Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21.Jahrhunderts

  • Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21.Jahrhunderts Verlag: S. FISCHER 2016. 256 Seiten
    ISBN-13: 978-3100024701. 19,99€


    Verlagstext
    Der erste Roman von Deutschlands meistgespieltem Dramatiker
    Nachts auf einer eisglatten Autobahn, 80 Kilometer vor Berlin: Ein Tanklaster legt sich quer und kippt um. Auf dem Standstreifen, kurz im Blaulicht der Feuerwehr: ein einzelner Wolf. - Bis Berlin reichen die Spuren des Wolfs, und sein Weg kreuzt sich immer wieder mit den Wegen und Schicksalen unterschiedlicher Menschen. Mit zwei Kindern, die von zu Hause weggelaufen sind und durch Wald und Stadt irren. Mit dem polnischen Bauarbeiter, der verzweifelt nach seiner Freundin sucht. Mit der Frau, die morgens auf dem Balkon die Tagebücher ihrer Mutter verbrennt. Wie in einem Schwarzweißfilm, in dem gelbes Winterfeuer flackert, ziehen die Bilder und Geschichten dieses Romans an uns vorbei. Sie erzählen vom Suchen und Verlorensein, von der Kälte unserer Zeit und der Sehnsucht nach einem anderen Leben. Ein Roman von großer visueller Kraft, dessen Poesie und Schönheit man sich nicht entziehen kann.


    Der Autor
    Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: „Die Frau von früher“, „Trilogie der Tiere“ und „Der goldene Drache“.


    Inhalt
    Der junge Pole Tomasz ist auf der Heimreise aus Polen nach Berlin, wo er mit einer Baukolonne Mietshäuser entkernt. Tomasz steckt nach einem Massenunfall im dichten Schneegestöber im Stau fest, als er plötzlich einen Wolf in Richtung Berlin ziehen sieht. Tomasz fotografiert den Wolf; sein Foto wird verkauft und in allen deutschen Zeitungen abgedruckt. Um die Sichtung des Wolfs, der ungewöhnlich mager wirkt, gruppiert Roland Schimmelpfennig extrem kurze Episoden, die teils kürzer als eine Buchseite sind. Parallel zu Tomasz Wolfssichtung laufen die beiden Jugendlichen Elisabeth und Micha aus einem ostdeutschen Dorf in der Nähe der polnischen Grenze weg, stirbt ein älterer Mann am Fuß seines Hochsitzes, machen sich die Eltern der Jugendlichen auf die Suche nach ihren Kindern und beschließt der Inhaber eines Spätkaufs in Prenzlauer Berg, diesen Wolf unbedingt zu töten. Einige Figuren gehören zu jenen Deutschen, die glaubten, niemals auf legalem Weg ihren Staat hinter der Mauer verlassen zu können. Alle Episoden des komplexen Geflechts hängen mit allen anderen zusammen. Die Wege der Personen haben sich wie auf Rasterlinien einer Landkarte bereits früher gekreuzt und werden sich wieder kreuzen. Es geht um Lebensbedingungen osteuropäischer Wanderarbeiter in Berlin, um Menschen, die allein hunderte von Quadratmetern Wohnraum zur Verfügung haben, um Städter, die in abgelegene ostdeutsche Dörfer ziehen, um Alkoholismus – und um eine Nation, die sich durch einen halb verhungerten Wolf in einer Großstadt in kollektive Aufregung versetzen lässt. Um den Wolf als Katalysator drehen sich die Ereignisse, als Impulsgeber hätte ebenso gut das Gewehr des Jägers dienen können oder das entkernte Mietshaus am Ende der Lychener Straße mit seinen ehemaligen Bewohnern.


    Aufgrund der Wolfsthematik war Schimmelpfennigs Episodenroman für mich persönlich ein lesenswertes Buch, weil es eine Gesellschaft demaskiert, in der das gesunde Maß dafür verloren gegangen ist, was für uns Menschen wirklich ein Risiko ist und was nur Hype einer abstrakten Bedrohung, um offenbar in erster Linie das finanzielle Überleben von Medien zu sichern. Keine der Figuren hat mehr eine Vorstellung davon, was ein Wolf ist. Um etwas über Wölfe zu erfahren, müssten sie Romane von Tolstoi lesen oder mit Menschen aus der Türkei oder Rumänien sprechen, in deren Heimatdörfern noch Wölfe gesehen werden. Es ist die Gesellschaft, in der Lehrer in vielen ersten Schulklassen Kindern zuerst erklären müssen, was ein Eichhörnchen ist und was Löwenzahn, ehe sie die entsprechenden Wörter schreiben lernen.


    Fazit
    Wenn ich an den für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Text jedoch mit dem Anspruch herangehe, dass er auch anderen Lesern außer mir gefallen soll, stehen die Konstruktion des Plots und sperrige Formulierungen aus „Vater des Jungen“ und „ Mutter des Mädchens“ einer Empfehlung entgegen. Ein Episodenroman an sich spricht eher leidensfähige Romanleser an. Vielschichtiger und stilistisch runder als Schimmelpfennigs Fährtensuche im Schnee Berlins und Ostdeutschlands finde ich in diesem Frühjahr Antje Rávic Strubels Roman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“, in dem sie ebenfalls in Episodenform Rand- und Zwischenregionen unserer Zivilisation und unserer Beziehungen erkundet.


    Knappe 6 von 10 Punkten

  • Danke besonders für's Fazit - mir hatte die Leseprobe gefallen, aber ich bin eigentlich kein Leser von Kurzgeschichten und Episodenroman...ich muss mich beim Lesen so richtig laaaange hineinlegen können.
    Ich werde also in der Lieblingsbuchhandlung etwas länger mit dem Buch in der Hand herumstehen müssen

  • Wie ein roter Faden zieht sich die Erscheinung eines Wolfes, der von Polen nach Berlin und dort durch die kalte Winterlandschaft streift, durch dieses Buch. Er begegnet oder erscheint den verschiedensten Menschen, die sich im Laufe des Romans verweben, entfremden, suchen, finden, verlieren. In einer unverschnörkelten, reduzierten Sprache erschafft der Autor gewaltige Bilder und lässt dabei genug Raum für subtile Abgründe der eigenen Phantasie in uns, den Lesern. Mal taucht dieser Wolf nur auf, mal wirkt er bedrohlich, mal weckt er düstere Gedanken und Gewaltphantasien, mal lässt er kalt. Ein Tier, das diejenigen spiegelt, die in einer kalten Stadt, in einer kalten Zeit, umherirren, ungewiss, ob sie jemals ankommen.


    Nichts in diesem Buch ist gut und nichts wird gut werden. Es ist einfach so, wie es ist. Ein Spiegel. Es zeigt.


    Klar, reduziert, bitter kalt. Ein großartiger Roman.

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)