William Boyd: Die Fotografin

  • William Boyd: Die Fotografin
    Berlin Verlag 2016. 560 Seiten
    ISBN-13: 978-3827012876. 24€
    Originaltitel: Sweet Caress
    Übersetzerinnen: Patricia Klobusiczky, Ulrike Thiesmeyer


    Verlagstext
    Ein Klick, die Blende schließt – der Startschuss zu einem neuen Leben. Mit sieben hält Amory Clay ihre erste Kamera in Händen, eine Kodak Brownie Nummer 2, und mit ihr sind alle Weichen gestellt. Amory Clay, Fotografin, Reisende, Kriegsberichterstatterin. Statt als Gesellschaftsfotografin in London zu reüssieren, lässt Amory alles Vertraute hinter sich und beginnt 1931 ein Leben voller Unwägbarkeiten in Berlin. Ein Berlin der Nachtclubs, des Jazz, der Extravaganz und Freizügigkeit – und der ersten Anzeichen von Bedrohung und Willkür. Amory Clay, eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist, die unerschrocken ihren Weg geht, ihre Lieben lebt, ihre Geschicke selbst in die Hand nimmt. Tief fühlt sich William Boyd in sie ein und versteht es glänzend, Fiktion und Geschichte miteinander zu verschränken: das ausschweifende Berlin der frühen dreißiger Jahre, New York, wo sie den Mann trifft, der alles verändert, Paris im Zweiten Weltkrieg. Nach »Ruhelos« hat Boyd erneut eine unvergessliche Heldin geschaffen, eine verwegene, verblüffend moderne Frau, einen Künstlerroman, der das Porträt einer ganzen Epoche zeichnet.


    Der Autor
    William Boyd, 1952 in Ghana geboren, gehört zu den überragenden europäischen Erzählern unserer Zeit. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher und wurde vielfach ausgezeichnet. Im Berlin Verlag erschienen zuletzt „Ruhelos“ (2007), „Einfache Gewitter“ (2009), „Nat Tate“ (2010), „Eine große Zeit“ (2012) und der James-Bond-Roman „Solo“. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und Südfrankreich.


    Inhalt
    An Schottlands Westküste zieht eine ältere Frau schriftlich Bilanz eines abenteuerlichen Lebens. Wehmut ist zu spüren, dass mit fast 70 Jahren ihre Kräfte schwinden, ihr ebenfalls betagter Hund wohl der letzte Hund in ihrem Leben sein wird und ihre Nachkommen die besondere Atmosphäre des einfachen Häuschens auf Barrandale Island weniger schätzen werden als Amory Clay. Seit die 1908 geborene Amory als kleines Mädchen von ihrem Onkel eine einfache Box-Kamera geschenkt bekam, hielt sie unbeirrt an dem Wunsch fest, Fotografin zu werden wie Onkel Greville. Ihr Handwerk lernt sie von der Pike auf und wird in London Grevilles Assistentin. Für ein Mädchen ihrer Generation muss das ungebundene Leben fern von elterlicher Kontrolle paradiesisch gewesen sein. Amory erkennt bald, dass ihr Beruf sie ernähren muss und sie nicht wählerisch sein kann, was sie auf Kundenwunsch fotografiert. Ruhelos sucht sie neue Wege in der Fotografie, die von Zeitschriftenredakteuren ihrer Zeit noch nicht geschätzt werden. Auf Rat des Onkels begibt sie sich in die Halbwelt Berlins der 1930er, mit versteckter Kamera immer auf der Suche nach einem Skandal und mit dem Ziel, so ihren Namen als Fotografin bekannt zu machen. Die Arbeit für Zeitschriften und Agenturen führt sie bis nach New York und Paris. Das Fotografieren gerät zeitweilig aus dem Blick zugunsten ihrer Agenturtätigkeit.


    Amorys Vater hat ihm ersten Weltkrieg auf dem Schlachtfeld ein Trauma erlitten, das zu seiner Unterbringung in der Psychiatrie führt. Armorys jüngerer Bruder nimmt als Kampfpilot am Zweiten Weltkrieg teil. Diesen Krieg erlebt die junge Fotografin direkt und schonungslos in Frankreich, im Auftrag einer US-Agentur. Als Folge einer Zufallsbegegnung zwischen den feindlichen Linien schlüpft Amory nach dem Krieg in die Rolle der Lady Farr an der Seite eines schottischen Barons. Kurz vor ihrem 60. Lebensjahr setzt sie mit der für sie charakteristischen Sturheit eine letzte Akkreditierung als Fotoreporterin im Vietnamkrieg durch.


