Ich sehe was, was du nicht liebst - Heike Abidi

  • Heike Abidi: Ich sehe was, was du nicht liebst, Luxembourg 2015, Amazon Publishing, ISBN 978-1-503-95452-6, Softcover, 254 Seiten, Format: 12,6 x 2,5 x 18,6 cm, Buch: EUR 9,99.


    „Ich bin jetzt ganz entspannt. Die Tragödie ist nun ohnehin nicht mehr aufzuhalten. Spätestens, wenn ich, wie zuletzt, etwa fünfhundert Meter vor unserem Haus wieder unsichtbar werde, wird Oliver feststellen, dass mit mir etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.“ (Seite 237)


    Wann genau ist eigentlich aus der fröhlichen und flippigen Marlene Winter der klaglos funktionierende „Haushaltsroboter“ geworden, der Ehemann, drei Kinder, Hund, Haus, Garten und die Buchhaltung der Firma ihres Gatten wuppt, sich von allen herumscheuchen lässt und irgendwie vergessen hat, wie man auf die eigenen Bedürfnisse achtet? Das wird wohl ein schleichender Prozess gewesen sein. Für die Familie – Ehemann Phil, Tochter Emily (16) und die Söhne Daniel (12) und Noah (5) ist es jedenfalls ganz selbstverständlich: Mama Marlene liefert sieben Tage die Woche ein Rundum-Verwöhnprogramm. Was das für ein Aufwand ist, darüber haben sie nie nachgedacht.


    Hausangestellte haben Anspruch Urlaub, Marlene offenbar nicht. Denn als sie mit ihrer Freundin Jennifer zu einem Wellnesswochenende fahren will, tut die liebe Familie alles, um dieses Vorhaben zu sabotieren. Es wird so lange genörgelt, gefordert, verzögert und an Marlenes Gewissen appelliert, bis sie einknickt und die Reise unter einem Vorwand absagt.


    Marlene löst sich in Luft auf
    Ihre Familie kriegt davon nichts mit, denn nun geschieht etwas Seltsames: Marlene löst sich buchstäblich in Luft auf. Sie wird unsichtbar, unhörbar, kann keine Gegenstände bewegen, bekommt aber alles mit, was um sie herum vorgeht. Und das ist entlarvend! Ihre liebsten Menschen haben keinen Funken Respekt vor ihr. Sie halten sie für ein leicht manipulierbares Schaf. Die Kinder äffen ihre hilflosen Erziehungsversuche hämisch nach, und ihr Mann lacht dazu. Na, sauber! Marlene ist ordentlich angefressen, aber in ihrem momentanen geisterhaften Zustand absolut handlungsunfähig.


    Weil sie ihre Lieben so verwöhnt hat, sind sie außerstande, den Haushalt ohne sie zu stemmen. Sie ernähren sich von Fastfood, vergessen, mit dem Hund rauszugehen, der dann eben auf die Fliesen pieselt, und im Haus schaut’s ruckzuck aus wie die Sau. Das stört niemanden, denn Marlene wird schon aufräumen, wenn sie am Sonntagabend wieder zurückkommt. Doch Marlene kommt nicht. Sie war ja nie weg. Sie erlebt als unsichtbarer „Hausgeist“ fassungslos, was ihre Lieben so treiben und wie sie über sie denken.


    Und was tut der treusorgende Gatte, als seine Frau wochenlang verschwunden bleibt? Geht er zur Polizei? Ruft er wenigstens im Wellnesshotel oder bei ihrer Freundin an? Fehlanzeige! Er denkt, Marlene habe ihre Drohung von einer Auszeit im Kloster wahrgemacht und dass sie schon irgendwann wieder auftauchen wird.


    Papa ruft die Kavallerie
    Als das Durcheinander daheim zu groß wird und selbst die Kids kein Fastfood mehr sehen können, ruft Phil seine Mutter zu Hilfe. Oma Ella reist an, verteilt Aufgaben, kocht schreckliches Zeug und führt ein strenges Regiment. Zudem nutzt sie die Chance, wüst über ihre verhasste Schwiegertochter herzuziehen. Bald machen Gerüchte die Runde, Marlene sei mit einem anderen Mann durchgebrannt oder sie befinde sich nach einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie.


    Dass Phil eine neue Frau braucht, sieht nicht nur Mutter Ella so, sondern auch Patricia, die neue Buchhalterin in seinem Betrieb. Sie stünde gerne zur Verfügung. Auch Phil scheint nicht abgeneigt.


    Hausgeist Marlene schäumt vor Wut. Und siehe da: Das scheint ihre Kräfte wachsen zu lassen. Sie kann plötzlich Türen öffnen, Schalter drücken und sich als Poltergeist betätigen. Oma Ella und Patricia, der blonden Gefahr, soll der Aufenthalt im Haus so unangenehm wie möglich gemacht werden.


    Der Spuk hat seine Grenzen
    Durch Zufall stellt Marlene fest, dass der Spuk der Körperlosigkeit nur in einem bestimmten Umkreis ums Haus wirksam ist. Geht sie in die Stadt, ist sie wieder ein ganz normaler Mensch. Nur wenn ihre Familie in der Nähe ist, wird sie unsichtbar. Theoretisch könnte sie ihre undankbare Mischpoche hinter sich lassen und anderswo ein neues Leben anfangen. Das ist aber nicht das, was sie will.


