Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des menschlichen Herzens. Episodenroman

  • Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des menschlichen Herzens. Episodenroman
    Verlag: S. FISCHER 2016. 272 Seiten
    ISBN-13: 978-3100022813. 19,99€


    Verlagstext
    Antje Rávic Strubel erzählt von Reisen in den Mittelpunkt des menschlichen Herzens
    Leigh. René. Emily. Sara. Sie sind Liebende, Begehrende, sie sind unterwegs und begegnen einander in der kalifornischen Wüste, am Stechlin, in finnischen Wäldern und im Eiswind Manhattens. Renés Verlust der ersten Liebe und Emilys Verschwinden setzen einen Reigen an Beziehungen in Gang, in denen sich klassische Liebesvorstellungen auflösen. Sara. Ute. Katt. Gerade das Oszillieren zwischen Ländern und Geschlechtern entfacht eine Faszination, die sich in unvertrauter Sinnlichkeit und neuen Sexualitäten offenbart. Antje Rávic Strubel erzählt hellsichtig und leidenschaftlich von wilder Neugier, von Unruhe, Aufbruch und einem Begehren, wie man es in der deutschen Literatur lange nicht gelesen hat.


    Die Autorin
    Antje Rávic Strubel veröffentlichte die Romane „Offene Blende“ (2001), „Unter Schnee‹ (2001“, „Fremd Gehen. Ein Nachtstück“ (2002), „Tupolew 134“ (2004), „Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest“ (2007). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman „Kältere Schichten der Luft“ (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman „Sturz der Tage in die Nacht“ (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávic Strubel wurde mit einem Stipendium in die Lion-Feuchtwanger-Villa in Los Angeles eingeladen sowie als erster Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. Antje Rávic Strubel lebt in Potsdam.
    --> Interview


    Inhalt
    Katja und René aus Berlin sind auf einer organisierten Kanutour unterwegs auf dem Stora Le in Schweden. Außer ihren Betreuern und anderen Kanuten treffen die Urlauber unterwegs keine anderen Menschen. Das Flussufer bildet die Grenze zu einer Wildnis, in der Mückenschwärme lauern und Elche unterwegs sind. Katja schreibt an ihrem ersten Buch und sucht eine letzte Atempause, ehe der Alltag sie wieder fordern wird. Ein anderes Paar muss sich in Schweden mit seinen Klischeevorstellungen über die Sámi und deren inszenierte Lebensrealität auseinandersetzen. Beide erfahren, dass eine teure Ausrüstung sie nicht vor Naturkräften schützen kann. Sara und Norman bieten in der ostdeutschen Provinz Yogaworkshops mit Wellness-Versprechen an. Im Sequoia National Park der USA verbringen die Studenten Emily und Leigh ein paar Ferientage. Leigh hat sich erst vor kurzem für eine männliche Identität entschieden und ist sich noch unsicher, wie andere Menschen reagieren werden. Erstaunlicherweise erkennt nur Faye, die bisher selten außerhalb von Städten gewesen ist, Katastrophenzeichen von Erosion und schwindendem Lebensraum für Mensch und Tier.


    In Episoden sieht sich eine Vielzahl von Paaren und Teams in komplexem Beziehungsgefüge und wechselnder Zusammensetzung mit einer beunruhigenden „Wildnis“ konfrontiert, den Übergängen zu fremden Lebenswelten. Mehrere der Paare sind Frauen-Paare. Ein kurzfristiger Aufenthalt im Zelt oder in einer Berghütte konzentriert auf Lebenswichtiges, lässt in Beziehungen Konflikte eskalieren, entlarvt dabei bisher verborgene Eigenschaften. Meine Wildnis-Interpretation steht hier für eine manchem Stadtbewohner fremde Natur, für die Abwesenheit von Normen, erst zu findende Geschlechterrollen oder fehlenden Schutz vor Gewalt. Übergange zeigen sich in wechselnden Paarzusammensetzungen, in der sexuellen Orientierung, zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder vom Text zur Übersetzung. Übergänge werden auch geleugnet, z. B. wird in einem Szenario die reale Gefahr radioaktiver Kontamination manierlich hinter einer Mauer verborgen. Auch eine Insel als Traum- und Fluchtziel kann für den erweiterten Wildnis-Begriff stehen. Der Roman ist nach Auskunft der Autorin Abschluss einer Reihe (Kältere Schichten der Luft, Sturz der Tage in die Nacht), die das menschliche Begehren thematisiert.


    Fazit
    Episodenromane setzen m. A. allein durch die Form bei ihren Lesern ein großes Maß an Geduld voraus. Für die vielen Personennamen brauche ich immer einen Notizzettel. Durch eine „Wildnis“ der Unbilden komplizierter Paarungen und in Grenzbereiche unserer Zivilisation führt Antje Rávic Strubel hier in präziser, entlarvender Sprache.


    9 von 10 Punkten