    Fotos
    William Boyd hat seine Romanbiografie einer fiktiven Person zu einer Reihe von Fotos verfasst, die er als Sammler kaufte und die im Buch enthalten sind. Durch die Fotos wirkt die Geschichte so authentisch, dass man zweifeln könnte, ob es sich wirklich um Fiktion handelt. Allein die Geschichte dieser Fotos ist faszinierend.


    Fazit
    Amory Farr blickt auf ein bewegtes Leben zurück, das sie auf mehrere Kontinente geführt hat. Auf der zwischenmenschlichen Ebene funktioniert der Roman sehr gut – wenn man als Leser nicht erwartet, auch die Berufsidentität der Hauptfigur glaubwürdig dargestellt zu bekommen. Wenn ein Autor den Berufsalltag einer Figur nicht authentisch zu vermitteln vermag, kann ein Roman atmosphärisch trotzdem gelingen, wie Anna Quindlen gezeigt hat. Boyd jedoch lässt eine Icherzählerin Rückschau auf ihr Berufsleben halten, die ihre Tätigkeit aus dem FF beherrscht und den Ablauf im Schlaf wiedergeben könnte. Ungenauigkeiten im Vokabular nehme ich dieser Figur nicht ab. Amorys Routinetätigkeiten im Atelier und Im Labor beschreibt Boyd nur vage. Fehler in den für jene Zeit üblichen Abläufen und in der Fachsprache lassen sich dennoch nicht verbergen und die Übersetzung ins Deutsche macht die Misere nicht besser. Zwischen Gradation und Körnung besteht ebenso ein Unterschied wie zwischen einem Drahtauslöser und einem Kabelauslöser.


    Die eher flach und hölzern wirkenden Details aus dem Beruf werden von ausführlicheren Schilderungen aus Amorys Liebesleben unterbrochen, die Boyd offenbar besser liegen, aber Szenen der Fantasie eines 1952 geborenen Mannes sind und nicht die einer 1908 geborenen Frau. Deutlicher, Boyd definiert seine Protagonistin zu einem großen Teil über ihre Männerbeziehungen und nicht über ihre beruflichen Fähigkeiten. Auch eine Frau, die zeitweilig Kinder erzieht, muss in der Zeit ihre Berufsidentität nicht verlieren, auch nicht, wenn sie Anfang des 20. Jahrhunderts geboren ist. Auf der Beziehungsebene mag das Romanportrait einer vor 100 Jahren geborenen Frau funktionieren. Als „Die Frau mit der Kamera“ würde ich mir das noch gefallen lassen. Der deutsche Titel „Die Fotografin“ hat bei mir jedoch die Erwartung geweckt, hier authentisch über eine Frau und ihrer Berufsidentität zu lesen.


    Wer einen von der Kritik gehypten Roman eines bekannten Autors lesen will und wenig Ansprüche an die Glaubwürdigkeit einer Figur in ihrer Zeit stellt, wird mit der „Fotografin“ leben können. Ich finde in dem Buch nicht den vielschichtigen Roman, als der er gelobt wird.


    knappe 6 von 10 Punkten

  • Oft passt natürlich der englische Originaltitel besser zum Buch. Vielleicht auch hier, da Du ja schreibst das Liebesleben wäre besser dargestellt.


    Passiert mir auch bei französischen Originaltitel. Das bemängle ich oft. Inzwischen lasse ich ich von Titeln nicht mehr verführen oder beeindrucken.

  • Die vielen Leben der Amory Clay


    Amory Clays Leben ist schon immer etwas anders, als das der anderen. Auf Wunsch des Vaters, der später versucht sie mit in den Tod zu reißen, weil er Angst hat allein zu sterben, bekommt sie als Baby diesen androgynen Namen, der für Amorys Gegenüber nicht immer eindeutig als männlich oder weiblich einzustufen ist. Eine Unklarheit, die ihr im späteren Leben zu Gute kommt, denn einer Frau ist es weder in den 30er, noch 40er oder 50er Jahren einfach als Fotografin zu arbeiten. Wird dieser Beruf doch größtenteils von Männern ausgeübt und auch als patriarchalisches Domizil betrachtet.


