180 Grad Meer - Sarah Kuttner

  • Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
    Verlag: S. FISCHER; Auflage: 1 (31. Dezember 2015)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 310002494X
    ISBN-13: 978-3100024947


    Inhaltsangabe:


    Nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat, ist Jule mit ihrem Bruder und ihrer selbstmordgefährdeten Mutter aufgewachsen. Als Erwachsene hat sie sich einen Alltag geschaffen, in dem sie alles nur noch irgendwie erträgt: ihren Job als Sängerin, die unzähligen Anrufe ihrer Mutter, den ganzen Hass in ihr, der sie fast verschwinden lässt. Als auch ihre Beziehung zu bröckeln beginnt, flieht sie zu ihrem Bruder nach England, auf der Suche nach Ruhe und Anonymität.
    Doch dort trifft sie auf ihren Vater, der im Sterben liegt. Zaghaft beginnt Jule einen letzten Versuch, sich dem Mann anzunähern, von dem sie sich ihr Leben lang im Stich gelassen gefühlt hat.


    Autoreninfo:


    Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren. Ihre Karriere begann beim Berliner Sender Radio Fritz, von dem sie bald zu den TV-Musiksendern VIVA und MTV wechselte. Mit "Kuttners Kleinanzeigen" bekam sie 2007 auch einen Sendeplatz bei der ARD. Zudem wird sie als Moderatorin von Liveveranstaltungen gebucht und schreibt Musikkolumnen für Zeitungen. Ein Teil davon wurde bereits in Buchform veröffentlicht, etwa in "Das oblatendünne Eis des halben Zweidrittelwissens". Es folgten mehrere Romane. Ihr Debüt "Mängelexemplar" (2009), in dem es um das Thema Depressionen geht, wurde sogleich ein Bestseller. Sarah Kuttner hat ihren Lebensmittelpunkt weiterhin in Berlin.


    Meine Meinung:


    Titel: Finde zu dir selbst...


    Nachdem ich bereits "Mängelexemplar" und "Wachstumsschmerz" gern gelesen habe, war ich total neugierig auf Frau Kuttners neuen Roman und begann voller Vorfreude mit dem Lesen.


    In der Geschichte geht es um Juliane, kurz Jule, deren Familie alles andere als normal ist. Ihre Eltern sind geschieden. Während ihre Mutter Monika wie eine Glucke ist und nervt, lebt Vater Michael fernab von Berlin in England und ist dem Tode nahe. Nur mit ihrem kleinen Bruder kommt Jule halbwegs aus. Wie soll man sich nur selber mögen, wenn man so eine verkorkste Familie hat, in der Liebe nie eine große Rolle spielte?


    Jule fungiert als Ich- Erzählerin, was ich sehr passend finde, denn so bekommt man tiefe Einblicke in ihre Gefühlswelt und die ist nicht ohne. Sie erzählt mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus ihrem Leben und das spürt man als Leser sehr intensiv. Gerade ihre Verzweiflung und Wut den Eltern gegenüber kommt sehr gut rüber.


    Mir hat besonders gefallen wie Jule sich eine Auszeit nimmt und langsam aber sicher zu sich selbst findet und das mittels recht ungewöhnlicher Methoden, ich sage nur "Leihhund" und "Seniorenheim".


    Das Verhältnis zwischen den Geschwistern war berührend beschrieben und hat mich an die Bindung zu meiner großen Schwester erinnert. Man kann sich also sehr gut mit den dargestellten Charakteren identifizieren.


    Wie der Klappentext schon prophezeit, bekommt der Leser ein tragisches Roadmovie geboten, das jedoch an Witz und Charme nicht missen lässt.


    Die Autorin trifft mit ihrer Darstellung den Zahn der Zeit. Ihr Schreibstil, der durch kurze, knackige Sätze besticht, lässt sich angenehm lesen. Beinahe fühlt man sich als wäre man im Gespräch mit Jule selbst.


    Fazit: Ein Roman, der mich bewegt hat und definitiv zum Nachdenken anregt. Wer etwas Schwermütiges verträgt, der darf hier gerne zufassen. Sehr gern spreche ich eine Leseempfehlung aus. Bitte mehr davon Frau Kuttner!


    Bewertung: 10/ 10 Eulenpunkten

  • Sarah Kuttner mag ich. Ich mag ihre MTV Sendungen, ihre Twitter Posts, ihren Debütroman „Mängelexemplar“ (den zweiten Roman „Wachstumsschmerz“ fand ich extrem öde), ihr Auftreten und ihre rotzige Ironie. Nun hat sie einen dritten Roman veröffentlicht. Mit Meer und Hund und einer Protagonistin, die aus einem ziemlich verkorksten Elternhaus stammt. Klingt nicht wirklich besonders oder groß, ist aber von erstaunlichem Sog. Kuttner plappert nicht nur drauf los. Sie hat was zu sagen.


