden.
Nach dem Ersten Weltkrieg bekommt der Begriff der Erschöpfung eine neue Dimension. Die Idee der Umkehr und Erneuerung fasziniert; von fernöstlichen Vorbildern, aber auch dem Asketen- und Mönchtum erhofft man sich die Auffrischung der ermatteten Energien.
Der Grundtenor des Buches, die Symptome der Erschöpfung und deren Behandlung mit unterschiedlichsten Kuren und Diäten, aber auch einer geistigen Erneuerung, hat sich in allen nur erdenklichen Varianten, mit derart vielen ausführlichen Beispielen so oft wiederholt, dass mich die Lektüre größtenteils gelangweilt hat. Besonders enttäuschend fand ich, dass der Autor nur die Jahrhundertwende im Visier hatte, sich nicht mit der Nachkriegszeit befasste und auch keinen Bezug zur Gegenwart herstellte.
Erst ganz am Ende des Buches wird der Soziologe Richard Sennett zitiert, der den Prototyp des flexiblen Menschen ohne soziale Bindungen nicht für überlebensfähig hält.
Leider konnte ich über das "Zeitalter der Erschöpfung" keine neuen Erkenntnisse gewinnen, während die Aktualität des Themas neben dem historischen Rückblick sicher auch eine zeitgemäße Betrachtungsweise gerechtfertigt hätte.