1000 Kleider. Formen, Stile, Stoffe - Tracy Fitzgerald, Allison Taylor

  • Tracy Fitzgerald, Allison Taylor: 1000 Kleider. Formen, Stile, Stoffe, OT: 1000 Dresses. The Fashion Design Ressource, aus dem Englischen von Cornelia Panzacchi, Bern 2015, Haupt Verlag, ISBN 978-3-258-60118-2, Hardcover, 288 Seiten, über 1.000 farbige Abbildungen, Format: 22 x 2,7 x 26,1 cm, EUR 39,90.


    „Das mit farbigen Fotos reich bebilderte Nachschlagewerk illustriert die unterschiedlichen Kleiderformen und Varianten, ermöglicht Vergleiche und inspiriert zu eigener Kreativität. Kurze informative Texte zu jedem Foto erläutern die Besonderheiten des jeweiligen Modells.“ (Seite 7)


    Für ModedesignerInnern, StylistInnen, ModeschülerInnen und SchneiderInnen ist dieses Buch eine tolle Inspirationsquelle. Vom schlichten Shiftkleid bis zur eleganten Ballrobe gibt es hier Modellbeispiele in Hülle und Fülle: Laufstegfotos aus verschiedenen Jahrzehnten mit detaillierten Beschreibungen und skizzierten Designvarianten. Kommentierte Skizzen veranschaulichen die Schnittkonstruktion. Außerdem gibt’s Informationen zur typischen Silhouette, zu Länge, Stoffen, Verschlüssen und Verzierungen. In der Rubrik Kontext wird jede Kleiderform mit ihrer Geschichte kurz vorgestellt.



    Foto: E. Nebel / Haupt Verlag


    Tageskleider
    Die interessierte Laiin liest, schaut und staunt: Es gibt TAGESKLEIDER? Und die sind „der Grundstock im Kleiderschrank jeder Frau“ (Seite 10)? (Na ja, wenn’s Abendkleider gibt …) Vielseitig, unkompliziert und bequem sollen diese Kleider sein – lässig für die Freizeit, elegant, repräsentativ und doch von schlichtem Understatement für berufliche Anlässe wie Sitzungen oder Vorstellungsgespräche. Weniger formell als die klassischen Tageskleider sind die Trägerkleider (abgeleitet von der Schürze) und die Latzkleider (angelehnt an die Jeans-Latzhose). Das Wickelkleid wurde in den 1970er-Jahren von der amerikanischen Designerin Diane von Fürstenberg entworfen. Dann gibt’s noch Tageskleider in A-Linie mit eng anliegendem Oberteil und ausgestelltem Rock. Die figurnahen Modelle haben schmeichelnde Nähte, Bahnen und Einsätze und betonen die Sanduhrform des weiblichen Körpers.


    Shiftkleider
    SHIFTKLEIDER umspielen die Figur. Sie basieren auf den Charleston-Kleidern der 1920er-Jahren und wurden in den 1950er-Jahren von Coco Chanel entwickelt. Sie sind nahezu taillenlos und betonen Arme und Beine. Es gibt lässige Modelle für tagsüber und schicke für abends. Die A-Linie hat schmale Schultern und einen gemäßigt weiten Rock, bei der Trapezform ist der Saum noch weiter. Das wirkt schon manchmal grotesk. Auch Zeltkleider im Oversize-Look gehören zu diesem Genre, genau wie die großzügig geschnittene Tunika, deren Grundform schon seit der Antike bekannt ist.


    Hemdkleider
    HEMDKLEIDER orientieren sich optisch an Herrenhemden und haben sich in den 1970er- und 1980er-Jahren als attraktive und komfortable Bürobekleidung durchgesetzt. Sie haben Details wie Hemdkragen, Knopfleiste, Brusttaschen, Ärmelriegel und doppelt abgesteppte Nähte. Es gibt Hemdkleider im Militarystil mit Uniformdetails sowie Safarikleider mit Elementen von Uniform und Jagdkleidung in Farben wie khaki, olivgrün und steingrau. Hemdkleider im Smokingstil sind von Smokinghemden und -jacken inspiriert und haben zum Beispiel eine hemdbrustartige Passe (Plastron) und/oder Umschlagmanschetten.