    Marlenes Familie dämmert so langsam, was „Mum“ alles geleistet hat, und dass sie weit mehr war als nur eine Hausangestellte. Emily hat Liebeskummer und sehnt sich nach Mutters Trost, Noah will seinen sechsten Geburtstag nicht ohne sie feiern, und dem nerdigen Daniel wird seine Mutter sicher ebenfalls fehlen, auch wenn er ausschließlich sein Physikprojekt im Kopf zu haben scheint. Sogar Phil vermisst anscheinend seine Frau, obwohl Marlene da so ihre Zweifel hat:
    „Du brauchst mich? Ernsthaft? Was genau fehlt dir? Das selbstlose Kindermädchen? Die aufmerksame Servicekraft? Die emsige Wäscherin? Die zuverlässige Gassigängerin? Nicht zu vergessen, die sonntagmorgendliche Geliebte?“ (Seite 105)


    Jetzt hätten ja eigentlich alle was dazugelernt: Marlene hat begriffen, dass sie den Respekt der Familie selbst verspielt hat, weil sie sich zu einer duckmäuserischen Haussklavin machen ließ, und die übrigen Winters haben wenigstens ansatzweise begriffen, was Marlene ihnen bedeutet. Und doch ist der Unsichtbarkeitsbann ungebrochen. Marlene mag außerhalb ihres häuslichen Wirkungskreises eine andere geworden sein und an Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein und persönlichen Zielen dazugewonnen haben, aber in ihrem Haus ist sie immer noch ein nahezu machtloser Geist. Wird sie hilflos zusehen müssen, wie die blonde Patricia ihren Platz einnimmt …?


    Die Mutter als allzeit verfügbare Hausangestellte
    Meine Mutter hat immer gedroht, wieder außer Haus arbeiten zu gehen, wenn ihr der Familienzirkus daheim zu viel wurde. Man rutscht nur allzu leicht in die Rolle der allzeit verfügbaren Hausangestellten, wenn man sich entweder Vollzeit um die Familie kümmert oder von zu Hause aus arbeitet. Da wünscht man sich schon manchmal, kurz zu verschwinden und die Angehörigen spüren zu lassen, was man alles für sie tut, wenn sie es schon nicht von selber merken. Für Marlene Winter ist dieser Wunsch auf höchst ungewöhnliche Weise in Erfüllung gegangen.


    Den Kindern will ich keinen Vorwurf machen. Sie kommen nicht mit dem Wissen auf die Welt, dass es im häuslichen Alltag ungeliebte Arbeiten gibt, die getan werden müssen und möglichst fair verteilt werden sollten. Man muss es ihnen beibringen. Ein Verwandter von mir fiel als Kind aus allen Wolken, als er auf einmal zum Getränkeholen und Treppenputzen eingeteilt wurde. „Aber Mutti, ich hab gedacht, du machst das gern!“ So kann man sich täuschen.


    Da hat Marlene Winter bei ihren Lieben anscheinend was versäumt. Das dämmert ihr jetzt:
    „Die Erkenntnis durchfährt mich wie ein Blitz: Den wertvollsten Beitrag zur Erziehung meiner Kinder habe ich nicht dadurch geleistet, dass ich sie jahrelang nach Strich und Faden verwöhnt habe, sondern durch mein Verschwinden.“ (Seite 201)


    Von Marlenes Mann hätte ich etwas mehr Besorgnis und Initiative erwartet. Seine Frau verschwindet wochenlang und er nimmt das schulterzuckend zur Kenntnis, statt nach ihr zu suchen. Hallo? Das ist ja schon ein schwaches Bild! Darüber wird sicher noch zu reden sein.


    Und wie läuft das bei uns daheim?
    Die Geschichte von der unsichtbaren Marlene liest sich locker und amüsant. Wie die Sippe haust, wenn Mama nicht mehr da ist, ist zum Brüllen. Die Story hat aber einen ernsthaften Hintergrund, und der piekst schon ein bisschen: Haben wir das, was unsere Mutter für die Familie getan hat, jemals angemessen gewürdigt, oder sind/waren wir genauso gedankenlos fordernde Konsumenten wie die Winter-Kinder? Und die Mütter unter den Leserinnen werden sich sicher fragen, wie es bei ihnen daheim ausschaut in punkto Aufopferung, Aufgabenteilung und Respekt. Da wird die eine oder andere ins Grübeln kommen und vielleicht eine Kurskorrektur vornehmen. Und so ist ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT LIEBST mehr als ein gelungener Unterhaltungsroman.


    Die Autorin
    Heike Abidi, Jahrgang 1965, ist studierte Sprachwissenschaftlerin. Sie lebt mit Mann, Sohn und Hund in der Pfalz bei Kaiserslautern, wo sie als freiberufliche Werbetexterin und Autorin arbeitet. Heike Abidi schreibt vor allem Unterhaltungsromane für Erwachsene sowie Jugendliche und Kinder. Sie veröffentlicht auch unter dem Pseudonym Emma Conrad und - zusammen mit der Co-Autorin Tanja Janz - unter den gemeinsamen Pseudonymen Jana Fuchs sowie Maya Seidensticker.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

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