Peter Stamm: Weit über das Land
Verlag: S. FISCHER 2016. 224 Seiten
ISBN-13: 978-3100022271. 19,99€
Verlagstext
Ist es ein neuer Anfang, wenn man alles hinter sich lässt? Der neue große Roman von Peter Stamm.
Ein Mann steht auf und geht. Einen Augenblick zögert Thomas, dann verlässt er das Haus, seine Frau und seine Kinder. Mit einem erstaunten Lächeln geht er einfach weiter und verschwindet. Astrid, seine Frau, fragt sich zunächst, wohin er gegangen ist, dann, wann er wiederkommt, schließlich, ob er noch lebt. Jeder kennt ihn: den Wunsch zu fliehen, den Gedanken, das alte Leben abzulegen, ein anderer sein zu können, vielleicht man selbst. Peter Stamm ist ein Meister im Erzählen jener Träume, die zugleich locken und erschrecken, die zugleich die schönste Möglichkeit und den furchtbarsten Verlust bedeuten. "Weit über das Land" ist ein Roman, der die alltäglichste aller Fragen stellt: die nach dem eigenen Leben.
Der Autor
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt „Agnes“ 1998 erschienen vier weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt der Roman „Nacht ist der Tag“ und unter dem Titel „Die Vertreibung aus dem Paradies“ seine Bamberger Poetikvorlesungen.
Inhalt
Thomas und Astrid lassen ihren letzten Urlaubstag im Garten ausklingen. Die Hecke, die Garten und Bewohner schützen soll und im Sommer Schatten spendet, wirkt plötzlich bedrohlich, das Grundstück wie von einer Mauer umgeben. Offenbar hat besonders Thomas diese Beklemmung empfunden; denn am anderen Morgen bricht er aus seiner Arbeitnehmer-Routine aus und marschiert statt zur Arbeit direkt in den Wald. Er versteckt sich vor anderen Menschen, entwickelt Szenarien, wie sein Leben von nun an sein wird, durchkreuzt seine Gedanken jedoch selbst. Vorbereitet ist sein Ausbruch nicht, aber Thomas hat wenigstens seine Sparkassenkarte dabei. In der Position als neutraler Beobachter habe ich Thomas wegen seiner Farblosigkeit einen Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben zunächst nicht zugetraut.
Thomas war beruflich und privat ein Durchschnittsmensch, ohne Ehrgeiz, gerade darum schockiert seine Verweigerung des alltäglichen Trotts. Sein Weglaufen wirkt wie ein Versuch, der Überschaubarkeit und Durchschnittlichkeit seines Lebens zu entkommen. Mit wachsender Entfernung von zuhause wird seine völlige Erschöpfung durch ein ereignisloses Leben deutlich, auch dass Thomas seine Ehe nur als Fassade erlebt hat. Für Astrid ist das Verschwinden ihres Mannes noch etwas Abstraktes, das man in der Zeitung lesen könnte, das einen selbst jedoch nicht betrifft. Sie muss zwischen dem realen Thomas und ihren Fantasien unterscheiden lernen und rechtfertigt zunächst noch Thomas Abwesenheit gegenüber den Kindern und Thomas Kollegen. Sie weicht der Peinlichkeit der Situation aus, doch wenn Thomas nicht zurückkommt, wird sie als nicht berufstätige Hausfrau irgendwann kein Einkommen mehr haben. Ein Mann wie Thomas ist so durchschnittlich, dass es schwerfällt, bei der Polizei eine Personenbeschreibung abzugeben. Zu dem Polizisten, der Astrids Vermisstenanzeige aufnimmt, entwickelt sie eine besondere Beziehung, sie und Patrick bilden privat eine irritierende neue Einheit. Wenn Thomas in den Wäldern und Bergen bleiben will, braucht er endlich einen Plan, denn der Winter steht bevor und die Tiere werden schon ins Tal zurückgeholt. Die Handlung wird nicht linear erzählt, Rückblenden erzählen von den Figuren, ein Handlungsstrang schreitet bis in eine fantasierte Zukunft voran.
Fazit
Mit einer ungewöhnlich zurückgezogenen Hauptfigur und Peter Stamms vertraut distanziertem Erzählton kann „Weit über das Land“ an frühere Romane wie „Agnes“ oder „An einem Tag wie diesem“ anknüpfen.
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Zitat
„Sonst waren keine Menschen auf den Bildern, nur immer wieder zottelige Schafe mit schwarzen Köpfen und bunten aufgesprühten Farbmarkierungen, ganze Herde oder einzelne Muttertiere mit ihren Lämmern. Weiße Häuschen, die verstreut in der überdimensionierten Landschaft standen, Ruinen von Ställen, zusammengezimmerte Zäune, hohe Klippen und darunter das Meer, eine endlose Fläche, die sich am Horizont in der Helligkeit des Himmels verlor. Die Landschaft übte eine starke Anziehung auf Thomas aus, es schien ein Ort des Abschieds und zugleich der Ankunft zu sein.“ (Seite 198)
9 von 10 Punkten