    Sommerkleider
    SOMMERKLEIDER bestehen natürlich aus leichten, bunten Stoffen. Es gibt das luftige Strandkleid mit auffallenden Mustern, Carmen-Kleider in T-Form, die vom bäuerlichen Arbeitskittel abstammen, spitzenbesetzte Lingerie-Kleider im Dessous-Look aus Seide, Leinen und Baumwolle, schulterfreie Sommerkleider, die an südasiatische Sarongs erinnern – und solche im Skaterstil. Die sehen mit ihrem figurbetontem Oberteil und dem weit ausgestellten Rock ein bisschen wie die Kostüme von Eiskunstläuferinnen aus. Nicht zu vergessen die feminin-verspielten geblümten Nachmittagskleider, die immer so wirken, als wollte man darin zu einem britischen 5-Uhr-Tee gehen.



    Foto: E. Nebel / Haupt Verlag


    Strickkleider
    STRICKKLEIDER sind Grenzgänger zwischen sportlicher Tages- und eleganter Abendgarderobe, je nach verwendetem Schnitt und Material. Ob fully fashioned oder zugeschnitten und zusammengenäht, ob maschinengestrickt oder von Hand, ob aus Wollfleece, Rippentrick oder Jersey: Strickkleider gibt es in verschiedensten Varianten. Pullover-, T-Shirt-, Tanktop- und Polokleider sind jeweils die verlängerten Versionen der bekannten Oberteile. Und um in einem extrem körperbetonten Schlauchkleid gut auszusehen, sollte man möglichst eine perfekte Modelfigur haben.


    Mantelkleider
    Die eleganten MANTELKLEIDER tragen Elemente von Trenchcoats oder Kostümen wie Schulterriegel, Stoffgürtel, Paspeltaschen, Knopfleisten, Reverskragen und Kellerfalten. Das Schneiderkleid soll detailreich und solide nach handwerklicher Tradition verarbeitet sein (oder zumindest so aussehen). Weitere Spielarten sind Hauskleider, wie sie in den 1940er-Jahren aufkamen, gewickelte Mantelkleider sowie Cape-Kleider, die gestalterisch an Ponchos, Umhänge und Capes angelehnt sind.


    Inspirationsquellen
    Zu jedem der genannten Kleidertypen zeigt das Buch Dutzende von Varianten und Interpretationen verschiedener Designer. Und wo bekommen die alle ihre Anregungen her? Immerhin gilt es mehrmals jährlich die gängigen Bekleidungsstücke so neu zu gestalten, dass die Kundinnen in Kauflaune kommen.


    Immer gut als INSPIRATIONSQUELLE sind historische Kostüme und Trachten. Da kann man mit Schnitten, Stoffen und Verzierungen spielen. Unterschiedliche Ergebnisse erzielt man auch, wenn man die Schnitte entweder klassisch konstruiert oder erst Stoffe an Schneiderpuppen drapiert und die Schnitte danach anfertigt. Es werden Beispiele gezeigt, und man kann in der Tat erkennen, welche Designer nach welcher Methode vorgegangen sind.


    Manchmal wird die Quelle ganz offensichtlich zitiert: Der Boheme-Look ist ein Mix aus verschiedenen Ethno-Stilen, die an den Schnitten, Mustern und dekorativen Elementen erkennbar sind. Auch der Westernstil mit Elementen wie Jeansstoff, Weißstickerei, Leder, Metall und Vichykaros will seinen Ursprung nicht verleugnen. Der Stil der Antike verrät seine Herkunft durch Faltenwürfe, wie man sie von Statuen kennt. Lange weite Schnitte und ebensolche Ärmel sowie farbenfrohe, dekorativ gemusterte Stoffe zeichnen den Kaftan aus. Kleider im Kimono-Stil bestehen nur aus rechteckigen Teilen ohne Abnäher oder andere formende Nähte. Kleider im Asien-Look haben beispielsweise einen Stehkragen, eine schräge Verschlussblende am Vorderteil und exotische Muster.


