Birkefeld & Hachmeister – Wer übrig bleibt, hat recht

  • Buchmeinung zu Birkefeld & Hachmeister – Wer übrig bleibt, hat recht


    „Wer übrig bleibt, hat recht“ ist ein Kriminalroman von Richard Birkefeld und Göran Hachmeister, der 2002 bei Eichborn erschienen ist. Die Taschenbuchausgabe erschien 2004 bei Deutscher Taschenbuch Verlag. Die beiden Autoren sind Historiker mit dem Schwerpunkt Kultur- und Sozialgeschichte im frühen 20. Jahrhundert.


    Kurzbeschreibung:
    1944, irgendwo in Deutschland. In einem Militärkrankenhaus kuriert Hans Kalterer, brillanter Geheimdienstpolizist im Dienst der SS, eine Schußverletzung aus - und macht sich Gedanken über seine Zukunft. Er will zurück zur Kriminalpolizei - und zu seiner Frau Merit, die ihn verlassen hat, weil sie seine Arbeit für das NS-Regime nicht länger ertragen hat. Als in Berlin ein hochrangiger Parteigenosse ermordet wird, sieht Kalterer seine Chance gekommen. Die von höchster Stelle angedeuteten politischen Motive entpuppen sich nach einem weiteren Mord als scheinbarer Irrweg: alle Indizien deuten auf einen entflohenen KZ-Häftling, der für den von den Mitbewohnern seines Hauses verschuldeten Tod an seiner Familie offenbar grausam Rache nimmt. Während die Stadt in Schutt und Asche versinkt, macht sich Kalterer inmitten von Mitläufern, Plünderern und Kollaborateuren, von alten Nazis und neuen Regimegegnern, auf die Suche nach dem Täter - und nach einem moralischen Standort, der ihm eine Zukunft möglich macht.


    Meine Meinung:
    Vordergründig geht es um eine Mordserie in Berlin im Winter 1944, der auch ein hochrangiger Parteigenosse zum Opfer gefallen ist. Der SS-Offizier und Ex-Kriminalbeamte Kalterer wird zu seiner Überraschung mit der Suche nach dem Mörder beauftragt. Er nimmt diesen Auftrag gern an, hält er ihn doch von der Kriegsfront fern und gibt ihm die Gelegenheit, an seinen privaten Problemen zu arbeiten. Bauchschmerzen bereiten ihm seine Auftraggeber, denn eigentlich gibt es keinen Grund, warum er sich um diesen Fall kümmern sollte. Sein Gegenspieler ist der entflohene KZ-Häftling Ruprecht Haas. Der Leser begleitet die beiden Protagonisten abwechselnd auf ihrem Weg in einer siechenden Stadt. Durch diese Perspektivwechsel gelingt es den Autoren bestens, die Motive und das Gefühlsleben der beiden Männer zu beschreiben. Ihr Verhalten war für mich jederzeit nachvollziehbar und ich empfand für beide so etwas wie Sympathie, und das, obwohl beide alles andere als nette Zeitgenossen sind. Ruprecht Haas ist auf einem unbarmherzigen Rachefeldzug, Hans Kalterer ist auf der Suche nach einem Weg, der ihm ein normales Leben nach dem Krieg sichert. Gefühlt sitzen die wahren Fieslinge irgendwo im Hintergrund und Kalterer und Haas sind ihre Marionetten.
    Eine besondere Stärke des Romans liegt in der atmosphärisch dichten Beschreibung des Lebens im Berlin dieser Zeit. Es ist faszinierend zu lesen, wie das Leben trotz aller Widrigkeiten irgendwie weiter geht. Ein gelungener Schachzug ist die Figur der Frau Kalterer, die ihren Mann wegen seiner Nähe zum regierenden Regime verlassen hat. Dabei bleibt der Roman jederzeit spannend, auch wenn Täter- und Opferrollen frühzeitig vergeben zu sein scheinen. Die Diskussion um Schuld und Verantwortung und ob man sich der Verantwortung entziehen kann, hält den Spannungsbogen hoch.
    Ein weiteres Highlight ist der Epilog, der eine Szene aus dem Nachkriegsberlin beschreibt.


