Reisen Sie ab Mademoiselle - Adrienne Thomas

  • Titel: Reisen Sie ab, Mademoiselle
    Autorin: Adrienne Thomas


    erschienen 1982 im Konkret Verlag Hamburg
    Meine Ausgabe ist Fischer TB: Bibliothek der verbrannten Bücher


    Zum Inhalt:


    Rückseite:


    Über weite Strecken autobiografisch erzählt Adrienne Thomas, die vor 1933 zu den meistgelesenen Autorinnen ihrer Generation gehörte, das Schicksal einer österreichischen Familie.
    Sie berichtet vom Alltag unter demNationalsozialismus. Vom Zerfall von Familie und Freundschaft, von Vertreibung und Flucht als Folge der unmenschlichen politischen Verhältnisse.




    Mein Eindruck:



    Eine unter die Haut gehende, autobiografisch angelegte Erzählung der vor der Nazizeit sehr bekannten Schriftstellerin Adrienne Thomas.
    Sie schildert die Zeit der Machtergreifung und des Einmarsches der braunen Bande zuerst in Österreich dann. also sie längst geflohen ist in der Tschechoslowakei und Frankreich.
    Aus der Sicht der 17jährigen Nicole erfahren wir, wie alle Welt Hitler verharmlost, Übergriffe auf jüdische Geschäfte für Anfangsschwierigkeiten hält und auch das Verschwinden oder der Tod so mancher Bekannten als notwendiges Übel gesehen wird.
    Da sie Partei nimmt für ihre Freunde, ob Kommunist, Jude oder einfach nur Mensch, ist sie bald gefährdet. Da sie aber Französin ist, ihre Mutter ist in Wien bei einem jüdischen Arzt in Stellung, hat sie die Möglichkeit legal auszureisen. Dabei schmuggelt sie noch die letzten Habseligkeiten ihrer Wiener Familie bei der sie und die Mutter lange gewohnt hat, in die Schweiz.
    Die letzte Station ihrer Flucht vor den Nazis, die auch in Frankreich ihre Schreckensherrschaft errichten, ist ein kleines Pyrenäendorf.
    Dort endlich findet sie auch ihren lange vermissten Wenzel, der nach ebenso abenteuerlicher Flucht aus Österreich in Spanien gekämpft hat.


    Einer seiner ganz speziellen Sätze noch in Wien:
    Sagt der Chauffeur (Wenzel) zu Nicole: Heutzutage kannst Du etwas lernen in unserem Wien! Das ist eine einzige Fortbildungsschule für Verbrecher geworden."


    Wunderbar vor allem die Ankunft der Flüchtlinge im kleinen Pyrenäendorf:
    Auszug:Wir haben wirklich Glück mit unseren Refugiés.
    Damit meinte man nicht nur diese neuen, sondern alle.
    Das Dorf war voller Refugiés aus allen Teilen Frankreichs, aber auch aus Belgien, der Tschechoslowakei, aus Polen; Juden und Christen. Obwohl fast alle diese Menschen so gut wie mittellos waren,und, wo es notwendig war, staatliche Unterstützung erhielten, empfanden die Bauern sie nicht als Last. In diesem kleinen Ort in den Pyrenäen, wo sonst nie Fremde hinkamen, hätte man, bei genügend Zeit, das Flüchtlingsproblem spielend gelöst. Man fragte nicht, woher sie kamen. Man gab ihnen Arbeit, man schloß sich nicht gegen sie ab. Man suchte nicht nach Defekten und Misslichkeiten bei den Flüchtlingen um sich vom Mitgefühl freisprechen zu können - man nahm sie auf. Diese Bauern waren einfache Menschen, bei denen das Herz so wenig brach lag wie die Erde.
    Adrienne Thomas schreibt wundervoll, man mag das Buch garnicht aus der Hand legen und fragt sich oft wie Nicole, wie die Welt so aus den Fugen geraten konnte.


    Ein zeitloses Buch, das heute aktueller ist denn je.

    Zur Autorin:Hertha Strauch wuchs zweisprachig in einer jüdischen Familie im damals deutschen Lothringen auf. Im Ersten Weltkrieg arbeitete sie als Rotkreuzschwester. 1919 zog sie mit ihrer Familie nach Berlin, absolvierte eine Gesangs- und Schauspielausbildung - und heiratete. Erst nach dem Tod ihres Mannes begann sie zu schreiben. 1932 zog sie in die Schweiz, 1934 nach Paris und von dort nach Wien.


    Adrienne Thomas war eine der ersten Autorinnen, die von den Nazis für “unerwünscht” erklärt wurden, und als Österreich besetzt wurde, reagierte sie auf die gefährliche Situation mit Beobachten und Aufschreiben. “Ein Zuhause hatte ich nicht mehr. Zuhause war nur noch an irgend einem Schreibtisch.” Von den Nazis entdeckt, floh sie nach Frankreich. 1940 wurde sie im Frauenlager Gurs im Süden von Frankreich interniert, konnte aber entkommen und sich nach New York einschiffen.
    Hier arbeitete Thomas als Journalistin und schrieb ihren Exil-Roman zu Ende. 1941 heiratete sie den sozialistischen Politiker Julius Deutsch, mit dem sie 1947 nach Wien zurückkehrte. In ihren Büchern - 6 Romanen, 4 Kinderbüchern und Essays - wie in ihrem Leben zeigte Adrienne Thomas Mut und Optimismus, gerade auch in Krisenzeiten: “Ich war überall gern. Ich hab’ das Beste daraus gemacht, hab’ mich nicht unterkriegen lassen.”(Text von 1997)


    Joey Horsley



    10 Punkte