    Besondere Anlässe
    Bei Kleidern für BESONDERE ANLÄSSE können sich Designer so richtig austoben. Da werden Kleider gemacht wie im Märchen: elegant, aus kostbaren Stoffen, raffiniert geschnitten, festlich … Von den bereits beschriebenen Nachmittags- und Lingerie-Kleidern gibt es in dieser Rubrik besonders edle Varianten, außerdem Cocktail-Kleider mit engen Oberteilen und mäßig weiten, knieumspielenden Röcken. Stoffe wie Tüll und Organza kommen dabei zum Einsatz. Man trägt diese Kleider zu Partys, Schulabschlussbällen und ähnlichen Veranstaltungen. Sie sind glamourös aber weniger formell als die bodenlangen Ballkleider. Das sind die Kleinmädchen-Prinzessinnenträume schlechthin! Das Buch präsentiert viele wunderschöne und auch ein paar befremdliche Exemplare, genau wie man es auf jeder Oscar-Verleihung sieht. Zum guten Schluss kommen, wie auf jeder Modenschau, die Brautkleider. Auch da schwankt der Betrachter zwischen „ooooh!“ und „iiiiiih!“


    Innovationen
    Wenn alle Kleider immer nur Varianten derselben Grundmodelle sind, wie kommt es dann zu wahren INNOVATIONEN? Nun, indem Designer der Avantgarde neue Entwicklungen aus Wissenschaft und Technik in ihren Entwürfen verarbeiten. So halten 3-D-Druck, Metall, Kunstharz, Silikon, Fotopolymerschichten, Acryl und vieles andere mehr Einzug auf die Laufstege. Man kann auch die Proportionen verzerren, Althergebrachtes verfremden, moderne Stoffe mit neuartigen Eigenschaften verarbeiten. Der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Inwiefern der Einsatz neuer Materialien und Techniken alltagstaugliche, tragbare Mode hervorbring, wird sich weisen. Was auf den Laufstegen gezeigt wird, kommt kaum je 1:1 in die Läden. Einzelne Elemente davon sickern aber schon in die Alltagsmode ein.


    Was das Buch ist – und was nicht
    Ein Glossar und ein Register helfen dem Leser bei der Orientierung. Ich hätte gerne die Möglichkeit gehabt, die einzelnen Fotos den jeweiligen Labels und Entstehungsjahren zuordnen zu können („Jil Sander 1994“). Aber das hätte vermutlich den Rahmen gesprengt. Es war sicher schon ein Heidenaufwand, die Fotos aus den verschiedenen Quellen zusammenzuklauben, zu sortieren und zu beschreiben. Die Informationen, die ich hätte haben wollen, lagen den Autorinnen vermutlich gar nicht vor.


    Ich hatte mir das Buch eher als eine Art Streifzug durch die Geschichte der Damenmode vorgestellt: „Das XY-Kleid entstand um die Jahrhundertwende aus dem Bekleidungsstück ABC. In den 1950er-Jahren entwickelte es der Designer NN weiter, und in den folgenden Jahrzehnten wurde es von diesem und jenem Label so und so und so interpretiert.“ Solche Informationen findet man hier auch. Aber der Fokus liegt auf den Designvarianten ein- und desselben Kleidergenres. Die Entwicklung über die Jahrzehnte hinweg spielt eine Nebenrolle. Die Entwürfe von gestern und heute stehen als gleichberechtigte Variationen eines Themas nebeneinander.


    Man sollte schon beruflich mit Mode zu tun haben oder sich intensiv hobbymäßig damit beschäftigen, um das Werk wirklich nutzen und schätzen zu können. Die Jeans-und-Pulli-Frau, die Modetrends sonst nur interessiert in Frauenzeitschriften verfolgt, denkt hier nur: „Was es nicht alles gibt!“.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

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