    Jules Leben kann einfach nicht in geraden Bahnen verlaufen, denn dank der Schattierung ihrer Kindheit hat es bereits in Schieflage begonnen. Mutter und Vater sind getrennt, Mutter kommt mit ihrem Leben nicht klar, ist aber meisterlich darin die Schuld auf Jule abzuwälzen, der Tochter ihre negativen Gefühle aufzudrücken. Besonders die Wut auf den Erzeuger und den Frust über die misslungene Erziehung. Irgendwann hat Jule so oft gehört, dass sie Schuld sei, dass sie sich tatsächlich schuldig fühlt. Frust gegen sich selbst baut sich auf. Frust, dem sie Luft machen muss. Z.B. durch Sex mit ihrem Chef. Ohne Gefühle, denn für Liebe und Geborgenheit hat sie ja ihren Freund Tim.


    „Und auch in Tim schlummert eigentlich Abneigung gegen Monika, denn Monika ist nicht nur eine arme Wurst, sondern eine arme Wurst, die ihre sechsjährige Tochter fest an der Hand hielt, als sie sich vor ein Taxi warf, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat, eine arme Wurst zu sein. Jemand, der auch die anderen halbgaren Selbstmordversuche nicht ohne Kinderpublikum über die Bühne bringen konnte.“


    Jule befindet sich in einer Spirale, die aus den Erwartungshaltungen der Eltern-Kind-Ebene entstanden sind, die von keiner Seite erfüllt werden können und zu Enttäuschungen führen. Die größte Enttäuschung ist Jule selbst. Das hat man ihr von frühen Kindesbeinen an so eingetrichtert und davon wegzukommen ist schwierig. Sie reitet sich immer tiefer hinein, in diese falsche Gefühlswelt, bis alles draufgeht. Ihr Alltag, ihre Beziehung, ihr Leben wie es bisher war. Ein Leben gefüllt mit Wut und Verachtung. Null Respekt für sich selbst. Ist es der große Knall, der ihr hilft den Dreh zu bekommen und von nun an besser zu leben? Besser mit sich selbst umzugehen?


    Ein Besuch bei ihrem Bruder Jakob in England soll ihr Klarheit bringen. Einsicht. Vielleicht sogar Heilung. Was als Flucht beginnt ist Jules Möglichkeit ihr Schneckenhaus zu verlassen. Den schützenden Panzer, den sie in all den Jahren aus den Worten der Verachtung, dem aufladen aller Schuld, der fehlenden elterlichen Liebe, um sich herum aufgebaut hat. Negative Erfahrungen sind schon so sehr zu ihrem Alltag geworden, dass deren fehlen sie durcheinander wirbeln würde. Zu dem Zeitpunkt weiß sie noch nichts von der heilenden Wirkung eines Hundes und dem vom Meer ausgehenden Gefühl der Ruhe.

    „Ich habe schon wieder kein Ziel, aber ein bisschen Bock auf einen Weg.“


    „180° Meer“ ist das Psychogramm einer jungen Frau, die ihr Leben lang mit Schuld und falschen Erwartungen gekämpft hat. Die von ihren Eltern regelrecht dazu benutzt wurde, damit diese all ihre negativen Gefühle auf ihr abladen konnten, um sich selbst nicht damit auseinander setzen zu müssen. Es zeigt, wie sehr wir in der Schublade leben, in die unsere Kindheit uns hinein gedrängt hat, beeinflusst durch die Liebe und Zuneigung unserer Eltern oder eben fehlen derselbigen.


    Sarah Kuttner erzählt diese Geschichte in einer Leichtigkeit, die von Hoffnung spricht. Die vermittelt, dass es nicht notwendig ist in unseren Schubladen zu verharren, sondern die Möglichkeit besteht, diese zu verlassen. Dies hat mit verzeihen zu tun und dem Wunsch nach vorn zu blicken. Ich finde es erstaunlich wie gut sie dieses Psychogramm zeichnet, wie klar Ursprung und Verlauf dargestellt werden.


    „Aus diesem Gefühl konnte vermutlich nur Verachtung erwachsen, und das ist es eben, was aus all den Jahren übrig geblieben ist: Verachtung. Für mich, weil ich nie stark genug war, um auf meine eigene Persönlichkeit zu bestehen, und für ihn, weil er es zugelassen hat.“


    Sprachlich bleibt sie sich treu. Ist direkt, ehrlich, haut raus, was sie denkt. Erzählt eine interessante Geschichte, ohne um den heißen Brei herum zu reden.


    Und das Ende des Romans? Ja das ist so, wie es sein sollte. Glaubwürdig, echt, realistisch. Gibt Raum zum Denken und der Frage in welcher Schublade wir vielleicht schon viel zu lange verharren und wann wir uns zum letzten Mal etwas Gutes getan haben. Zeit mit Hund. Oder eine Reise zum Meer.