    Fazit:
    Dieser Roman ist für mich ein Meisterwerk. Er ist atmosphärisch dicht, fasziniert mit ungewöhnlichen Protagonisten in einer mir unbekannten Umgebung. Doch die große Stärke dieses Romans ist, das er zum Nachdenken anregt und auf erhobene Zeigefinger verzichtet. Fünf Sterne und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

    :lesend Hanna Caspian - Im Takt der Freiheit, Agatha Christie - Miss Marple (Kurzgeschichten von 12 erfolgreichen Autorinnen der Jetztzeit mit Miss Marple), Michael Peinkofer - Die steinerne Krone

  • Ausgezeichnetes Buch, nicht nur für den Geschichtsunterricht. Die Autoren reduzieren den Menschen auf seine ungeschminkte (Un)Menschlichkeit. Erst kommt das Fressen ..., dann leider nichts mehr. In den Zeiten des nahenden Kriegsendes geht es nur noch darum, die eigene Haut zu retten und an seinem Denkmal zu basteln.


    Das Erstaunliche des Buches ist das völlige Fehlen des erhobenen Zeigefingers, obgleich die vom Unrechtsstaat deformierten Figuren deutlich machen, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Und nach dem Zusammenbruch schwimmen die Falschen wieder oben. Und die scheinbar Richtigen, die eine neue Gesellschaft aufbauen wollen, brauchen die Falschen, um es etwas besser zu machen.


    Karrieristen machen überall Karriere – ob im „Dritten Reich“ bei der SS oder kurz danach in den neuen deutschen Ländern, bei der Stasi oder der Organisation Gehlen, dem Vorläufer des BND. Es klingt zynisch, aber jeder Staat braucht Spezialisten für die Drecksarbeit und beim Aufbau der Demokratie oder des Sozialismus muss man wohl mangels Masse darauf zurückgreifen.


    Was lehrt uns das Buch? Die Realität ist eine üble Sache, die der Utopie unüberwindliche Grenzen setzt. Man kann nur dafür sorgen, dass die schlimmsten Realitäten niemals eintreffen. Das allein kommt der Utopie schon recht nahe, wie die Geschichte zeigt.


    Über das „Tausendjährige Reich“ zu urteilen, fällt uns mehr als 70 Jahre danach recht leicht, doch am Ende des Buches fragt man sich, wer man denn damals selbst gewesen wäre. Vermutlich Haas, was immerhin besser als Kalterer wäre. Oder noch schlimmer: Langenstras oder Bideaux? Auf jeden Fall wäre man höchstwahrscheinlich ein Scheusal gewesen, fragt sich nur, ob ein großes oder ein ganz großes.


    Ein Punkt, der diskussionswürdig ist: Ob am Ende die zwei unmoralischen SS-Männer sich noch so viel Zeit nehmen, um über Moral zu diskutieren, wage ich zu bezweifeln, angesichts des Näherrückens der Russen, die schon fast den Vorgarten erreicht haben. Aber dann hätten wir auf diesen Satz verzichten müssen, der im Widerspruch zur Szene steht, denn der Zyniker Bideaux gibt offen zu, sich nicht lange mit


    … dem schmutzigen, erniedrigenden Wahn-Gewissen und Moral genannt …


    zu beschäftigen.


    Man fragt sich, warum dieses starke Buch, obwohl 2003 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, in Frankreich viel erfolgreicher ist als bei uns. Und ich frage mich, warum man dieses Buch nicht verfilmt hat. Was nicht ist, sollte noch werden, egal wann, schließlich ist die Vorlage ein zeitloser Stoff über das Allzumenschliche.