    Doch Amory lässt sich nicht beirren, hat ihr Ziel klar vor Augen, weiß auch nicht, was sie sonst machen soll, denn außer zum Fotografieren fühlt sie sich sonst zu nichts berufen. Ihr Onkel Greville, in den sie sich unsterblich verliebt, bietet ihr die Möglichkeit erste Erfahrungen als seine Assistentin zu sammeln und verschafft ihr durch finanzielle Unterstützung ein Sprungbrett, das ihr eine erste Reise ins Ausland ermöglicht. Gesellschaftsfotografie ist nichts für sie. Sie will heraus stechen, mit ihren Fotos auffallen, später etwas damit bewirken. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie noch keine 25 ist, als sie in ihren ersten Skandal verwickelt ist und später als Kriegsberichterstatterin in Vietnam lebt.


    „'Du bist sehr impulsiv, Amory, weißt du. Unglaublich eigensinnig.'
    'Unglaublich dumm.'
    'Ja, so kann man es auch ausdrücken. Das könnte dir im Leben noch Schwierigkeiten einbringen.'“


    Wer sich nicht getraut hat, zuzugeben, dass er die Fotografin Amory Clay nicht kennt, deren Namen noch nie zuvor gehört oder eins ihrer Fotos gesehen hat, der darf beruhigt aufatmen, denn obwohl der Roman wie eine Biografie aufgebaut und perfekt mit historischen Ereignissen verwoben, sowie mit Fotografien ausgestattet ist, die wohl überlegt für Untermalung der Geschichte sorgen, ist die eigensinnige Britin eine Boyds Fantasie entsprungene Figur. Wie es ihm gelungen ist so stark, so lebhaft, so authentisch als Mann die Perspektive einer Frau darzustellen, ist für mich ein Rätsel, aber völlig faszinierend. Ich habe nicht das Gefühl einer erfundenen Gestalt nachzurennen, sondern meine Zeit tatsächlich mit Amory Clay zu verbringen, deren Beschreibung ihres Lebens einen unglaublichen Sog entwickelt.


    Bis ins kleinste Detail ist die Figur der Amory Clay durchgeplant. Ihre verschiedenen Entwicklungsstadien, vom jungen Mädchen mit schier unerreichbarem Ziel vor Augen, das im Schatten bedeutender Männer lebt und sich erst einmal verlieren muss, um sich selbst zu finden. Von der jungen Frau, die verschiedene Wege gehen muss, um auf den richtigen zu gelangen, denjenigen, der ihr ein gewisses Maß an Glück beschert, denn für volle Glückseligkeit trägt sie einfach zu viel Melancholie in sich. Ein Erbstück ihres Vaters, was soll sie dagegen tun? Bis hin zur Frau, die so viel Leben in sich aufgenommen hat, dass sie diesem irgendwann überdrüssig wird.


    „'Wir alle sehen die Welt mit eigenen Augen. Das ist nicht weiter ungewöhnlich. Genau darum geht es ja im Grunde – wir alle haben eine eigene, einzigartige Sichtweise.'“


    Mir war Boyd bisher nur vom Namen bekannt. Doch nun möchte ich gerne weitere Werke des Autors lesen, der mich beeindruckt hat mit seinem Vermögen solche eine polarisierende Figur zu entwerfen und zeitgleich einen Roman zu schreiben, der Fotografie bzw. die Möglichkeit mehr in einem Menschen zu sehen, als der erste Blick vermag, aufzuzeigen. Damit schafft er zwischen den Zeilen die Verbindung zur Arbeit eines Schriftstellers, der ebenso Szenen erkennt, wo andere vorbei schauen und diese so zu inszenieren, dass etwas daraus entsteht. Dass sie lebendig und zu einem großen Ganzen verflochten werden.


    „Die Fotografin“ ist der einnehmende Roman über eine Persönlichkeit von großer Präsenz. Sprachlich an die darin angestimmte Atmosphäre angepasst, mit wechselwirkenden Stimmungslagen ausgefüllt, war es für mich der pure Genuss, Amory Clay auf ihrem Lebensweg zu begleiten.